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Hommage an einen Vergessenen
Hermann Siegrist legte in den 1930er-Jahren einen avantgardistischen Wurf hin, danach verschwand er in der Versenkung. Eine Renovation lässt sein Hauptwerk neu erstrahlen und ruft sein Talent in Erinnerung.
14. September 2014 - Marko Sauer
Zum Abschluss der Sanierung im Oktober 2013 erhielt Benjamin Widmer ein besonderes Geschenk: Seine Freunde haben dem jungen Architekten den Rindsohrhaarpinsel eingerahmt, mit dem er die Wände im Innern seines Hauses gestrichen hatte. Eine äusserst zeitraubende Tätigkeit, doch Widmer wollte den Duktus der Hand auf dem Anstrich der Ölfarbe sehen. Die Farbe mit einem Roller aufzutragen hätte zu einer homogenen Oberfläche geführt, und um einen Maler damit zu beauftragen, fehlten ihm die Mittel. Der zierliche Pinsel steht für die Mühen der letzten Jahre. «Gut, dass ich nicht von Anfang an wusste, wie viel Arbeit bei dieser Sanierung auf mich zukommt», kommentiert Widmer die Schinderei. «Rückblickend muss ich sagen: Ich würde es nicht mehr machen.» Eine Koketterie, die man oft zu hören bekommt. Doch Benjamin Widmer meint es ernst. Dabei hat nur er selbst sich angetrieben – und mit unerbittlicher Akribie ein Schlüsselwerk der frühen Schweizer Moderne in Winterthur wieder zum Leben erweckt.
Die Siedlung des Architekten Hermann Siegrist aus dem Jahr 1932 liegt zwischen der Leimeneggstrasse und der Bahnlinie Richtung St. Gallen. Sie umfasst eine Fünferzeile und ein Doppelhaus, in dessen westlicher Hälfte Architekt Siegrist selbst lebte. Im Ausbau unterscheiden sich die Häuser: Das Wohnhaus der Familie Siegrist setzt dabei mit den durchgearbeiteten Details die Wohnvorstellungen der Moderne am radikalsten um (vgl. «Leben mit der Moderne», S. 30). Es wurde 1985 verkauft und ist heute noch weitgehend im Originalzustand erhalten. Die östliche Hälfte des Doppelhauses stand 2008 zum Verkauf: der Beginn der gemeinsamen Geschichte von Benjamin Widmer und dem Haus.
Die Siedlung stand noch nicht behördenverbindlich unter dem Schutz der Denkmalpflege, und aufgrund der guten Lage drohte das Haus in falsche Hände zu geraten: In der Fünferzeile belegt der Augenschein von aussen, dass nicht jeder Besitzer mit der Bausubstanz aus den 1930er-Jahren umgehen kann. Widmer versuchte zunächst, eine passende Institution zu finden, die das Haus hätte übernehmen und sanieren können. Doch als sich abzeichnete, dass er niemanden zu einem Kauf bewegen konnte, platzierte er selbst ein Angebot. Angesichts seiner beschränkten finanziellen Mittel rechnete er sich nur wenig Chancen aus – doch wider Erwarten bekam er den Zuschlag.
Der Wechsel der Zeit und der Moden
Nach der Freude über den überraschenden Kauf begann die Arbeit und das Leben auf einer Baustelle – zusammen mit seiner Partnerin, einer Journalistin, die geduldig den Staub der Bauarbeiten und den Perfektionismus des Architekten ertrug. Als Erstes wurde die Konstruktion geprüft. Das Flachdach war undicht, ebenso die Glasbausteine im Oberlicht des Treppenhauses. Die schlanke Fassade aus gerade mal 12 cm Sichtbeton hatte gelitten: Etwa die Hälfte der Fläche war von Abplatzungen betroffen, die Bewehrungseisen korrodiert. Die beiden Geschossdecken aus 9 cm Beton (bei einer Spannweite von bis zu 5,5 m) waren an der Grenze ihrer Tragfähigkeit und hingen im Mass ihrer Stärke durch.
Die Innendämmung bestand aus 4 cm Ondulex, einer mit bituminösen Stoffen imprägnierten Wellkartonplatte, die als verlorene Schalung eingelegt wurde. Das Material diente gleichzeitig als Dampfsperre. Ein 3 cm starker Zementputz hätte den Feuchteeintrag regulieren sollen, doch die Isolation war komplett durchnässt und verlor damit ihre Dämmleistung. Mit der Feuchtigkeit zog ein modriger Geruch ein, der das Haus durchdrang. Seit der Erstellung war nie eine tiefgreifende Erneuerung erfolgt, jedoch waren die Oberflächen im Innern nach einigen kleineren Umbauten nicht mehr original: Schwarze Täfelung hing von den Decken; Rundbögen in den Durchgängen zeugten von veränderten Gestaltungsvorstellungen; auf der Terrasse lagen kleinformatige Betonverbundsteine anstelle der grossformatigen Platten; die Fenster wurden in den 1980er-Jahren ausgewechselt; die metallene Eingangstür war ersetzt worden. Am schwersten wog der Austausch der Eckverglasung durch ein Fenster mit Rahmen. Im ursprünglichen Zustand demonstrierte die Ecke, über dem Bandfenster schwebend, eindrücklich die Forderungen von Le Corbusier in seinen fünf Punkten: Befreit von der Last der restlichen Konstruktion fand die Fassade ihren eigenen Ausdruck.
Widmer sondierte nicht nur im Objekt selbst nach den originalen Befunden – insbesondere die Farben konnte er häufig eruieren –, sondern studierte auch die Literatur und historische Dokumente. Als wertvolle Quelle diente ihm die Monografie von 1982, in der das ehemalige Wohnhaus von Hermann Siegrist akribisch dokumentiert wurde.[1] Darin konnte er Details und Konstruktionen nachschlagen, und da ein wesentlicher Teil der Publikation die Möblierung umfasste, war die Entwurfsabsicht Siegrists gut dokumentiert. Die Moderne zeigte sich an der Leimeneggstrasse als ein Gesamtkunstwerk, das das ganze Leben durchdrang.
Detaillierte Rekonstruktionen...
Dieser Haltung verpflichtet, machte sich Benjamin Widmer an die Arbeit. Er strebte eine Sanierung an, die sich auf dem Mittelweg bewegt zwischen der radikalen Version von Siegrists Wohnhaus und der «gemütlicheren» Version seines eigenen Hauses – Holztreppe anstelle der Metallstiege, gestemmte Türen mit Holzrahmen statt der Metallzargen mit ebenen Türblättern. Als Erstes wich das Ondulex. Stattdessen baute Widmer 6 cm Porenbeton ein und liess einen Putz mit einem grossen Anteil an Verunreinigungen aufbringen, um gleich nach der Renovation die Wärme und Patina eines Altbaus zu erhalten. Wo die originalen Farbtöne nicht zu ermitteln waren, griff er auf die Farbpalette von Le Corbusier zurück. Das Resultat ist verblüffend: Einmal mehr wird das Bild der weissen Moderne widerlegt. Vom sumpfgrünen Linoleumboden bis zum rosa Badezimmer und der hellblauen Küche zeigt das von aussen nüchtern wirkende Haus im Innern seine liebliche Seite.
Die durchhängenden Decken wurden mit einem Stahlträger unter der obersten Decke stabilisiert. Dieser liegt nun genau in der Trennwand zwischen den beiden Zimmern des Obergeschosses. Er ist eingespannt zwischen einem bestehenden Stahlprofil, das auf der Wand zum Gang aufliegt, und der Aussenwand. Widmer nutzte die Chance, die bestehende Falttür zwischen den Räumen vom Gang an die Fassade zu verlegen. Wenn die Tür zurückgezogen ist, bietet nun auch das Obergeschoss einen Blick auf das gesamte Bandfenster. Durch Zugstangen in der Wand ist die Decke über dem Wohnzimmer am selben Stahlprofil abgehängt.
Die Fenster wurden ersetzt und auf den Originalzustand zurückgeführt: In der ursprünglichen Version hatten die Fenster einen Kämpfer mit einem Klappflügel aufgewiesen, der oben gebandet gegen aussen öffnet – ein Detail, das heute kein Fensterbauer mehr in seinem Sortiment führt. Hartnäckig drängte Widmer die Handwerker dazu, eine Lösung für diese Öffnungsart zu finden, und nach einigem Hin und Her gelang das Vorhaben. Erst durch den gezielten Einsatz von verschiedenen Holzarten fanden Stabilität und Feinheit in ein Gleichgewicht. Selbstverständlich zeigt sich die prominente Eckverglasung im Wohnzimmer wieder stilgerecht als Stufenverglasung mit einer gestossenen Ecke aus Glas. Damit war eines der Kernelemente der Gestaltung wiederhergestellt.
Neben dem langen Bandfenster ist das Haus durch die geschwungene Treppe gekennzeichnet. Sie verleiht der funktionalen, kleinteiligen Struktur des Gebäudes Grosszügigkeit und bricht dessen Strenge auf. Auch für die Treppe fand Widmer einen Ausdruck, der zwischen dem Bestand (klar lackierte Buche) und der Version von Siegrists Haus (Metallspanten mit Verkleidung aus hell gestrichenem Sperrholz, dunklem Holzabschluss und aufgesetztem Metallrohr als Handlauf) vermittelt. Er beliess die Konstruktion in Holz und strich sie in Umbra, um zusammen mit der metallenen Wendeltreppe aufs Dach eine zusammenhängende Figur zu erzeugen.
Die Terrasse wurde abgedichtet und mit Platten von 1 m Kantenlänge belegt, deren Lachsfarbe überrascht. Auf den historischen Aufnahmen lässt sich ihre Farbigkeit nur erahnen – in diesem Punkt erlaubte sich Widmer eine Auslegung des geschichtlichen Befunds. Bei der Fassade hingegen strebte er eine Rekonstruktion an: Den Flickstellen wurden mit dem Hammer sorgfältig die Poren des historischen Betons hinzugefügt und die horizontalen Streifen der Brettschalung retuschiert.
...und freie Interpretationen
Nicht überall war der ursprüngliche Zustand eindeutig zu belegen. An einigen Stellen im Haus nahm sich der Architekt deshalb die Freiheit, seine eigenen Ideen umzusetzen. Insbesondere die Küche entsprach nicht den Vorstellungen der neuen Bewohner, aber eine banale Einbauküche kam nicht infrage. Deshalb entwarf Widmer eine passgenaue Ausstattung, die mit viel Erfindungsgeist den beschränkten Raum ausnutzt. Wie auf einem Schiff oder in einem Eisenbahnwagen – auch hier schimmert Le Corbusier durch – erleichtern ausfahrbare Arbeitsflächen und in die Ablagen eingelassene Schneidbretter die Arbeit unter engsten Bedingungen. Um die kleine Küche zu erweitern, verwandelte der Bauherr die angeschlossene Waschküche in eine offene Vorratskammer.
Die geschwungenen Tablare mit den dunkelbraunen Umleimern passen sich dem Ausdruck des Hauses an und scheinen aus der gleichen Zeit zu stammen.
Den Vorstellungen der Hygiene entsprechend waren alle Zimmer im Obergeschoss mit einem Lavabo ausgestattet. Widmer hat sie erhalten, ausser im südlich gelegenen Eckzimmer, wo er aus der Waschgelegenheit einen Schminktisch für die Dame des Hauses eingebaut hat – ein klassisches Zitat, das an längst vergangene Lebenswelten erinnert. Diese Zeiten leben nun in den Farbbildern dieses Berichts wieder auf: Für die Fotostrecke wurde das Haus mit Möbeln der Zürcher Firma Wohnbedarf ausgestattet – wie einst das Wohnhaus von Siegrist bei dessen Einweihung. Ein Manifest der «guten Form».
Anmerkung:
[01] Arthur Rüegg und Ruggero Tropeano (Hg.), Hermann Siegrist – Siedlung Leimenegg, ETH Zürich: Professur Schnebli, 1982
Die Siedlung des Architekten Hermann Siegrist aus dem Jahr 1932 liegt zwischen der Leimeneggstrasse und der Bahnlinie Richtung St. Gallen. Sie umfasst eine Fünferzeile und ein Doppelhaus, in dessen westlicher Hälfte Architekt Siegrist selbst lebte. Im Ausbau unterscheiden sich die Häuser: Das Wohnhaus der Familie Siegrist setzt dabei mit den durchgearbeiteten Details die Wohnvorstellungen der Moderne am radikalsten um (vgl. «Leben mit der Moderne», S. 30). Es wurde 1985 verkauft und ist heute noch weitgehend im Originalzustand erhalten. Die östliche Hälfte des Doppelhauses stand 2008 zum Verkauf: der Beginn der gemeinsamen Geschichte von Benjamin Widmer und dem Haus.
Die Siedlung stand noch nicht behördenverbindlich unter dem Schutz der Denkmalpflege, und aufgrund der guten Lage drohte das Haus in falsche Hände zu geraten: In der Fünferzeile belegt der Augenschein von aussen, dass nicht jeder Besitzer mit der Bausubstanz aus den 1930er-Jahren umgehen kann. Widmer versuchte zunächst, eine passende Institution zu finden, die das Haus hätte übernehmen und sanieren können. Doch als sich abzeichnete, dass er niemanden zu einem Kauf bewegen konnte, platzierte er selbst ein Angebot. Angesichts seiner beschränkten finanziellen Mittel rechnete er sich nur wenig Chancen aus – doch wider Erwarten bekam er den Zuschlag.
Der Wechsel der Zeit und der Moden
Nach der Freude über den überraschenden Kauf begann die Arbeit und das Leben auf einer Baustelle – zusammen mit seiner Partnerin, einer Journalistin, die geduldig den Staub der Bauarbeiten und den Perfektionismus des Architekten ertrug. Als Erstes wurde die Konstruktion geprüft. Das Flachdach war undicht, ebenso die Glasbausteine im Oberlicht des Treppenhauses. Die schlanke Fassade aus gerade mal 12 cm Sichtbeton hatte gelitten: Etwa die Hälfte der Fläche war von Abplatzungen betroffen, die Bewehrungseisen korrodiert. Die beiden Geschossdecken aus 9 cm Beton (bei einer Spannweite von bis zu 5,5 m) waren an der Grenze ihrer Tragfähigkeit und hingen im Mass ihrer Stärke durch.
Die Innendämmung bestand aus 4 cm Ondulex, einer mit bituminösen Stoffen imprägnierten Wellkartonplatte, die als verlorene Schalung eingelegt wurde. Das Material diente gleichzeitig als Dampfsperre. Ein 3 cm starker Zementputz hätte den Feuchteeintrag regulieren sollen, doch die Isolation war komplett durchnässt und verlor damit ihre Dämmleistung. Mit der Feuchtigkeit zog ein modriger Geruch ein, der das Haus durchdrang. Seit der Erstellung war nie eine tiefgreifende Erneuerung erfolgt, jedoch waren die Oberflächen im Innern nach einigen kleineren Umbauten nicht mehr original: Schwarze Täfelung hing von den Decken; Rundbögen in den Durchgängen zeugten von veränderten Gestaltungsvorstellungen; auf der Terrasse lagen kleinformatige Betonverbundsteine anstelle der grossformatigen Platten; die Fenster wurden in den 1980er-Jahren ausgewechselt; die metallene Eingangstür war ersetzt worden. Am schwersten wog der Austausch der Eckverglasung durch ein Fenster mit Rahmen. Im ursprünglichen Zustand demonstrierte die Ecke, über dem Bandfenster schwebend, eindrücklich die Forderungen von Le Corbusier in seinen fünf Punkten: Befreit von der Last der restlichen Konstruktion fand die Fassade ihren eigenen Ausdruck.
Widmer sondierte nicht nur im Objekt selbst nach den originalen Befunden – insbesondere die Farben konnte er häufig eruieren –, sondern studierte auch die Literatur und historische Dokumente. Als wertvolle Quelle diente ihm die Monografie von 1982, in der das ehemalige Wohnhaus von Hermann Siegrist akribisch dokumentiert wurde.[1] Darin konnte er Details und Konstruktionen nachschlagen, und da ein wesentlicher Teil der Publikation die Möblierung umfasste, war die Entwurfsabsicht Siegrists gut dokumentiert. Die Moderne zeigte sich an der Leimeneggstrasse als ein Gesamtkunstwerk, das das ganze Leben durchdrang.
Detaillierte Rekonstruktionen...
Dieser Haltung verpflichtet, machte sich Benjamin Widmer an die Arbeit. Er strebte eine Sanierung an, die sich auf dem Mittelweg bewegt zwischen der radikalen Version von Siegrists Wohnhaus und der «gemütlicheren» Version seines eigenen Hauses – Holztreppe anstelle der Metallstiege, gestemmte Türen mit Holzrahmen statt der Metallzargen mit ebenen Türblättern. Als Erstes wich das Ondulex. Stattdessen baute Widmer 6 cm Porenbeton ein und liess einen Putz mit einem grossen Anteil an Verunreinigungen aufbringen, um gleich nach der Renovation die Wärme und Patina eines Altbaus zu erhalten. Wo die originalen Farbtöne nicht zu ermitteln waren, griff er auf die Farbpalette von Le Corbusier zurück. Das Resultat ist verblüffend: Einmal mehr wird das Bild der weissen Moderne widerlegt. Vom sumpfgrünen Linoleumboden bis zum rosa Badezimmer und der hellblauen Küche zeigt das von aussen nüchtern wirkende Haus im Innern seine liebliche Seite.
Die durchhängenden Decken wurden mit einem Stahlträger unter der obersten Decke stabilisiert. Dieser liegt nun genau in der Trennwand zwischen den beiden Zimmern des Obergeschosses. Er ist eingespannt zwischen einem bestehenden Stahlprofil, das auf der Wand zum Gang aufliegt, und der Aussenwand. Widmer nutzte die Chance, die bestehende Falttür zwischen den Räumen vom Gang an die Fassade zu verlegen. Wenn die Tür zurückgezogen ist, bietet nun auch das Obergeschoss einen Blick auf das gesamte Bandfenster. Durch Zugstangen in der Wand ist die Decke über dem Wohnzimmer am selben Stahlprofil abgehängt.
Die Fenster wurden ersetzt und auf den Originalzustand zurückgeführt: In der ursprünglichen Version hatten die Fenster einen Kämpfer mit einem Klappflügel aufgewiesen, der oben gebandet gegen aussen öffnet – ein Detail, das heute kein Fensterbauer mehr in seinem Sortiment führt. Hartnäckig drängte Widmer die Handwerker dazu, eine Lösung für diese Öffnungsart zu finden, und nach einigem Hin und Her gelang das Vorhaben. Erst durch den gezielten Einsatz von verschiedenen Holzarten fanden Stabilität und Feinheit in ein Gleichgewicht. Selbstverständlich zeigt sich die prominente Eckverglasung im Wohnzimmer wieder stilgerecht als Stufenverglasung mit einer gestossenen Ecke aus Glas. Damit war eines der Kernelemente der Gestaltung wiederhergestellt.
Neben dem langen Bandfenster ist das Haus durch die geschwungene Treppe gekennzeichnet. Sie verleiht der funktionalen, kleinteiligen Struktur des Gebäudes Grosszügigkeit und bricht dessen Strenge auf. Auch für die Treppe fand Widmer einen Ausdruck, der zwischen dem Bestand (klar lackierte Buche) und der Version von Siegrists Haus (Metallspanten mit Verkleidung aus hell gestrichenem Sperrholz, dunklem Holzabschluss und aufgesetztem Metallrohr als Handlauf) vermittelt. Er beliess die Konstruktion in Holz und strich sie in Umbra, um zusammen mit der metallenen Wendeltreppe aufs Dach eine zusammenhängende Figur zu erzeugen.
Die Terrasse wurde abgedichtet und mit Platten von 1 m Kantenlänge belegt, deren Lachsfarbe überrascht. Auf den historischen Aufnahmen lässt sich ihre Farbigkeit nur erahnen – in diesem Punkt erlaubte sich Widmer eine Auslegung des geschichtlichen Befunds. Bei der Fassade hingegen strebte er eine Rekonstruktion an: Den Flickstellen wurden mit dem Hammer sorgfältig die Poren des historischen Betons hinzugefügt und die horizontalen Streifen der Brettschalung retuschiert.
...und freie Interpretationen
Nicht überall war der ursprüngliche Zustand eindeutig zu belegen. An einigen Stellen im Haus nahm sich der Architekt deshalb die Freiheit, seine eigenen Ideen umzusetzen. Insbesondere die Küche entsprach nicht den Vorstellungen der neuen Bewohner, aber eine banale Einbauküche kam nicht infrage. Deshalb entwarf Widmer eine passgenaue Ausstattung, die mit viel Erfindungsgeist den beschränkten Raum ausnutzt. Wie auf einem Schiff oder in einem Eisenbahnwagen – auch hier schimmert Le Corbusier durch – erleichtern ausfahrbare Arbeitsflächen und in die Ablagen eingelassene Schneidbretter die Arbeit unter engsten Bedingungen. Um die kleine Küche zu erweitern, verwandelte der Bauherr die angeschlossene Waschküche in eine offene Vorratskammer.
Die geschwungenen Tablare mit den dunkelbraunen Umleimern passen sich dem Ausdruck des Hauses an und scheinen aus der gleichen Zeit zu stammen.
Den Vorstellungen der Hygiene entsprechend waren alle Zimmer im Obergeschoss mit einem Lavabo ausgestattet. Widmer hat sie erhalten, ausser im südlich gelegenen Eckzimmer, wo er aus der Waschgelegenheit einen Schminktisch für die Dame des Hauses eingebaut hat – ein klassisches Zitat, das an längst vergangene Lebenswelten erinnert. Diese Zeiten leben nun in den Farbbildern dieses Berichts wieder auf: Für die Fotostrecke wurde das Haus mit Möbeln der Zürcher Firma Wohnbedarf ausgestattet – wie einst das Wohnhaus von Siegrist bei dessen Einweihung. Ein Manifest der «guten Form».
Anmerkung:
[01] Arthur Rüegg und Ruggero Tropeano (Hg.), Hermann Siegrist – Siedlung Leimenegg, ETH Zürich: Professur Schnebli, 1982
Für den Beitrag verantwortlich: TEC21
Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Solt