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Stadt der schönen Worte
Spectrum

Neue Stadtteile schießen in Wien aus dem Boden - etwa das Stadterweiterungsgebiet Langobardenstraße Süd zwischen Stadlau und Aspern. Das Konzept: klingende Namen, fixfertige Vielfalt. Ein Einwurf.

6. April 1996 - Christian Kühn
Nur der Tourist kann eine Stadt betrachten wie ein Kunstwerk. Sein Blick fügt Monumente zusammen zu einer Erinnerung, an die er zurückdenken kann wie an den Besuch in einem Museum. Der Bewohner dagegen erlebt seine Stadt ganz anders: Für ihn ist sie so allgegenwärtig und zugleich so unfaßbar wie die Luft, die er atmet. Die Stadt altert mit ihm, verwandelt sich mit ihm, teilt sein Schicksal, während sie dem Touristen nur Augenblicke zu schenken vermag. Die kritische Betrachtung der Stadt aus der Perspektive des Touristen ist immer auf das Besondere gerichtet. Der öffentliche Raum erscheint ihr als eine Abfolge wichtiger Stationen, um die herum sich die gewöhnliche Stadt als eine kaum wahrgenommene Masse ohne Kontur ausbreitet. Es ist dies dieselbe Art von Wahrnehmung, mit der auch das Stadtmarketing rechnet. Im internationalen Vergleich wird Wien hier nicht schlecht abschneiden: Denkmalpflege und Stadterneuerung haben sich zu Recht einen guten Ruf erworben. Die aktive Neugestaltung des öffentlichen Raumes kommt wohl etwas zu kurz, aber immerhin beweisen wir mit dem Haas-Haus Mut zur Innovation auch in der historischen Stadt: Hätte Paris es gewagt, Notre-Dame derartiges gegenüberzustellen?

In der Stadterweiterung teilt Wien mit vielen anderen europäischen Städten die leidvollen Erfahrungen mit dem funktionalistischen Städtebau der sechziger und siebziger Jahre: monofunktionale Großsiedlungen ohne ausreichende Verkehrsanbindung und soziale Infrastruktur. Aber auch hier haben sich in der jüngsten Phase der Stadterweiterung neue Modelle durchgesetzt, nicht mehr Siedlungen, sondern neue Stadtteile mit klingenden Namen wie Erzherzog-Karl-Stadt werden gebaut und Themenstädte vom „Naturnahen Wohnen“ bis zur „Frauen Werk Stadt“. Die Leitmotive sind Vielfalt und Pluralismus, und neben einheimischen Spezifika wie Hundertwassers Monumenten können so auch geförderte Wohnbauten von Architekten wie Zaha Hadid oder Jean Nouvel entstehen, die eindrucksvoll die internationale Offenheit Wiens unter Beweis stellen.

Nun ist gegen Stadtmarketing im Prinzip nichts einzuwenden, nichts gegen Stararchitekten und auch nichts dagegen, den Dingen einen schönen Namen zu geben. Wer würde nicht lieber zwischen „Copa Kagrana“ und „Donauinsel“ als in einem „Entlastungsgerinne“ baden, wer würde nicht das „Donauspital“ einem „Sozialmedizinischen Zentrum Ost“ vorziehen?

Auch die Schaffung „vielfältiger und lebendiger Stadtteile“ ist ein legitimes Leitziel jeder Stadterweiterung. Freilich: Architektur und Stadt sind keine abstrakten Themen, sondern sinnlich und konkret.

Um sie zu erfahren, muß man an den Ort gehen, die schönen Worte vergessen, die Augen öffnen und die Stadt einatmen. &&gAlso hinaus an die Peripherie, wo die versprochenen neuen, lebendigen Stadtteile liegen: 3000 Wohnungen an der Brünner Straße, 1800 am Leberberg, 2900 zwischen Stadlau und Aspern. Dem touristischen Blick - falls je ein solcher auf die genannten Gebiete fallen wird - bieten sich tatsächlich vielfältige Strukturen, ein Patchwork aus architektonischen Einfällen und Zufällen, viele Farben und Formen im Vergleich zu den grauen Betonwüsten der siebziger Jahre.

Leberberg und Brünner Straße sind noch Mischformen. In seiner reinen Gestalt ist das von der Wiener Stadtplanung propagierte Konzept der Patchwork-City jedoch zwischen Stadlau und Aspern zu bewundern. Hier beginnt östlich und nördlich des „Sozialmedizinischen Zentrums Ost“ ein zusammenhängendes Stadtentwicklungsgebiet etwa in der Größe des achten Bezirks. Nördlich des SMZ-Ost wurde schon in den achtziger Jahren das Spiel des Patchworks eröffnet. Ein Wohnblock von Viktor Hufnagl, in dem sich glasgedeckte innere Straßen und Wohnhöfe abwechseln, grenzt an ein Stückchen Gartenstadt von Roland Rainer, das wieder in eine zitathafte Anordnung von Plätzen, Angern und Gäßchen zerfällt und eine stadträumliche Tristesse erzeugt, die Rainers größeren Siedlungen fremd ist. Denn wo diese großzügig Bezug zum angrenzenden Landschaftsraum aufnehmen können, ist hier gerade Platz genug für ein trockenes städtebauliches Manifest.

Den Hintergrund für Rainers und Hufnagls Wohnbauten bildet ein Pensionistenheim der Gemeinde Wien, ein Exemplar eines standardisierten Typs: ein mehrfach abgewinkelter fünfgeschoßiger Bau, der verdreht auf seinem rechteckigen Grundstück sitzt und mehrere dreieckige, mit Maschendraht von der Umgebung abgegrenzte Restflächen übrigläßt. Eine Verknüpfung mit den angrenzenden Bereichen ist nicht einmal im Ansatz versucht.

Ebenfalls noch aus der Zeit vor der jüngsten Welle der Stadterweiterung stammt ein Wohnbau von Boris Podrecca am Kapellenweg, der das Areal des SMZ-Ost östlich begrenzt. Der langgestreckte Bau sollte eine Art Stadtkante definieren, ein Gedanke, über den die Entwicklung längst hinweggegangen ist: 2200 Wohnungen wurden in den letzten Jahren jenseits dieser Kante errichtet. Gleich neben Podreccas langer Zeile stößt ein weiteres Stück Gartenstadt von Roland Rainer an die drei unförmigen Finger eines Wohnbaus von Harry Glück und an eine Volks- und Sonderschule, für die Hannes Lintl verantwortlich zeichnet. Vor der Architektur dieses Baus muß die Kritik kapitulieren: Was gibt es zu Säulen im Design zugespitzter Bleistifte noch zu sagen? Mit ihrer Breitseite sperrt sich diese Schule gegen einen Park, der das Gebiet als „Grünzug“ in zwei Teile trennt. Er folgt zuerst den alten Flurformen, knickt dann aber plötzlich diagonal aus.

Auch hier wurde schon gestaltet: Ein Serpentinenweg ist angelegt, Laternen und Bäume sind locker verteilt, ein kleiner Buckel in der Mitte soll noch von einem Salettl gekrönt werden.

Im östlich angrenzenden Teil werden wieder zwei verschiedene Stadtkonzepte durchgespielt: einerseits eine Variante des konventionellen Straßenraums, andererseits die zusammenhängende, von mehreren Architekten gestaltete Großform. Das erste Konzept leidet daran, daß noch lange keine Straße entsteht, wenn man für den Zeilenbau konzipierte Bautypen enger zusammenschiebt.

Man hätte sich Podreccas Wohnbau genauer ansehen sollen, der ohne jedes Gegenüber eine Straße zu definieren imstande ist. Hier kann dagegen kein Gebäude den Straßenrand halten: Unter dem Motto der Vielfalt spricht jeder seine eigene Sprache, machen sich Elemente und Farben selbständig.

Das zweite Konzept ist im Ansatz ebenso fragwürdig: Eine autonome, kompliziert gegliederte Großform mit mehrgeschoßigen Durchfahrten läßt sich kaum ohne schmerzhafte Brüche auf verschiedene Architekten aufteilen. Gerade die besseren Teillösungen - wie etwa Helmut Wimmers ruhiger Hoftyp mit seinen flexiblen Wohnungsgrundrissen - machen die Schwächen des gemeinsamen Korsetts noch deutlicher. Was wäre hier alles möglich gewesen, wenn man die Vielfalt nicht fix eingeplant, sondern in einem viel einfacheren System einfach zugelassen hätte.

Mit diesem Gedanken verlassen wir endgültig den Weg einer retrospektiven, touristischen Betrachtung. Alles Gesagte war ja eine Kritik aus sicherer Distanz. Nichts zwingt mich, jemals wieder in die Gegend zwischen Aspern und Stadlau zu fahren, und selbst wenn ich für das Stadtmarketing verantwortlich wäre, blieben viele Wege offen: Ich könnte andere Bildausschnitte wählen, spielende Kinder in den Vordergrund bringen, schöne neue Namen erfinden - noch für den langweiligsten Baublock. Die Bewohner können all das nicht. Sie werden ihrem Stadtteil trotzdem verbunden sein: Das Bedürfnis nach Heimat mißt nach eigenen Kriterien. Aber das darf nichts an einer prospektiven Kritik an der fixfertigen Vielfalt ändern, die hier als pluralistisch oder gar demokratisch verkauft werden soll. Denn echte Vielfalt ist stets das Ergebnis von Freiheit, nicht ihr abstraktes Abbild. Die Freiheit der Architekten, ihre Formvorstellungen durchzusetzen, ist da sekundär. Es geht um die Reserve an Freiheit, die in einem Stadtteil verblieben ist, um zukünftige Entwicklungen zu bewältigen, die wir heute kaum erahnen können: vielleicht die Umwandlung einer hedonistischen Gesellschaft in eine solidarische; die Bewältigung ökologischer Krisen; veränderte Formen von Arbeit und Freizeit. All das wird auch seine räumlichen und baulichen Konsequenzen haben, wird Platz brauchen für Experimente mit neuen Formen des Zusammenlebens und wandlungsfähige Institutionen wie Schulen und Kindergärten in flexiblen Bauten. Groß ist die Reserve dafür in den neuen Stadterweiterungen nicht.

Zu oft haben sich hier die alten Seilschaften von unbeweglichen Bauträgern, gleichgültigen Architekten und einer das Risiko meidenden öffentlichen Verwaltung durchgesetzt. Aber eine Stadt ist ja nie fertig: Die nächste Welle der Stadterweiterung wird kommen, und auch die nun wieder angesagte Verdichtung im Inneren kann von einer offenen Kritik der jüngsten Erweiterungen nur profitieren.

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