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Unschärfe als Strategie
Sanierung »OCT-Loft« in Shenzhen (Guangdong)
Auch in China bricht sich die Erkenntnis Bahn, dass Freibereiche nicht nur allein der Erschließung und dem Kommerz dienen, sondern als Aufenthaltsbereiche gerne genutzt werden. Das Büro URBANUS denkt die Nutzbarkeit des Außenraums als Lebensraum in seine Projekte mit hinein und versucht, seine Entwurfsstrategien aus den örtlichen Gegebenheiten heraus zu entwickeln. Bei der Wiederbelebung eines ehemaligen Industriegeländes in Shenzhen hat sich diese Haltung offenbar bewährt und lässt auf positive Effekte für die Stadt hoffen.
1. Juni 2014 - Till Wöhler
Es gilt als eines der einflussreichsten, zeitgenössischen Architekturbüros in China. Im Jahr 2010 war URBANUS Architecture & Design mit dem kreisrunden und verdichteten »Tulou Collective Housing« in Nanhai für den Aga Khan Award for Architecture nominiert. In China und den USA hat das Büro mit Hauptsitz in Shenzhen zwischenzeitlich mehrere Preise gewonnen.
Die drei, damals noch jungen Herren, die URBANUS 1999 in New York gründeten, haben Architektur in Miami und in Peking studiert. Dementsprechend fusionierten in der Folge auch amerikanisches Gedankengut und östliche Denkweisen. Liu Xiaodu, Meng Yan und Wang Hui dozieren heute an zahlreichen ausländischen Universitäten und nehmen an internationalen Architekturwettbewerben, Ausstellungen und Veranstaltungen teil, um ihr Profil und die Außenwahrnehmung zu stärken. Sie verstehen sich als »Think Tank«, der »Architekturstrategien aus der städtischen Umgebung heraus formuliert«.
Das sind keine leeren Phrasen – dass sie sich in ihren Projekten mit der Realität chinesischer Städte beschäftigen und dass sie neben vielen rein kommerziellen Projekten in den Bereichen Kultur, öffentliches Bauen, Wohnen und Büro auch echte städtische Interventionen im Bestand unternommen haben, beweist ihr Projekt in der sogenannten Industriezone Ost im Stadtteil Nanshan, genauer in der Overseas Chinese Town (OCT): Bei der »OCT Loft Renovation« genannten Aufgabe ging es darum, ein aufgelassenes Industrieareal durch Schaffung eines kreativen Hotspots neu zu beleben und nach innen zu verdichten, ohne das gewachsene Quartier zu (zer)stören. Man erinnere sich: Nicht einmal vier Jahrzehnte ist es her, dass Premierminister Deng Xiaoping anordnete, auf Reisfeldern in direkter Nachbarschaft zu Hongkong die Sonderwirtschaftszone Shenzhen zu errichten. Dementsprechend handelt es sich bei dem OCT-Bestand um Produktionsgebäude der ersten Generation, die der Fertigung für das Ausland verschrieben waren und denen deutlich anzusehen ist, dass sie einst von staatlichen Planungsagenturen (Local Design Institutes) entworfen wurden.
Zu Beginn der Neuentwicklung schuf das staatliche He Xiangning Museum Tatsachen, indem es in einem der Warenhäuser ein Zentrum für zeitgenössische Kunst einrichten ließ. Von diesem »OCAT« genannten Zentrum ausgehend, konnten Galeristen und Künstler mit den Architekten und Entwicklern eine Planungsstrategie für die gesamte Brache erarbeiten. Ziel war die Wiederaneignung dieses »toten« städtischen Raums, ohne dafür ein allzu starres, kommerzielles Nutzungskonzept vorzugeben. Entwickler und Stadtregierung – Baubeteiligte, die aufgrund der herrschenden politisch-sozialen Strukturen in China nicht selten enger miteinander verbandelt sind, als man es hierzulande gutheißen würde – wollten die »Renovierung« so kostengünstig wie möglich gestalten. Die Rahmenbedingungen lauteten: Keine Sanierung des Bestands, billige Materialien für die Um- und Anbauten. Denn die Investoren sahen hier keine Chance, viel Geld zu verdienen, zeigten sich jedoch erstaunlich offen für dieses Experiment.
URBANUS nahm die Herausforderung auf allen Ebenen an: »Das war eine Aufgabe, oder vielmehr eine Chance, die sich einem Architekten in China selten bietet, nämlich, ein bestehendes Quartier nicht abzureißen und, wie es so typisch für China ist, die Bewohner aus ihren gewachsenen Nachbarschaften in ›moderne‹ Retortenstädte umzusiedeln, sondern den Bestand zu schützen und weiter zu bauen«, erinnert sich Büropartner Meng Yan.
Nachhaltige Stadtentwicklung ist in der frühkapitalistischen Volksrepublik tatsächlich die Ausnahme, wenn man bedenkt, dass Chinas Kommunen sich im Wesentlichen durch die Immobilienwirtschaft finanzieren, deren Fäden oft Generäle, lokale Parteikader oder deren Ehepartner ziehen. Verkauf und Entwicklung sind und bleiben die einzige zuverlässige kommunale Geldquelle in China, wo Unternehmens- und Eigentumssteuern recht gering sind und sich viele mehr oder minder legale, fiskale Schlupflöcher bieten. ›
Unschärfe als Strategie
Wer die chinesische Mentalität kennt, sieht bei der »OCT Loft Renovation«, wie die östliche Denkweise deutlich zum Tragen kommt: Vergänglichkeit ist allgegenwärtig und normal, alles wandelt sich ständig, man ist auf der Durchreise. Und auf dem Weg passt man sich eben den Gegebenheiten an. In Shenzhen herrscht meist ein feucht-heißes Klima, Bausubstanz verfällt früher oder später, das ist die Regel. Wozu also Gebäude für die Ewigkeit bauen? Auch chinesische Parks werden traditionell ohne Plan gebaut, man schaut einfach während des Prozesses, wohin die Reise geht. Und auch chinesische Tuschemalerei lebt stark von dem, was man im Westen oft als unbegreifliche Unschärfe empfindet.
So nimmt es nicht wunder, dass auch andere, zeitgenössische chinesische Architekten wie Pritzkerpreisträger Wang Shu (s. S. 18) das unkontrollierte Verwittern, das Vergängliche in ihren Arbeiten oft als eine ganz besondere »raum-zeitliche« oder gar zeitlose Qualität empfinden. Das gilt auch für URBANUS, deren eigener Anspruch es ist, »Architekturstrategien aus der städtischen Umgebung heraus zu formulieren«, die zum Ort und seinen Denktraditionen passen. So beließen sie die Fassaden der alten, sechsgeschossigen Fertigungsgebäude ungeniert im Originalzustand, der zusehends schlechter wird, sodass die eigentlichen Baumaßnahmen den Verfall weder verlangsamen noch beschleunigen.
Wurm auf der Durchreise
Entlang der fußläufig erschlossenen Hauptwegeachse wurden v. a. in der nördlichen Zone, wo sich die Fabrikgebäude befinden, einige der gammelnden Fassaden von verschiedenen Künstlern großflächig bemalt – mal mit floralen, mal mit leicht psychedelischen Motiven. Einige Geschosse wurden bis auf die Struktur bereinigt und mit Glaswänden zu flexiblen, vermietbaren Flächen umgebaut, was viele junge Gründer aus Kunst, Design und Kunsthandwerk angezogen hat. In den unteren OGs wurde ein durchgehendes, dreidimensionales Trajekt als neues Erschließungselement eingefügt. Es beginnt an einem hübschen Gartenrestaurant und erinnert in seiner Ausführung in Beton mit Fassaden aus Streckmetall und Polycarbonatglas an den spiralartig geführten Aufgang in der Niederländischen Botschaft zu Berlin. Laubengänge und Brücken zwischen den Gebäuden schaffen halböffentliche, mitunter auch gastronomisch genutzte Räume. Am anderen Ende dieses »Lindwurms« wurden im EG Ladenflächen angebaut, deren Dach als begehbarer Minipark mit Holzterrassen und Begrünung als Treppe dient und zugleich zum Verweilen einlädt. Das Motiv des Wurms, der den faulen Apfel durchquert, wiederholt sich dann am Nachbargebäude in Form einer verglasten Spirale, die eine Kunstgalerie beherbergt und zugleich ein Straßencafé überdeckt.
Der Charakter des OCT-Lofts bleibt vergänglich und doch jugendlich und frech, nicht clean und austauschbar. Und eben darin liegt sein Reiz. Der ehemalige Produktionsstandort mit Arbeiterwohnungen hat sich langsam in einen vibrierenden Kulturdistrikt verwandelt. Die Angebote und die öffentlichen Räume werden wie geplant angenommen, sind beliebt bei Lokalbevölkerung und ziehen sogar Touristen an.
Einige der alten Bewohner sind noch hier. Sie quittieren mit Gelassenheit, was sie nicht ändern können, und kommentieren die Belebung und Durchmischung ihres Viertels mit jungen Kreativen auf Nachfrage als bereichernd und »you yisi« (ganz interessant). Doch der Strukturwandel birgt auch Unsicherheiten. Produziert wird im ockerfarbenen Fabrikgebäude aus den 80er Jahren, das in Europa gut und gerne als Kind der 20er Jahre durchgehen würde, nichts mehr. Es steht leer und verfällt zusehends. In der näheren Umgebung sind inzwischen dann doch die chinatypischen Cluster aus Wohntürmen mit bis zu 30 Geschossen für die neue Mittelklasse entstanden, deren Kinder OCT-Loft als Ausgehmeile nutzen. Die Stadt braucht eben Einnahmen aus Landverkäufen. Wie überall in China. Und auch URBANUS baut solche Projekte. In Shenzhen, in Peking und anderswo.
Die drei, damals noch jungen Herren, die URBANUS 1999 in New York gründeten, haben Architektur in Miami und in Peking studiert. Dementsprechend fusionierten in der Folge auch amerikanisches Gedankengut und östliche Denkweisen. Liu Xiaodu, Meng Yan und Wang Hui dozieren heute an zahlreichen ausländischen Universitäten und nehmen an internationalen Architekturwettbewerben, Ausstellungen und Veranstaltungen teil, um ihr Profil und die Außenwahrnehmung zu stärken. Sie verstehen sich als »Think Tank«, der »Architekturstrategien aus der städtischen Umgebung heraus formuliert«.
Das sind keine leeren Phrasen – dass sie sich in ihren Projekten mit der Realität chinesischer Städte beschäftigen und dass sie neben vielen rein kommerziellen Projekten in den Bereichen Kultur, öffentliches Bauen, Wohnen und Büro auch echte städtische Interventionen im Bestand unternommen haben, beweist ihr Projekt in der sogenannten Industriezone Ost im Stadtteil Nanshan, genauer in der Overseas Chinese Town (OCT): Bei der »OCT Loft Renovation« genannten Aufgabe ging es darum, ein aufgelassenes Industrieareal durch Schaffung eines kreativen Hotspots neu zu beleben und nach innen zu verdichten, ohne das gewachsene Quartier zu (zer)stören. Man erinnere sich: Nicht einmal vier Jahrzehnte ist es her, dass Premierminister Deng Xiaoping anordnete, auf Reisfeldern in direkter Nachbarschaft zu Hongkong die Sonderwirtschaftszone Shenzhen zu errichten. Dementsprechend handelt es sich bei dem OCT-Bestand um Produktionsgebäude der ersten Generation, die der Fertigung für das Ausland verschrieben waren und denen deutlich anzusehen ist, dass sie einst von staatlichen Planungsagenturen (Local Design Institutes) entworfen wurden.
Zu Beginn der Neuentwicklung schuf das staatliche He Xiangning Museum Tatsachen, indem es in einem der Warenhäuser ein Zentrum für zeitgenössische Kunst einrichten ließ. Von diesem »OCAT« genannten Zentrum ausgehend, konnten Galeristen und Künstler mit den Architekten und Entwicklern eine Planungsstrategie für die gesamte Brache erarbeiten. Ziel war die Wiederaneignung dieses »toten« städtischen Raums, ohne dafür ein allzu starres, kommerzielles Nutzungskonzept vorzugeben. Entwickler und Stadtregierung – Baubeteiligte, die aufgrund der herrschenden politisch-sozialen Strukturen in China nicht selten enger miteinander verbandelt sind, als man es hierzulande gutheißen würde – wollten die »Renovierung« so kostengünstig wie möglich gestalten. Die Rahmenbedingungen lauteten: Keine Sanierung des Bestands, billige Materialien für die Um- und Anbauten. Denn die Investoren sahen hier keine Chance, viel Geld zu verdienen, zeigten sich jedoch erstaunlich offen für dieses Experiment.
URBANUS nahm die Herausforderung auf allen Ebenen an: »Das war eine Aufgabe, oder vielmehr eine Chance, die sich einem Architekten in China selten bietet, nämlich, ein bestehendes Quartier nicht abzureißen und, wie es so typisch für China ist, die Bewohner aus ihren gewachsenen Nachbarschaften in ›moderne‹ Retortenstädte umzusiedeln, sondern den Bestand zu schützen und weiter zu bauen«, erinnert sich Büropartner Meng Yan.
Nachhaltige Stadtentwicklung ist in der frühkapitalistischen Volksrepublik tatsächlich die Ausnahme, wenn man bedenkt, dass Chinas Kommunen sich im Wesentlichen durch die Immobilienwirtschaft finanzieren, deren Fäden oft Generäle, lokale Parteikader oder deren Ehepartner ziehen. Verkauf und Entwicklung sind und bleiben die einzige zuverlässige kommunale Geldquelle in China, wo Unternehmens- und Eigentumssteuern recht gering sind und sich viele mehr oder minder legale, fiskale Schlupflöcher bieten. ›
Unschärfe als Strategie
Wer die chinesische Mentalität kennt, sieht bei der »OCT Loft Renovation«, wie die östliche Denkweise deutlich zum Tragen kommt: Vergänglichkeit ist allgegenwärtig und normal, alles wandelt sich ständig, man ist auf der Durchreise. Und auf dem Weg passt man sich eben den Gegebenheiten an. In Shenzhen herrscht meist ein feucht-heißes Klima, Bausubstanz verfällt früher oder später, das ist die Regel. Wozu also Gebäude für die Ewigkeit bauen? Auch chinesische Parks werden traditionell ohne Plan gebaut, man schaut einfach während des Prozesses, wohin die Reise geht. Und auch chinesische Tuschemalerei lebt stark von dem, was man im Westen oft als unbegreifliche Unschärfe empfindet.
So nimmt es nicht wunder, dass auch andere, zeitgenössische chinesische Architekten wie Pritzkerpreisträger Wang Shu (s. S. 18) das unkontrollierte Verwittern, das Vergängliche in ihren Arbeiten oft als eine ganz besondere »raum-zeitliche« oder gar zeitlose Qualität empfinden. Das gilt auch für URBANUS, deren eigener Anspruch es ist, »Architekturstrategien aus der städtischen Umgebung heraus zu formulieren«, die zum Ort und seinen Denktraditionen passen. So beließen sie die Fassaden der alten, sechsgeschossigen Fertigungsgebäude ungeniert im Originalzustand, der zusehends schlechter wird, sodass die eigentlichen Baumaßnahmen den Verfall weder verlangsamen noch beschleunigen.
Wurm auf der Durchreise
Entlang der fußläufig erschlossenen Hauptwegeachse wurden v. a. in der nördlichen Zone, wo sich die Fabrikgebäude befinden, einige der gammelnden Fassaden von verschiedenen Künstlern großflächig bemalt – mal mit floralen, mal mit leicht psychedelischen Motiven. Einige Geschosse wurden bis auf die Struktur bereinigt und mit Glaswänden zu flexiblen, vermietbaren Flächen umgebaut, was viele junge Gründer aus Kunst, Design und Kunsthandwerk angezogen hat. In den unteren OGs wurde ein durchgehendes, dreidimensionales Trajekt als neues Erschließungselement eingefügt. Es beginnt an einem hübschen Gartenrestaurant und erinnert in seiner Ausführung in Beton mit Fassaden aus Streckmetall und Polycarbonatglas an den spiralartig geführten Aufgang in der Niederländischen Botschaft zu Berlin. Laubengänge und Brücken zwischen den Gebäuden schaffen halböffentliche, mitunter auch gastronomisch genutzte Räume. Am anderen Ende dieses »Lindwurms« wurden im EG Ladenflächen angebaut, deren Dach als begehbarer Minipark mit Holzterrassen und Begrünung als Treppe dient und zugleich zum Verweilen einlädt. Das Motiv des Wurms, der den faulen Apfel durchquert, wiederholt sich dann am Nachbargebäude in Form einer verglasten Spirale, die eine Kunstgalerie beherbergt und zugleich ein Straßencafé überdeckt.
Der Charakter des OCT-Lofts bleibt vergänglich und doch jugendlich und frech, nicht clean und austauschbar. Und eben darin liegt sein Reiz. Der ehemalige Produktionsstandort mit Arbeiterwohnungen hat sich langsam in einen vibrierenden Kulturdistrikt verwandelt. Die Angebote und die öffentlichen Räume werden wie geplant angenommen, sind beliebt bei Lokalbevölkerung und ziehen sogar Touristen an.
Einige der alten Bewohner sind noch hier. Sie quittieren mit Gelassenheit, was sie nicht ändern können, und kommentieren die Belebung und Durchmischung ihres Viertels mit jungen Kreativen auf Nachfrage als bereichernd und »you yisi« (ganz interessant). Doch der Strukturwandel birgt auch Unsicherheiten. Produziert wird im ockerfarbenen Fabrikgebäude aus den 80er Jahren, das in Europa gut und gerne als Kind der 20er Jahre durchgehen würde, nichts mehr. Es steht leer und verfällt zusehends. In der näheren Umgebung sind inzwischen dann doch die chinatypischen Cluster aus Wohntürmen mit bis zu 30 Geschossen für die neue Mittelklasse entstanden, deren Kinder OCT-Loft als Ausgehmeile nutzen. Die Stadt braucht eben Einnahmen aus Landverkäufen. Wie überall in China. Und auch URBANUS baut solche Projekte. In Shenzhen, in Peking und anderswo.
Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung
Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkel