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Die unangeeignete Stadt, oder die Wünsche verlassen das Wohnzimmer
dérive

Bei der Herrschaft über den Raum handelt es sich zweifellos um eine der privilegiertesten Formen der Macht­ausübung, da die Manipulation der räumlichen Verteilung von Gruppen sich als Instrument der Manipulation und Kontrolle der Gruppen selbst durchsetzen lässt.
(Pierre Bourdieu, 1991)

4. November 2011 - Sophie Goltz
Woran manifestiert sich die Herrschaft über Raum im Alltag einer Stadt, und welche Praktiken laufen dieser Machtausübung zu wider? Schaut der Soziologe Pierre Bourdieu auf die dahinter liegenden Machtprozesse segregierter Städte am Ende des 20. Jahrhunderts, so interveniert der Künstler Christoph Schäfer seitdem in diese Prozesse, genauso wie er Teil eines kulturellen und ökonomischen Wandels der kreativen Stadt ist.

Daher ist eine zentrale Frage in seiner künstlerischen Praxis: Wie lässt sich mit den Mitteln der Kunst resp. mit künstlerischem Aktivismus um die Stadt als Produktionsort kämpfen: Die Stadt ist UNSERE Fabrik.

Christoph Schäfer öffnet in seinem gleichnamigen Künstlerbuch den Blick auf das urbane Feld als eines, welches es weiterhin mit künstlerisch-aktivistischen Mitteln zu reflektieren und zu besetzen gilt im Sinne einer utopischen Praxis. Dabei bleibt seine künstlerisch-editorische Herangehensweise inkommensurabel, sie verbindet sich nicht zu einer warenförmigen Ästhetik über Gentrifizierungsprozesse, vielmehr behauptet sie das Recht auf politische Subjektivität bzw. fordert diese ein.

Die Stadt ist unsere Fabrik ist ein Bilderatlas in der Art einer graphic novel: In 158 querformatigen Bildtafeln mit Text wird eine mögliche Geschichte der Stadt erzählt. In sechs Kapiteln spannt Schäfer einen Bogen zwischen erstem Siedlungsbauen (dem »Ur«) bis hin zu aktuellen urbanen Tendenzen am Beispiel Hamburgs sowie der künstlerisch-aktivistischen Organisierung gegen die »neofeudale Stadt« (Klaus Ronneberger). Diese Zeitreise führt in die antike mesopotamische Stadt Assur (3 Jh. v. Chr.), in die Metropole Mexico City, in informelle Stadtviertel New Dehlis und immer wieder nach Hamburg. Wie ein Schlagwortregister urbaner Tendenzen liest sich dabei eine Entwicklung ab, deren Ende offen ist.

Das Buch nimmt das Recht auf Stadt bildlich und eignet sich in den Bild-Text-Tafeln die Geschichte der Stadt radikal-subjektiv an. Es besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit und Kausalität, vielmehr wird das Urbane fragmentarisch nachgezeichnet und mit biografischer Prosa eingefärbt. Raum wird dabei immer auch in seinem zeitlichen Horizont erfasst. Insofern erscheint das Querformat programmatisch, wenn auch nicht zentralperspektivisch. Vielmehr finden sich Zitate der Graffiti-Kultur, architektonischer 3D-Animationen, künstlerischer Stadtutopien wie etwa von Constant und Yona Friedmann. Die horizontale Linie wird konstant gebrochen und mit den Rastern und Mustern städtischer Wahrnehmung verflochten.

Das Buch zeigt die Aneignung von Stadt als künstlerische Praxis, sei es im Medium Zeichnung und Text oder in der aktivistischen Organisierung und Vernetzung im Alltag. Dabei folgt Schäfer einer Praxis des Wohnraums und Gebrauchs, einer kollektiven Wunschproduktion. Er sagt dazu in dem Film Park Fiction – die Wünsche werden die Wohnung verlassen und auf die Straße gehen (R: Margit Czenki, 1999): »Es geht bei der kollektiven Wunschproduktion darum, neu zu bestimmen, was die Stadt ist, darum, ein anderes Netz über die Stadt zu legen, sich die Stadt anzueignen, überhaupt sich vorzustellen, wie es anders laufen könnte, und dann das Spiel nach anderen Regeln zu spielen.«

Die Stärke des Buches ist es, das städtische Geschehen aus der Perspektive des Alltags und dessen poetologischen Möglichkeiten sowie des Umherschweifens (dérive) zu sehen, zu interpretieren und zu agieren. Der Stadtforscher und Marxist Henri Lefébvre und die Geschichte des Urbanismus stehen dabei Pate. Doch es geht weniger um eine Aktualisierung seiner marxistischen Theorie, vielmehr um die Erneuerung einer Erfahrungsweise von Stadt, die sich mit situationistischen Elementen verbindet – wie das Umherschweifen oder die Verweigerung von Arbeit – und mit verschiedenen Forderungen Lefébvres, wie etwa: »Wir mußten den Urbanismus selbst anklagen, [...] als Ideologie und als Institution, als Darstellung und Wille, als Gegendruck, als Einrichtung eines repressiven Raums, der als objektiv, wissenschaftlich, neutral dargestellt wird.« (Henri Lefébvre (2003), Die Revolution der Städte. S. 231) Dieser verlangte noch 1968, dass seine Studierenden in die Pariser Vorstädte gehen sollten, um das städtische Leben »zu studieren«. (Vgl. Le fil de temps – Henri Lefébvre oder Der Faden des Jahrhunderts; FR/1988; Regie: Raoul Sangla)

Damals wie heute wieder dicht von Bidonvilles besiedelt, findet dort Raum­aneignung im Kleinen mit eigenen sozialen Regeln entgegen jedweder staatlicher Logik statt. Gleichwohl schlussfolgerte Lefébvre ein »Recht auf Stadt« und ein »Recht auf Abweichung«: »Das Recht, nicht von städtischer Zentralität ausgeschlossen und in diskriminierte Randzonen abgedrängt zu werden, und das Recht, sich nicht den Vorgaben homogenisierender Mächte unterwerfen zu wollen.« (Klaus Ronneberger, Henri Lefebvre und die Frage der Autogestion, unter: http://wiki.rechtaufstadt.net/index.php/Henri_Lefebvre_und_die_Frage_der_Autogestion)

Und so wird im letzten Kapitel Der Abend, den ich gern als Film hätte die Genese jener informellen widerständischen Räume in Hamburg markiert, von denen aus die Wunschproduktion und damit im Kleinen die urbane Revolution weiter vorangetrieben wird: Besetzung des Gängeviertels am 21. August 2009, No-BNQ Bezirksversammlung, Teuer Trendy Langweilig (gentrifizierungskritisches St. Pauli Fan Magazin), Walzerparade fürs Centro Sociale, Kissenschlacht: Schanzenfest reloaded, Gefaktes Hamburg Marketingheft: Hamburg: Unter Geiern, Manifest »Not In Our Name Marke Hamburg«, Kill Billy – Kein Ikea in Altona, Recht auf Stadt, bambule, Frappant Besetzung, Nicos Farm, Stadt kauft Gängeviertel zurück, Recht auf Stadt Parade, Fabrik wird wieder besetzt, Baumbesetzung gegen Moorburgtrasse. Am Ende wird die rote Fahne der städternen Fabrik geschwungen und ein Pitbull singt: »Señoras y Señores! – die Städte der Multitude werden Orte der Leidenschaft sein oder, Ladies and Gentlemen – sie werden nichts sein!«

Leidenschaft einzufordern, heißt auch sich gegen den heutigen Einsatz von Subjektivität und Kreativität als globalem Rohstoff kapitalistischer Verwertungsprozesse zu wenden, die sich auch im neoliberalen Leitbild der Imagecity spiegeln. Was mit Kaffee im Styroporbecher begann, heißt heute z. B. Starbucks – und die vielen leergetrunkenen Becher im Buch markieren Schäfers Weg durch die Zeitläufe zur uniformen post-industriellen westlichen Stadt. Doch wie lassen sich nun diese vormals widerständigen Eigenschaften zurückerobern als Waffen im Kampf gegen die kapitalistische (westliche) Stadt und die Finanzherrschaft? Oder wie lässt sich trockene soziologische Erkenntnis in alltagspoetische Handlungen übersetzen, wie wird Kunst zur Fabrik der Leidenschaften entgegen der Bürgergesellschaft?

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Für den Beitrag verantwortlich: dérive

Ansprechpartner:in für diese Seite: Christoph Laimermail[at]derive.at

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