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Schule macht Schule
Der Standard

Der Ernst des Lebens kann auch Spaß machen. Zum Beispiel im neuen Bildungscampus am Wiener Hauptbahnhof, der in einer Woche in Betrieb gehen wird. Erster Spaziergang durch einen räumlichen Vorboten, der den Wiener Schulbau auf den Kopf stellen wird.

23. August 2014 - Wojciech Czaja
Am 1. September ist Schulbeginn. Und damit startet für viele nicht nur der Ernst des Lebens, sondern auch eine neue Ära im österreichischen Schulbau. Erstmals seit Jahrzehnten werden die Jüngsten unserer Gesellschaft nicht mehr in neun mal sieben Meter große Standardklassen gequetscht, sondern können sich zwischen individuell gestalteten Ausbildungsräumen frei bewegen, können über sogenannte Marktplätze schlendern, können je nach Belieben mal drinnen, mal draußen lernen.

Ort dieser pädagogischen Revolution, an die vor wenigen Jahren noch niemand so richtig glaubte, ist der Bildungscampus im Sonnwendviertel im Hinterland des neuen Wiener Hauptbahnhofs. Die letzten Handgriffe werden gerade gemacht. Die einen tragen höhenverstellbare Drehstühle durchs Haus und polieren die Edelstahlküchen auf Hochglanz, die anderen machen die letzten Verwaltungsrochaden und drucken die Stundenpläne aus. Bald kommen die Horden.

„In den letzten 15 Jahren haben wir so gut wie jede einzelne österreichische Schulausschreibung gelesen und studiert“, erinnert sich Georg Poduschka, PPAG Architekten. „Doch diese eine Ausschreibung hat uns mehr als überrascht. Da waren keine räumlichen Vorgaben aufgelistet, sondern pädagogisch-funktionale Wünsche. Viele unserer Kolleginnen und Kollegen haben gar nicht glauben wollen, was die Magistratsabteilungen und der Stadtschulrat da hineingeschrieben haben.“

Erstmals, seit er denken kann, habe sich Poduschka ernsthaft und tiefgreifend mit dem Thema Schulbau auseinandersetzen dürfen. Mit Erfolg. Von den insgesamt 102 Teilnehmern kamen neun Büros in die zweite Bewerbungsstufe. Gewonnen hat schließlich der eckig zusammengewürfelte Cluster von PPAG, der sich - im Grundriss betrachtet - wie ein Commodore-Pac-Man durch das Schulgelände frisst.

Die ungewöhnliche Form hat inhaltliche Gründe. Denn anders als in allen bisher bekannten Schulen werden hier keine Normklassen mit Normtafeln und Normwaschbecken an Normgänge mit Normbrandlast und Normfluchtwegen gefädelt. Stattdessen gruppieren sich jeweils vier Unterrichtsklassen um einen zentralen Marktplatz, der den Schülerinnen und Schülern zur Verfügung steht - und zwar nicht nur in den Pausen, sondern auch in den Schulstunden.

Über vier Meter breite Glasfalttüren lassen sich die einzelnen Klassenräume zu einem riesigen Dorfplatz zusammenfassen. Wenn gewünscht, können auf diese Weise bis zu 100 Kids gleichzeitig - und zwar fächer- und auch schulstufenübergreifend - unterrichtet werden. An jede Klasse und jeden Cluster anschließend gibt es zudem Freiluftklassen, die mal witterungsgeschützt und mal mit einer schattenspendenden Pergola versehen sind. Projektunterricht bekommt damit eine vollkommen neue Dimension.

Oder, wie Georg Poduschka sagt: „Das ist ein Schulhaus für alle Kinder zwischen null und 14 Jahren, von Kindergarten über Volksschule bis hin zur Mittelschule. Ich finde das super. Als Kindergartenkind kann ich auf dem gesamten Gelände frei herumlaufen und meinen pubertierenden Bruder in seiner Schulklasse besuchen, wenn ich das will.“ Diese Offenheit und Transparenz ist Neuland in Österreich.

„Das ist ein Schulgebäude, das es in dieser Form bislang noch nie zuvor gegeben hat“, erklärt Claudia Koch, Direktorin der Volksschule. „Die offene Bauweise ist ein baulicher Anspruch an das Lernen, dem man erst einmal gerecht werden muss. Doch unse- re Pädagoginnen und Pädagogen sind aufgeschlossen und entwicklungsfreudig. Ich persönlich freue mich schon auf den Schulbetrieb.“

Auch Andreas Gruber, Direktor der Neuen Mittelschule (NMS), meint: „Das ist eine ziemliche Umstellung, eine ziemliche Herausforderung, wie ich meine. Aber in erster Linie sehe ich den Bildungscampus als Chance, denn das ist genau das, wonach wir Pädagoginnen und Pädagogen uns in all den Jahren gesehnt haben. Ich denke, es ist eine Frage der Zeit, vielleicht sogar der Generationen, aber früher oder später wird diese Offenheit auch auf die Kinder überspringen.“

Als ob das alles nicht schon neu genug wäre, verfügt jede Klasse über eine rund 15 Quadratmeter große Raumnische. Hierher können sich die Kinder zum Lesen oder Schlafen zurückziehen. Es sei jener abgeschiedene Privatbereich, so Architekt Poduschka, der als Ausgleich zum stundenlangen Unterricht so unglaublich wichtig sei, üblicherweise jedoch hinter einer selbst zusammengebastelten Schrankwand versteckt werde. Hier muss sich die Muße nicht maskieren.

Die Neuerungen auf dem 1100 Schüler fassenden Bildungscampus, der leider nicht so bunt ist wie sein räumlich innovatives Konzept, sondern sich hinter einem Farbkonzept aus Schwarz, Weiß und militärischer Schlammtarnfarbe zurücknimmt, gehen bis ins kleinste Detail. So entwickelten die PPAG Architekten sogar einen neuen, sechseckigen Schultisch, an dem bis zu drei Schüler sitzen können. Drehstühle mit höhenverstellbarer Fußstütze machen's möglich. Bei Bedarf ist sogar noch Platz für eine Lehrperson.

Und anstatt grüner Schiefertafeln gibt es sogenannte Whiteboards. Diese können den händisch geschriebenen Text nicht nur speichern, sondern auch in ein digitales Word-Dokument umwandeln. Auf diese Weise lässt sich mit anderen Klassen virtuell kommunizieren. Möge die bessere Lehrmethode gewinnen. Das enervierende Quietschen und Kreischen der Kreide ist damit Geschichte.

Von den veranschlagten 47 Millionen Euro Baukosten (Gesamtinvestitionskosten 79 Millionen Euro) wurden nur 37 Millionen verbaut. Das ist eine Reduktion um mehr als 20 Prozent. Für diese rechnerische Leistung gebührt den PPAG Architekten ein glattes „Sehr gut“. Schade nur, dass von den einst geplanten Vogelbrutkästen, Brieftaubenstationen, Bienenhäusern und frei herumlaufenden Igeln und Katzentieren nichts geworden ist. So weit traut sich die österreichische Bürokratie dann wohl doch nicht aus dem Fenster zu lehnen.

„Kompromisse muss man immer eingehen, und es kann sein, dass sich der Bildungscampus am Hauptbahnhof in den letzten Jahren von der ersten Konzeptskizze bis zur Fertigstellung da und dort auch architektonisch verändert hat“, meint Karin Schwarz-Viechtbauer, Direktorin des Österreichischen Instituts für Schul- und Sportstättenbau (ÖISS). „Räumlich jedoch ist der Campus exakt so geworden, wie PPAG ihn entworfen hat. Damit markiert die Pilotschule einen Wendepunkt im Wiener Schulbau und definiert die Stoßrichtung für die kommenden Jahre.“

Die folgenden Bildungscampus-Bauten sind bereits in Planung und in Bau. Unter dem Arbeitstitel „Campus plus“ verfolgt die Stadt Wien das Konzept weiter und errichtet in der Seestadt Aspern und in Kagran weitere Projekte, die hoffentlich Schule machen werden. Auch ohne Normschüler und ohne Normkatalog. „Die nächsten Pilotprojekte werden für die Zukunft des Wiener Schulbaus ausschlaggebend sein“, so Schwarz-Viechtbauer.
[ Buchtipp: Vor kurzem ist der 524-seitige Superwälzer „Speaking Architecture PPAG“ erschienen, herausgegeben von PPAG und STANDARD-Mitarbeiter Maik Novotny. Ambra-Verlag, Wien 2014, € 49,90 ]

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