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Städte wie Stoffmuster
Spectrum

Die Zeit sei wieder reif, neue Denkweisen in der Architektur zu zeigen, befand Zaha Hadid. Einen Querschnitt durch die internationale experimentelle Szene präsentiert sie denn auch in der für den „steirischen herbst“ ausgerichteten Ausstellung „Latente Utopien“.

26. Oktober 2002 - Judith Eiblmayr
Es war 1914, als in Italien das Manifest für eine futuristische Architektur formuliert wurde, eine durch die Entwicklungen des Maschinenzeitalters euphorisch aufgeladene Theorie, die auf Marinettis Grundsatz von 1909 basierte: „Wir erklären, daß sich die Herrlichkeit der Welt durch eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit.“ Die Futuristen forderten eine Architektur, die unter anderem sich der neuen Materialien bedient, die Ausdruck besitzt und Kunst bleibt, die schräge und elliptische Linien bevorzugt, weil sie emotionsbeladen sind, die ihre Inspiration aus der Maschinenwelt schöpft.

Man entwickelte Entwürfe für „Moderne Metropolen“, die von hoher Dichte und freigelegter Infrastruktur wie Verkehrsbauten geprägt waren und in ihrer dynamisch plastischen Ausformung Abbilder von Motoren zu sein schienen. Die Futuristen erkannten die Stadt als ein Gebilde, das seine spezifische Spannung aus der permanenten Bewegung in ihr erfährt. Durch die Industrialisierung waren die Bewegungsabläufe immer schneller und intensiver geworden und übten eine ungeheure Faszination auf die künstlerische Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts aus, die spürte, daß die Zukunft der Städte mit dem technologischen Fortschritt eng verknüpft sein würde.

Die Selbstdefinition als Futuristen war jedenfalls richtig gewählt, denn im Prinzip ist bereits fünfzig Jahre später in Teilbereichen das eingetreten, was sie als Zukunftsmodell gezeichnet hatten: Leistungsfähige motorisierte Fortbewegungsmittel sind Grundvoraussetzung, um das reibungslose Funktionieren einer Großstadt zu garantieren. Die Futuristen hatten als Schauplatz für ihr Szenario nicht Utopia, „das Land, das nirgends ist“, auserkoren, sondern Titel wie Città Nuova, „Die Neue Stadt“, und somit eine reale Vision kreiert.

Üblicherweise werden visionäre Projekte in der Architektur als utopisch deklariert, da Realitätsbezüge vernachlässigt werden können, und dienen als wesentliches Instrument zur Überprüfung und Infragestellung hergebrachter Planungs- und Bauweisen. Besonders reich an städtebaulichen Utopien und Fiktionen waren die sechziger und frühen siebziger Jahre in Europa und Japan, was in losgelösten „Walking Cities“ (Archi-gram, 1964) oder Megastrukturen, mit denen eine Großstadt wie Tokio überlagert wurde (Kenzo Tange, 1960) seine Ausprägung fand. In den letzten 25 Jahren wurden Projekte dieser Art von der Realität eingeholt, und die Städte begannen sich eher ungelenkt zu Mega-Agglomerationen zu entwickeln.

Die Architekten wollten lieber bauen, als in Theorien zu schwelgen, und begannen außerdem ihrem neuen Planungswerkzeug, dem Computer, mehr Augenmerk zu schenken. Computer-simulationen wurden vorwiegend gemacht, um konstruktive Probleme zu lösen oder um die hinkünftig reelle Plazierung eines neuen Bauwerks zu zeigen, und weniger, um utopische Stadtbilder mit soziokultureller Relevanz zu entwickeln.

Jetzt allerdings sei die Zeit wieder reif, neue Denkwei sen in der Architektur zu zeigen, meint Zaha Hadid, weltbekannte Architektin mit Bürositz in London und Professorin an der Universität für angewandte Kunst in Wien. „Latente Utopien“ nennt sie die Ausstellung anläßlich des „steirischen herbsts“ 2002, die - von ihr gemeinsam mit Patrik Schumacher kuratiert - einen Querschnitt internationaler experimenteller Architektur bilden soll. Im Titel selbst wird bereits klar, daß es sich hierbei um keine rein utopischen Projekte, sondern um teilweise real existierende handelt, denen formal utopisches Flair anhaftet: Die Palette der Darstellungen reicht von Computergraphiken im konstruktiven Bereich über Entwürfe für ein neues World Trade Center bis zu pneumatischen räumlichen Tragwerken.

Interessanterweise gibt es bei fast allen Projekten einen Verweis auf ein bereits dagewesenes kreatives Potential: Man findet Objekte, die an Verner Pantons Siebziger-Jahre-Wohnlandschaf-ten (Andreas Thaler, A; Karim Rashid, USA), oder amorphe Architekturen, die an Plastiken oder Stoffmuster der fünfziger Jahre (deCOi, F) erinnern. Der Entwurf für einen Wolkenkratzer von Kolotan/MacDonald Studio, USA, läßt die Kapselstrukturen der Metabolisten wiederaufleben, und auch Coop Himmelb(l)au scheinen bei ihrem in Planung befindlichen Musée des Confluences in Lyon die räumliche Großstruktur der als Kristall definierten Eingangshalle eher im Sinne Konrad Wachsmanns als durch einen weiterentwickelten Dekonstruktivismus in den Griff bekommen zu wollen.

Der Entwurf von Foreign Office Architects, GB, für das World Trade Center weist, bei dieser prinzipiell prekären Planungsaufgabe, ein wahrscheinlich wirklich zukunftsweisendes Konstruktionsmuster auf, das allerdings von Toyo Ito für die Mediathek in Sendai, im erdbebengefährdeten Japan entwickelt und gebaut wurde. Röhrenförmige, in ihrer Längsachse verwundene räumliche Tragwerke als Baukörper werden zu einem Bündel zusammengefaßt und stellen Flexibilität bei der Aufnahme von Horizontalkräften dar.

Ein Element zieht sich allerdings durch alle Entwürfe: die Dynamik. Nach wie vor scheint der Wunsch zur Utopie darin zu bestehen, die Architektur aus ihrer systemimmanenten Starre zu lösen. In der Stadt jedoch ist, wie bereits erwähnt, genau das eingetroffen: Was Hadid für die Architektur fordert: Spontanität, Einplanung des Spiels des Zufalls, ist in der Stadt längst erfüllt, denn genau das erzeugt Urbanität. Hadids Arbeit „Fieldspace“ (1999), auf der Einladungskarte für die Ausstellung zu sehen, ist ein Abbild der Struktur einer Stadt wie Tokio: mehrere Ebenen - Kanal, Eisenbahn, U-Bahn, Autobahn -, die einander über-, unter- und verschneiden. Die durchfahrenden Verkehrsmittel erzeugen jene Dynamik, die in Hadids Computergraphik durch einen Schwung simuliert wird, und damit schwingen wir uns zurück zur futuristischen Architektur, die „schräge und elliptische Linien bevorzugt, weil sie emotionsbeladen sind“. Die Idee der Loslösung des Gebauten selbst ist im letzten Jahrhundert offensichtlich utopisch geblieben. [*]

[ Die Ausstellung „Latente Utopien - Experimente der Gegenwartsarchitektur“ ist von 26. Oktober 2002 bis 2. März 2003 im Landesmuseum Joanneum, Graz, zu sehen (Dienstag bis Sonntag 10 bis 18 Uhr; für die Dauer des „steirischen herbsts“, bis 24. November, Donnerstag 10 bis 20 Uhr). ]

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