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Federleichter Hochsicherheitstrakt
deutsche bauzeitung

Anlage für afrikanische Menschenaffen in der Wilhelma in Stuttgart

Die Gorillas und die Bonobos der Stuttgarter Wilhelma haben ihr neues Zuhause bezogen: ein Bauwerk, das sich unauffällig in die Landschaft einfügt, und ein Freigehege, das von einem filigranen Edelstahlseilnetz überspannt wird. Weil Bonobos deutlich mehr Kraft haben als ein Mensch, ist die Anlage als Hochsicherheitstrakt ausgebildet – doch Ingenieurskunst sorgt dafür, dass man dies dem Bauwerk nicht ansieht. Im Gegenteil.

19. Mai 2014 - Christian Schönwetter
Ein Besuch der Wilhelma gleicht einem Spaziergang durch die jüngere Baugeschichte. Seit der Botanische Garten nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Tierpark erweitert wurde, hat beinahe jedes Jahrzehnt anspruchsvolle architektonische Spuren hinterlassen. Die 60er Jahre etwa zeigen sich mit gut proportionierten funktionalen Pavillons für Raubtiere und Flusspferde, in den 70ern kamen skulpturale Betonbauten für Klammeraffen hinzu, in den 90ern erstellten Cheret & Bozic einen Schaubauernhof mit Elementen des modernen Holzbaus und im Jahr 2000 überwölbten Auer & Weber ihr Amazonienhaus mit einer zeittypischen Halbtonne aus Stahl und Glas. Kurz: Die Wilhelma ist nicht nur Botanischer Garten und Tierpark, sondern auch Architekturzoo. Der jüngste Neuzugang, das Haus für afrikanische Menschenaffen, versucht allerdings, sich den Blicken der Zuschauer zu entziehen. Seine Architekten Hascher & Jehle haben alles dafür getan, das Bauwerk möglichst unauffällig im üppig durchgrünten Zoogelände zu verstecken. Denn die Wilhelma und der angrenzende Rosensteinpark mit seinen teils 150 Jahre alten Bäumen stehen als Kulturdenkmal unter Schutz. Das neue Affenhaus tritt daher nicht als normales Gebäude in Erscheinung, sondern gliedert sich in Form eines erdbedeckten und bewachsenen Hügels in die Topografie ein. Auch das Außengehege für die kletterfreudigen Bonobos scheint eine Tarnkappe zu tragen. Eindrücklich führt es vor Augen, wie sich knapp 10 000 m³ umbauter Raum dezent in eine Landschaft integrieren lassen.

Neue Leichtbauvariante

Als räumliche Begrenzung des Freigeheges hatten die Architekten eine leichte, transparent wirkende Edelstahlseilnetz-Überspannung vorgesehen. An deren Planer, das Büro officium, richteten sie den Wunsch, die Konstruktion möglichst in Form sanfter Hügel auszubilden, die mit dem umgebenden Parkgelände korrespondieren. Nun sind Netztragwerke mit ihrer Zugbeanspruchung sicher nicht das erste, was einem einfällt, wenn es darum geht, eine Hügelform zu erzeugen. Druckbeanspruchte Gitterschalen lägen da näher, bieten aber bei Weitem nicht die gleiche visuelle Durchlässigkeit. Netze wiederum ermöglichen zwar die gewünschte Transparenz, werden jedoch von Pylonen aufgespannt, sodass sich immer spitze Hochpunkte ergeben, die eher an steile Felsen als an sanfte Hügel denken lassen. Daher entwarf das officium-Team eine Sonderkonstruktion. Die Pylone verzweigen sich an ihrem Kopfende jeweils wie ein Baum, werden dort von einem sphärisch gekrümmten Ring abgeschlossen und bilden flachere, weicher geformte Hochpunkte. Auf diese Weise ließ sich das zugbeanspruchte Netz an die gewünschte Hügelform annähern. An ihrem oberen Ende werden die Pylone ausschließlich vom Netz gehalten. Dass sich hier keinerlei Seile befinden, trägt zum außerordentlich luftigen Erscheinungsbild des Geheges bei.

Selten wurden Baumstützen so sinnfällig verwendet wie hier. Ihre vegetabile Gestalt erfüllt nicht nur statische Zwecke, sondern passt sich auch harmonisch in den alten Baumbestand des Parks ein. Außerdem lassen sich die Tragelemente tatsächlich wie Bäume nutzen: Die Bonobos können hinaufkraxeln, oben in den Verzweigungen wie in den Wipfeln des Urwalds sitzen und das Geschehen am Boden beobachten. Eigens angebrachte Kletterhilfen erleichtern ihnen den Aufstieg.

Auch das Edelstahlseilnetz lässt sich beklettern und ermöglicht den Tieren eine dreidimensionale Nutzung ihres gesamten Geheges. Ihnen steht jetzt 19-mal mehr Raum zur Verfügung als im alten Affenhaus aus dem Jahr 1973. Dass die gesamte Konstruktion wie eine zarte Voliere für Singvögel wirkt, täuscht darüber hinweg, dass es sich in Wirklichkeit um einen Hochsicherheitstrakt handelt. Denn obwohl Bonobos nur ungefähr halb so groß wie Menschen sind, haben sie siebenmal mehr Kraft. Das Netz setzt sich deshalb aus 3 mm dicken Edelstahlseilen zusammen, die über Pressklemmen kraftschlüssig zu rautenförmigen Maschen verbunden sind. Ihre Stabilität erhält die Netzfläche durch eine zweiachsige gegensinnige Krümmung. Die bis zu 13 m hohen Pylone innerhalb des Geheges stemmen das Netz nach oben, Randseile und niedrigere Abspannmasten außerhalb des Geheges ziehen es gleichzeitig nach unten, wodurch die Netzfläche Erhebungen und Täler ausbildet und an jeder Stelle die nötige Krümmung aufweist. Die Pylone stehen dabei leicht gekippt. Ihre Neigungswinkel wurden so bestimmt, dass die Lasten aus dem Netz entlang der Stützenachse nach unten ins Auflager fließen – dadurch werden die Pylone vorwiegend auf Druck und kaum auf Biegung beansprucht und konnten daher besonders schlank ausfallen. Das gesamte Tragwerk bildet eine flexible Konstruktion. Wenn an einer Stelle erhöhte Lasten auftreten, bewegt es sich leicht, kehrt nach der Belastung aber wieder in seinen Ursprungszustand zurück. Die Auflager der Stützen machen dies bildhaft deutlich: Während die Pylone auf Kugelgelenken ruhen, die eine Bewegung in alle Richtungen erlauben, lagern die äußeren Abspannmasten auf Bolzengelenken und sind in nur einer Ebene beweglich.

Weil die 3 500 m² große Netzfläche lediglich den oberen Raumabschluss bildet, sorgen Wandnetze für die seitliche Begrenzung des Geheges. Sie sind dezent über ein Anschlussseil mit dem Dachnetz verbunden. Damit sie nicht in der Sonne glitzern und unangenehm reflektieren, tragen alle Netze eine schwarze Beschichtung aus einem elastischen Speziallack, der auch bei Verformungen und Krümmungen nicht abplatzt. Dadurch nimmt sich der ohnehin schon filigrane Raumabschluss optisch noch weiter zurück. Je nach Blickwinkel und Lichtverhältnissen scheint er sich nahezu ganz aufzulösen und die Grenze zwischen Innen und Außen beginnt zu verschwimmen. Die Möglichkeiten des Leichtbaus, eine vermeintlich entmaterialisierte Architektur zu erzeugen, sind hier voll ausgeschöpft – nicht aus gestalterischem Selbstzweck, sondern aus zwei gut nachvollziehbaren Gründen: Der Eingriff in die denkmalgeschützte Landschaft wird optisch minimiert, v. a. aber können sich die Bonobos beinahe wie in freier Natur fühlen.

Einzige Einschränkung sind die sogenannten »Nahbegegnungszonen«. Sie wurden eingerichtet, weil eine Heckenbepflanzung außerhalb der Wandnetze für den nötigen Sicherheitsabstand zwischen Besuchern und Bonobos sorgt und gleichzeitig Bereiche schafft, in denen sich die Tiere den Blicken der Zuschauer entziehen können. An fünf Stellen werden Wandnetze und Hecken daher gezielt von torähnlichen Betonkonstruktionen unterbrochen, die eine Panoramascheibe aus 4 cm dickem Panzerglas umschließen. Hier können sich Mensch und Tier gegenseitig aus nächster Nähe betrachten. Diese Zonen lassen das filigrane Erscheinungsbild der restlichen Gehegehülle vermissen, sind aber nötig, damit Besucher künftig noch eine Chance haben, die Affen zu beobachten, wenn die Wandnetze hinter dichtem Grün verschwinden werden.

Alle zufrieden?

Ein paar Querelen gab es um die Baukosten. Zusammen schlugen Innen- und Außengehege mit 4 960 Euro pro m² Nutzfläche zu Buche – ein stolzes Budget, von dem Architekten etwa im öffentlichen Wohnungsbau nur träumen können. Allerdings muss man bedenken, dass es für die Planung von Affenhäusern kaum Erfahrungswerte gibt. Solche Anlagen werden nicht alle Tage errichtet, hilfreiche Standardraumprogramme, Neufert-Empfehlungen oder BKI-Daten existieren nicht. Das Bauwerk in der Wilhelma ist in vielerlei Hinsicht ein Prototyp, in den die neuesten Erkenntnisse der Primaten-Forschung eingeflossen sind und der nur in engem Austausch mit den Tierpflegern entwickelt werden konnte. Klettergeräte aus Holz, künstliche Lianen aus Feuerwehrschläuchen, ein Affenkino mit Naturfilmen – alles wurde als Spezialanfertigung hergestellt und dient dazu, den intelligenten, neugierigen Tieren trotz der Beschränkungen eines Zoogeheges ein möglichst abwechslungsreiches, artgerechtes Leben zu ermöglichen.

Und wie lautet das Urteil der Nutzer? Hat sich der Aufwand gelohnt? Leider kann man die Affen nicht befragen. Es gibt aber häufig einen Hinweis darauf, ob Zoobewohner sich in einer neuen Anlage wohlfühlen: vermehrte Fortpflanzung. Im kommenden Jahr dürften wir also genauer wissen, was die Bonobos von ihrer neuen Unterkunft halten.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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