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Freiräume für Kinder
deutsche bauzeitung

Kinderhaus »Josefine Kramer« in Tettnan

Hochwertige Materialien, lichte Räume, prägnante Konturen: Das Kinderhaus in Tettnang überzeugt in vielerlei Hinsicht. Besonders eindrucksvoll nehmen sich die breiten, das Fassadenbild prägenden Loggien aus. Dabei sehen die Öffnungen nicht nur gut aus – sie sind auch bestens zu bespielen.

1. September 2014 - Klaus Meyer
Das ehemalige Transformatorenhaus, das sich wie ein Bergfried auf einem Hügel im Spielgarten erhebt, hat keine Fenster; Licht dringt nur durch eine schmale Tür ins Innere. Das Turmgemach ist kaum größer als ein Altbauklo, aber über 10 m hoch und knallrot gestrichen – für die Kinder wird es ein magischer Ort sein. Auch im frisch angelegten Garten gibt es jetzt schon Ecken und Winkel mit großem zauberischen Potenzial. Zu nennen wäre der fast 50 m lange Weidentunnel zwischen den Spielinseln. Und das jüngst bezogene Kinderhaus selbst? Wird es für die Kleinen mehr sein als ein geräumiger Aufenthaltsort, ein temporäres Dach über dem Kopf? Wird es ihnen etwas bedeuten? Schwer zu sagen. Deshalb wird der Rezensent diese Frage erst einmal zurückstellen und sich bei der Bewertung des Bauwerks an die üblichen, immer etwas zu abstrakten Kriterien der Erwachsenen halten.

Doch zunächst noch zu den Fakten: Das Josefine-Kramer-Haus, benannt nach einer in Tettnang geborenen Psychologin und Heilpädagogin (1906-94), wurde zwar bereits im Januar 2014 fertiggestellt, ist aber erst seit Ende der Sommer- ferien voll besetzt. Es bietet Platz für bis zu 50 Kindergartenkinder in zwei Gruppen und rund 30 Krippenkinder in drei Gruppen. Hinzu kommen Räumlichkeiten, die von Kindern und Eltern der Initiative »Spatzennest« sowie dem »Familientreff Tettnang« genutzt werden. 1 600 m² Nutzfläche, 8 700 m³ umbauter Raum, 3 300 m² Grundstücksfläche: Für einen Kindergarten sind das stolze Zahlen. Und für eine Kommune wie das oberschwäbische Tettnang mit seinen knapp 20 000 Einwohnern ist der Bau solch eines Kindergartens naturgemäß eine große Sache – erst recht, wenn das Projekt an einem städtebaulich sensiblen Ort realisiert werden soll.

Dialog mit der Umgebung

Das Grundstück an der Wilhelmstraße heißt noch immer Hopfenareal, obwohl dort schon längst kein Hopfen mehr verarbeitet wird. Auch der Bahnhof, der die Industriebrache im Osten abschloss, wurde schon vor Jahren abgerissen. Die Wunde im Stadtbild schmerzte umso mehr, als das Gelände am Ende eines Grünangers mit verschiedenen öffentlichen Nutzungen liegt, der sich in ostwestlicher Richtung durch Tettnang zieht. Die letzten intakten Glieder in der Kette waren die zur Stadtkirche Sankt Gallus gehörigen Pfarrgebäude. Dahinter erstreckte sich eine von mittelprächtigen Einfamilienhäusern gefasste Schneise bis zu einem klobigen Getreidesilo. Die Herausforderung für die Planer des Kinderhauses bestand also nicht zuletzt darin, für die grüne Suite ein neues, imposantes Finale zu komponieren.

Das ist Martin Bächle, Karin Meid-Bächle und ihrem Team nach Meinung aller Experten hervorragend gelungen. Zunächst einmal konnte das Konstanzer Büro Bächle Meid den Entwurfswettbewerb, zu dem die Stadt Tettnang im September 2011 zwölf Architekturbüros eingeladen hatte, klar für sich entscheiden. Mittlerweile hat ihr Werk auch andere Juroren überzeugt. Bislang wurde das Projekt mit dem Label »best architects 15« und dem Hugo-Häring-Preis 2014 geehrt. Und das Kinderhaus spricht nicht nur Fachleute an, es gefällt eigentlich jedem, den man fragt.

Für die allgemeine Akzeptanz gibt es viele Gründe. Der augenfälligste ist die fulminante Ziegelfassade. Bächle Meid verwendeten dafür »Tallinn«-Klinker auf ungewöhnliche Weise: Indem sie die Rückseite der Ziegel mit ihren produktionsbedingten Unregelmäßigkeiten nach außen kehren, ergibt sich ein wunderbar lebendiges Mauerbild, das an alte Backsteinfassaden erinnert. Neben der Hülle ist es die Kubatur des Gebäudes, die umso mehr begeistert, je genauer man sie studiert. Auf den ersten Blick macht der lang gestreckte Baukörper den Eindruck eines autonomen, den Kontext ignorierenden Gebildes. Erst allmählich bemerkt man, wie vielfältig und sensibel der Entwurf auf die Umgebung reagiert: Im Südosten folgt die Außenwand dem schnurgeraden Straßenverlauf; gegenüber im Nordwesten erfüllt ihre Zickzackbewegung teils öffnende teils schützende Funktionen; im Süden zur Sankt-Gallus-Kirche hin formt das Volumen mit dem vorkragenden OG und dem exponierten Eingang eine unkonventionelle, doch suggestive Willkommensgeste; im Norden, wo das zweigeschossige Haus in eine mannshohe Mauer übergeht, kommuniziert der Neubau schließlich auf gleicher Augenhöhe mit der angrenzenden Wohnsiedlung. Einen subtilen Dialog mit den traditionellen Häusern im weiteren Umkreis führt auch das gefaltete Dachrelief mit seinen flachen Giebeln.

Loggien als Spielplätze

Selbst mit den großen Loggien, die das Erscheinungsbild des Gebäudes ebenso stark prägen wie die Ziegelwände und das Faltdach, nehmen die Architekten Bezug zur Umgebung. »Die Loggien bilden eine serielle Struktur, genau wie die Fenster der Lochfassaden ringsum«, sagt Martin Bächle. Freilich erschöpft sich die ästhetische Bedeutung der Öffnungen nicht in der Reminiszenz an traditionelle Symmetrien. Im Vordergrund steht sogar ein gegenteiliger Effekt, sind es doch v. a. die enorm breiten, teils verglasten teils offenen Freiräume, die dem Baukörper seine dezidiert zeitgemäße Anmutung verleihen. »Ohne sie würde der murale Charakter der Fassade viel zu stark dominieren«, sagt der Architekt. Ein weiterer reizvoller Aspekt ist die skulpturale Wirkung, die durch die tiefen Einschnitte in die Gebäudefront erzielt wird. In Bächles Worten: »Die Fassade wird zum Gehäuse.«

Die überzeugende Außenwirkung hat innere Ursachen: Im Grunde reicht die Kausalkette zurück bis zur Entscheidung über die Platzierung des Gebäudes auf dem Grundstück. Bächle Meid haben es nach Südosten an die Straße herangerückt, sodass der Spielgarten im schattigen Nordwesten liegt. »Das ist natürlich ein Nachteil, und einige Mitbewerber haben die Freifläche deshalb tatsächlich auf die Sonnenseite verlegt«, sagt Bächle. Doch sprachen entscheidende Argumente für den Vorschlag des Konstanzer Büros. Zum einen schirmt das an der Straße errichtete Haus den Spielgarten ab, sodass sich eine zusätzliche Abgrenzung erübrigt; zum anderen macht das Gebäude an der Straße stadträumlich eindeutig eine bessere Figur als ein Garten, der aufgrund notwendiger Einhegungen nicht einmal richtig einsehbar gewesen wäre. Die gewählte Verteilung der Funktionen stellte die Planer allerdings auch vor eine besondere Herausforderung. Wie sollten sie die Gruppenräume nach Süden zur Sonne hin öffnen? Mit großen, fassadenbündigen Fensterfronten? Licht hätte es dann zur Genüge gegeben, aber keinen Austritt an die frische Luft. Genau dies schaffen die Loggien: zusätzliche Spielplätze im Freien.

Einmal erdacht und für gut befunden, entwickelte sich die Lösung für ein Einzelproblem schnell zum seriell eingesetzten Gestaltungselement, das den Charakter des gesamten Gebäudes bestimmt. Austritte finden sich nicht nur auf der Sonnenseite, sondern auch zum Garten hin. Dabei wird jeder der fünf durchgesteckten Gruppenräume von je einer 6 m breiten Loggia flankiert. So bedeutsam diese Öffnungen in funktioneller und gestalterischer Hinsicht sind – als Elemente der Statik fallen sie nicht ins Gewicht: »Die Loggien haben mit dem Tragwerk überhaupt nichts zu tun, sondern sind eingestellt«, so der Architekt.

Räume mit Atmosphäre

Natürlich hat das Josefine-Kramer-Haus viel mehr zu bieten als seine Freiräume. Ein weitläufiges Foyer z. B., das die Erschließung des Gebäudes auf den ersten Blick erkennen lässt: Links führt eine Treppe zu den Räumlichkeiten des »Spatzennests« im OG, während sich im Parterre unmittelbar die Cafeteria anschließt; rechts geht es zum Kindergarten im EG und treppauf in den Krippenbereich. Den Kindern stehen nicht allein die hellen Gruppenräume zur Verfügung. Es gibt Materialräume, eine Kinderküche, einen großen Bewegungsraum. Zu jedem Gruppenraum gehört ein Ruhezimmer sowie eine Garderoben-Nische, jeweils versehen mit sehr praktischen und schönen Holzeinbauten. Ohnehin überzeugen Materialität und Mobiliar auf der ganzen Linie. Der Kunststoffboden im zarten Sandton, die weiß gestrichenen Metallgeländer, die Kindermöbel, die auch innen allgegenwärtigen Ziegelwände: Das alles muss man einfach mögen – zumindest als Erwachsener.

Und die Kinder? Ihr Gefühl zu diesem Haus wird wohl weniger von architektonischen als von sozialen Gegebenheiten bestimmt werden. Trotzdem wird auch die Architektur einen prägenden Einfluss ausüben, und es macht sicher einen Unterschied, ob man in einer übersichtlich-sauberen oder einer geheimnisvoll-wilden Umgebung aufwächst. Das eine hat etwas für sich, das andere aber auch. Und deshalb war es eine glückliche Entscheidung, den alten Transformatorenturm nicht abzureißen und nicht zu modernisieren, sondern innen in glühendes Rot zu tauchen. Kinder brauchen Freiräume – und magische Orte.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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