Artikel
Leben mit der Moderne
Die Siedlung an der Leimeneggstrasse war nicht die erste moderne Siedlung der Schweiz – auch nicht die am meisten beachtete. Doch das Zusammenspiel von Raum und Ausstattung war einmalig.
14. September 2014 - Arthur Rüegg
Von 1926 bis etwa 1933 betrieben Hermann Siegrist (1894–1978) und Hannibal Naef (1902–1979) zusammen ein Architekturbüro in Winterthur. Trotz ihrem Studium bei Karl Moser zählten sie nicht zur umtriebigen Avantgarde des Zürcher CIAM Kreises. Nach ein paar Wettbewerben erhielt Siegrist, selbst Sohn eines Architekten, zwei Aufträge für Ladenumbauten (1930) und einen weiteren für ein Holzhaus (1931). Die spektakuläre Lichtarchi tektur des Bata Schuhladens zwischen Marktgasse und Stadthausstrasse in Winterthur legte den Grundstein zu Naefs späterer Tätigkeit für die Bata Kolonie in Möhlin. Naef selbst beteiligte sich an allen wichtigen Wettbewerben jener Zeit – von der Landesbibliothek in Bern (1927) über den Völkerbund in Genf (1927), das Kunstmuseum Basel (1928) bis zum Kantonsspital Zürich (1933).[1]
Die Zusammenarbeit erzeugte kaum Synergien (und wurde in den späteren Lebensläufen unterschla gen), doch teilten die beiden einen erlesenen Geschmack in Sachen Lebensstil. Naef, Spross einer vermögenden Industriellenfamilie, richtete sich 1931 mit den exklusivsten deutschen und französischen Stahlrohrmöbeln ein. Siegrist seinerseits gelang es 1932, noch vor Auflösung der Arbeitsgemeinschaft, mit sieben «zusammengebauten Einfamilienhäusern» in der Leimenegg einen unübersehbaren Meilenstein des Neuen Bauens zu set zen und aus seinem eigenen Eckhaus ein Musterbeispiel zeitgenössischer Schweizer Wohnkultur zu machen.[2]
Ein Punkt und ein Gedankenstrich
Siegrists Doppelhaus und die fünf Reihenhäuser er schienen einem zeitgenössischen Kommentator aus der Vogelschau «als Punkt und als Gedankenstrich im offenen bunten Buch der Winterthurer Siedelungsgeschichte» – nicht zuletzt in symbolischer Hinsicht: «Hier wird markiert, dass ein Satzgefüge zu Ende ist und ein frischer Gedanke in neuem Satz nach Ausdruck drängt.»[3]
Die Aussage ist erstaunlich, war doch der Stadtplan von Winterthur bereits mit einer Vielzahl markanter Wohnzeilen tätowiert.
Dass Siegrists Wurf auffiel wie ein Papagei, war wohl weniger dem Zeilenbau als der architektonischen Provokation zu verdanken. Im Gegensatz zu Ernst Jungs, Hans Bernoullis, Franz Scheiblers und Adolf Kellermüllers Bauten – und selbst zur benachbarten Flachdachsiedlung «Stadtrain» von Keller müller & Hofmann – besitzt das Äussere der Leimenegg Bauten manifestartigen Charakter. Überlange Fensterschlitze zeigen die Fassade als nichttragende, kartonartige Membran; durch das zusätzliche Aufschneiden der Gebäudeecken werden die Reihenhäuser zu einem übergeordneten Ganzen zusammen gefasst. Das auffallendste Merkmal für avantgardistisches Bauen und Wohnen liefern die subtil durch gebildeten Dachgärten. Zwar war diese Dach ausbildung seit dem 1929 publizierten Vorprojekt der Werkbundsiedlung Neubühl auch in der Schweiz keine revolutionäre Neuerung mehr; Siegrists Formulierung erinnert jedoch weit mehr an das grosse Vorbild Le Corbusier als ans Neubühl (in der Tat hatte er 1927 während eines Besuchs der Weissenhofsiedlung nur Augen für die beiden Bauten von Le Corbusier und Pierre Jeanneret gehabt). Es ist nachvollziehbar, dass seine idealistische oder «poetische» – das Utilitäre dezidiert sprengende – Ambition in Winterthur auf Befremden und vehemente Ablehnung stiess. Allerdings war Siegrist keineswegs ein Formalist, sondern wusste die Errungenschaften Le Corbusiers und des Bauhauses mit einer eigenständigen, sensiblen und durchaus innovativen Detaillie rung vernünftig umzusetzen. Auffallend sind die in der Gebäudeecke verleimten, enormen Scheiben der Doppelverglasung, die die Jahrzehnte unbeschadet überstanden haben. Für die Konstruktion der Aussenwände verwendete er – anders als Le Corbusier auf dem Weissenhof – Sichtbeton, den er aussen mit einem hellen Anstrich in Mineralfarbe versah und dadurch entmaterialisierte.
Ein besonderer Glücksfall
Im Innern des Hauses Siegrist besticht das von oben belichtete offene Treppenhaus, in dem auf einer angewendelten Treppe mit Sperrholzbrüstungen eine eiserne Fertig-Wendeltreppe aufgesattelt ist. Der auf knappstem Raum entfaltete räumliche Luxus genügt, um dem Haus eine räumliche Identität zu geben und den vertikalen Aufbau bis zum Dachgarten hinauf sinnlich erfahrbar zu machen. Trotz aller Kompaktheit ging es Siegrist keineswegs um eine Auseinandersetzung mit dem Bauen für das Existenzminimum, sondern um einen für den aufgeklärten Mittelstand bestimmten Versuch zum modernen Wohnen in der Stadt, wie es die eleganten Pariser Stadtvillen verkörperten (etwa die Villa Cook von Le Corbusier, 1926). Entscheidend für die aussergewöhnliche Bedeutung des Hauses Siegrist war allerdings die vollkommene Ergänzung durch die Einrichtung der Wohnbedarf AG Zürich. Die 1931 im Zusammenhang mit der Möblierung der Werkbundsiedlung Neubühl aus dem Zürcher CIAM- und SWB Kreis hervorgegangene «zentralstelle für den zeitgenössischen wohnbedarf» hatte zusammen mit Moser, Haefeli, Steiger, Giedion, Roth, Egli sowie Aalto innerhalb kürzester Zeit eine komplette, homogen wirkende Linie von multifunktionalen Stahlrohrmodellen zu sammengestellt. Die Bildhauerin Rosa Studer-Koch – sie hatte Siegrist für die Dachterrasse ein Pferderelief geliefert – vermittelte den Kontakt, und die Zürcher machten die Wohnhäuser am Leimenegg sofort zur eigenen Sache. Im Oktober 1932 kam es zu einer etwa einwöchigen Ausstellung, die das ganze Sortiment inklusive der eben fertig gestellten Indi-Leuchte ver sammelte – ein Ereignis, das durch den Wobag Hausfotografen Hans Finsler festgehalten wurde. Das Ehepaar Siegrist verkaufte umgehend seine Aussteuer und erwarb das gesamte Ausstellungsinventar.[4]
Dieses einzigartige Dokument des «befreiten Wohnens» blieb ein halbes Jahrhundert lang – bis zum altersbedingten Wegzug von Tamara Siegrist Solnzeva 1985 – in unveränderter Form erhalten.
Anmerkungen:
[01] Vgl. Ruggero Tropeano, «Hans Hugo Hannibal Naef, 1902–1979», in: Die Bata Kolonie in Möhlin, Ausstellungskatalog Architekturmuseum Basel, 1992. Für den Wettbewerb des Kantonsspitals Zürich arbeitete Naef mit Max Haefeli sen. und Alfred Mürset zusammen.
[02] Vgl. die ausführliche Monografie von Arthur Rüegg und Ruggero Tropeano (Hg.), Hermann Siegrist – Siedlung Leimenegg, mit Biografie und Werkverzeichnis von Katharina Medici Mall und Aufnahmeplänen von Mike Guyer, Rudolf Moser, Meinrad Morger und Aldo Nolli, ETH Zürich: Professur Schnebli, 1982.
[03] K., «Ein Punkt und ein Gedankenstrich», in: Die Wohnkolonie am Leimenegg, Sonderbeilage zu Der Landbote, 20.10.1932.
[04] Das Mobiliar befindet sich heute als Donation von Ruggero Tropeano und Arthur Rüegg in der Design Sammlung des Museums für Gestaltung Zürich
Die Zusammenarbeit erzeugte kaum Synergien (und wurde in den späteren Lebensläufen unterschla gen), doch teilten die beiden einen erlesenen Geschmack in Sachen Lebensstil. Naef, Spross einer vermögenden Industriellenfamilie, richtete sich 1931 mit den exklusivsten deutschen und französischen Stahlrohrmöbeln ein. Siegrist seinerseits gelang es 1932, noch vor Auflösung der Arbeitsgemeinschaft, mit sieben «zusammengebauten Einfamilienhäusern» in der Leimenegg einen unübersehbaren Meilenstein des Neuen Bauens zu set zen und aus seinem eigenen Eckhaus ein Musterbeispiel zeitgenössischer Schweizer Wohnkultur zu machen.[2]
Ein Punkt und ein Gedankenstrich
Siegrists Doppelhaus und die fünf Reihenhäuser er schienen einem zeitgenössischen Kommentator aus der Vogelschau «als Punkt und als Gedankenstrich im offenen bunten Buch der Winterthurer Siedelungsgeschichte» – nicht zuletzt in symbolischer Hinsicht: «Hier wird markiert, dass ein Satzgefüge zu Ende ist und ein frischer Gedanke in neuem Satz nach Ausdruck drängt.»[3]
Die Aussage ist erstaunlich, war doch der Stadtplan von Winterthur bereits mit einer Vielzahl markanter Wohnzeilen tätowiert.
Dass Siegrists Wurf auffiel wie ein Papagei, war wohl weniger dem Zeilenbau als der architektonischen Provokation zu verdanken. Im Gegensatz zu Ernst Jungs, Hans Bernoullis, Franz Scheiblers und Adolf Kellermüllers Bauten – und selbst zur benachbarten Flachdachsiedlung «Stadtrain» von Keller müller & Hofmann – besitzt das Äussere der Leimenegg Bauten manifestartigen Charakter. Überlange Fensterschlitze zeigen die Fassade als nichttragende, kartonartige Membran; durch das zusätzliche Aufschneiden der Gebäudeecken werden die Reihenhäuser zu einem übergeordneten Ganzen zusammen gefasst. Das auffallendste Merkmal für avantgardistisches Bauen und Wohnen liefern die subtil durch gebildeten Dachgärten. Zwar war diese Dach ausbildung seit dem 1929 publizierten Vorprojekt der Werkbundsiedlung Neubühl auch in der Schweiz keine revolutionäre Neuerung mehr; Siegrists Formulierung erinnert jedoch weit mehr an das grosse Vorbild Le Corbusier als ans Neubühl (in der Tat hatte er 1927 während eines Besuchs der Weissenhofsiedlung nur Augen für die beiden Bauten von Le Corbusier und Pierre Jeanneret gehabt). Es ist nachvollziehbar, dass seine idealistische oder «poetische» – das Utilitäre dezidiert sprengende – Ambition in Winterthur auf Befremden und vehemente Ablehnung stiess. Allerdings war Siegrist keineswegs ein Formalist, sondern wusste die Errungenschaften Le Corbusiers und des Bauhauses mit einer eigenständigen, sensiblen und durchaus innovativen Detaillie rung vernünftig umzusetzen. Auffallend sind die in der Gebäudeecke verleimten, enormen Scheiben der Doppelverglasung, die die Jahrzehnte unbeschadet überstanden haben. Für die Konstruktion der Aussenwände verwendete er – anders als Le Corbusier auf dem Weissenhof – Sichtbeton, den er aussen mit einem hellen Anstrich in Mineralfarbe versah und dadurch entmaterialisierte.
Ein besonderer Glücksfall
Im Innern des Hauses Siegrist besticht das von oben belichtete offene Treppenhaus, in dem auf einer angewendelten Treppe mit Sperrholzbrüstungen eine eiserne Fertig-Wendeltreppe aufgesattelt ist. Der auf knappstem Raum entfaltete räumliche Luxus genügt, um dem Haus eine räumliche Identität zu geben und den vertikalen Aufbau bis zum Dachgarten hinauf sinnlich erfahrbar zu machen. Trotz aller Kompaktheit ging es Siegrist keineswegs um eine Auseinandersetzung mit dem Bauen für das Existenzminimum, sondern um einen für den aufgeklärten Mittelstand bestimmten Versuch zum modernen Wohnen in der Stadt, wie es die eleganten Pariser Stadtvillen verkörperten (etwa die Villa Cook von Le Corbusier, 1926). Entscheidend für die aussergewöhnliche Bedeutung des Hauses Siegrist war allerdings die vollkommene Ergänzung durch die Einrichtung der Wohnbedarf AG Zürich. Die 1931 im Zusammenhang mit der Möblierung der Werkbundsiedlung Neubühl aus dem Zürcher CIAM- und SWB Kreis hervorgegangene «zentralstelle für den zeitgenössischen wohnbedarf» hatte zusammen mit Moser, Haefeli, Steiger, Giedion, Roth, Egli sowie Aalto innerhalb kürzester Zeit eine komplette, homogen wirkende Linie von multifunktionalen Stahlrohrmodellen zu sammengestellt. Die Bildhauerin Rosa Studer-Koch – sie hatte Siegrist für die Dachterrasse ein Pferderelief geliefert – vermittelte den Kontakt, und die Zürcher machten die Wohnhäuser am Leimenegg sofort zur eigenen Sache. Im Oktober 1932 kam es zu einer etwa einwöchigen Ausstellung, die das ganze Sortiment inklusive der eben fertig gestellten Indi-Leuchte ver sammelte – ein Ereignis, das durch den Wobag Hausfotografen Hans Finsler festgehalten wurde. Das Ehepaar Siegrist verkaufte umgehend seine Aussteuer und erwarb das gesamte Ausstellungsinventar.[4]
Dieses einzigartige Dokument des «befreiten Wohnens» blieb ein halbes Jahrhundert lang – bis zum altersbedingten Wegzug von Tamara Siegrist Solnzeva 1985 – in unveränderter Form erhalten.
Anmerkungen:
[01] Vgl. Ruggero Tropeano, «Hans Hugo Hannibal Naef, 1902–1979», in: Die Bata Kolonie in Möhlin, Ausstellungskatalog Architekturmuseum Basel, 1992. Für den Wettbewerb des Kantonsspitals Zürich arbeitete Naef mit Max Haefeli sen. und Alfred Mürset zusammen.
[02] Vgl. die ausführliche Monografie von Arthur Rüegg und Ruggero Tropeano (Hg.), Hermann Siegrist – Siedlung Leimenegg, mit Biografie und Werkverzeichnis von Katharina Medici Mall und Aufnahmeplänen von Mike Guyer, Rudolf Moser, Meinrad Morger und Aldo Nolli, ETH Zürich: Professur Schnebli, 1982.
[03] K., «Ein Punkt und ein Gedankenstrich», in: Die Wohnkolonie am Leimenegg, Sonderbeilage zu Der Landbote, 20.10.1932.
[04] Das Mobiliar befindet sich heute als Donation von Ruggero Tropeano und Arthur Rüegg in der Design Sammlung des Museums für Gestaltung Zürich
Für den Beitrag verantwortlich: TEC21
Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Solt