Artikel

Der verlorene Garten im Herzen Brasiliens
anthos

Nicht weniger als eine Modellanlage des Botanischen Gartens im 21. Jahrhundert möchte das Kunst- und Parkprojekt Inhotim sein. Mit seiner feinfühligen Gestaltung und dem enormen Artenreichtum ist es auf dem besten Weg dazu.

26. Mai 2014 - Maja Tobler, Olivier Zuber
Der Besuch des wunderbaren «Centro de Arte Contemporânea Inhotim» (Zentrum für Gegenwartskunst) ist kein gewöhnlicher Tagesausflug. Ist man erst einmal in Brumadinho, einer rund 600 Kilometer nordöstlich von São Paulo gelegenen Kleinstadt im Bundesstaat Minas Gerais, müssen für die Erkundung der für das Publikum geöffneten 20 Kunstgalerien und 110 Hektaren Park­flächen mindestens zwei Tage einberechnet werden.

Nach der Übernachtung in einer für brasilianische Verhältnisse nahe gelegenen Pousada fahren wir gespannt durch die hügelige Landschaft, welche uns mit ihrem Mosaik aus Wäldern und Weiden entfernt an die wildromantische Kulturlandschaft des Emmentals erinnert. An der Kasse werden wir von Malu erwartet. Sie fährt uns mit einem Elektromobil zum Park- und Gartendirektor Pedro Nehring, der uns herzlich empfängt. Nehring ist verantwortlich für die Pflege und Entwicklung der Parkanlagen sowie der eigenen Pflanzenproduktionen. Ihm sind 140 Mitarbeiter unterstellt: Biologen, Agronomen und angelernte Fachkräfte. Seit Beginn ist er mit den Gartenanlagen verbunden und weiht uns in die Geschichte dieses aussergewöhnlichen Projekts ein.

Burle Marx als Berater

Der Gründer und Besitzer von Inhotim, Bernardo Paz, kaufte in den 1980er-Jahren die ersten Landwirtschaftsflächen, welche heute etwa 900 Hektaren umfassen. Er verliebte sich in einen riesigen Tamboril Enterolobium contortisiliquum, welcher nach seinen Angaben das Hauptmotiv für den Landkauf war. Seine Kunstsammlung umfasste damals auch Werke des bekannten brasilianischen Landschaftsarchitekten Roberto Burle Marx, zu welchem er Kontakt pflegte. Burle Marx besuchte Paz im Jahr 1984, um ihn vor Ort für die Gestaltung der Parkanlage zu beraten.

Im älteren Parkteil ist Burle Marx‘ Handschrift bis heute ersichtlich. Wir schlendern durch grosszügige tropische Pflanzungen. Zusammen mit den in organischen Formen angelegten Seenlandschaften bilden sie den Rahmen für die zahlreichen Galerien und Kunstwerke unter freiem Himmel. Die Wegführung ist so angelegt, dass die Kunstobjekte optisch nicht direkt miteinander in Bezug stehen, sondern im Dickicht der üppigen Vegetation entdeckt werden müssen. Zumindest für uns europäische Besucher ist bereits der Weg zum nächsten Kunstwerk eine spezielle Erfahrung.

Verschlungene Schönheit

Wir biegen vom Hauptweg ab und steigen über einen mit Treppenstufen unterbrochenen, geschwungenen Pfad in eine Senke hinunter. Er ist gesäumt von eindrücklichen Ingwer- und Zierbananengewächsen, deren opulente Schönheit den Blick auf sich lenkt und den Weg mystifiziert. 1807 Palmengewächse Arecaceae, 637 Aronstabgewächse Araceae, 420 Orchideengewächse Orchidaceae, 129 Bromeliengewächse Bromeliaceae, 126 Hülsenfrüchtler Fabaceae, 101 Akanthusgewächse Acanthaceae, 97 Spargelgewächse Asparagaceae, 89 Helikoniengewächse Heliconiaceae … Pedro Nehring zählt uns die wichtigsten Familien seiner umfassenden botanischen Pflanzensammlung auf. Während wir über Farben, Formen und Vielfalt der Vegetation sprechen und staunen, taucht plötzlich das Fiberglas-Iglu von Olafur Eliasson vor uns auf: «By Means of a Sudden ­Intuitive Realization» (1996), eingebettet in eine kleine Lichtung.

Nachdem wir die tropische Dichte wieder verlassen haben, werden wir durch einen Wald von Elefantenfüssen Beaucarnea stricta zum imposanten Tamboril geführt, von wo aus man einen wundervollen Blick auf den nahe gelegenen See geniessen kann. Spätestens hier wird uns klar: Der ältere, von Burle Marx beeinflusste Parkteil beeindruckt vor allem durch die subtile Wegführung und die Intensität der verwendeten Pflanzen und deren Kombinationen, welche meist auf den Gestaltungsprinzipien von Wiederholung und Kontrast beruhen.

Auf die Frage hin, welches die zukünftigen Herausforderungen sind, führt uns Nehring in den neueren Parkteil. Hier wird das Zusammentreffen der brasilianischen Vegetationstypen Mata Atlântica (Küsten­regenwald) und Cerrado (Savanne) naturnah thematisiert. Entlang der weitläufigen Wege geniessen wir den dichten Schatten der Erholungsnischen, welche meist mit speziellen Blütenpflanzen oder Fruchtbäumen gebildet werden und Sitzgelegenheiten anbieten.

Modellanlage

Die Parkanlage soll zum Modell des Botanischen Gartens im 21. Jahrhundert werden. Bereits vor zwei Jahren wurde die umfassende Pflanzensammlung international anerkannt. Eine grosse Herausforderung stellen zweifelsohne auch die zukünftigen Projekte dar: In Planung ist nebst neuen Kunstgalerien auch das Projekt «Green House», in dem die verschiedenen Vegetationstypen Brasiliens in riesigen Gewächshäusern erlebbar gemacht werden sollen.

«Inhotim ist eine neue Form von Leben, in dem es nichts Böses gibt», sagt Bernardo Paz, «denn es wird von der Schönheit besiegt.» Für Paz ist sein Lebenswerk weit mehr als eine Kunstsammlung oder eine Parkanlage! Inzwischen streicht die Abendsonne mit ihren goldenen Strahlen über das Gelände und lässt die tropischen Farben noch intensiver erscheinen.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: anthos

Ansprechpartner:in für diese Seite: Daniel Haidd.haid[at]fischerprint.ch

Tools:

Zeitschriften

anthos
Pflanzen