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Dauerhaftes Kassenhäuschen
Besucherzentrum Via Mala-Schlucht in Graubünden (CH)
Wer die legendäre Via Mala-Schlucht erleben will, muss rechtzeitig von der bequem ausgebauten Nationalstraße abfahren, welche die berüchtigte Passage unmerklich im Tunnel umfährt. Schon seit 1903 gibt es die Möglichkeit, tief in die Schlucht hinabzusteigen, erst seit Kurzem markiert ein architektonisch ambitioniertes, wenn auch winziges Besucherzentrum die Stelle. Gestalterisch weiß das Gebäude zu überzeugen, inhaltlich trägt es leider wenig dazu bei, die Geschichte des Orts zu vermitteln.
5. Oktober 2014 - Hubertus Adam
Felszeichnungen belegen, dass schon in vorgeschichtlicher Zeit ein Saumpfad durch die Via Mala führte. Doch auch mit der von den Römern in die schroffen Felswände geschlagenen Galerie, blieb die Passage durch die 8 km lange Schlucht des Hinterrheins zwischen Thusis und Zillis über Jahrhunderte hinweg mühsam und gefährlich, sodass der Begriff vom »bösen Weg« entstand. Dieser wurde zwischen 1729 und 1739 ausgebaut und dabei mit zwei Steinbrücken des Davoser Baumeisters Christian Wildener versehen. Um 1820 erfolgte schließlich der Ausbau der sogenannten Unteren Straße, welche von Chur durch die Via Mala hindurch zum Splügen- und zum San Bernardino-Pass führt, zu einer endlich auch von Fuhrwerken nutzbaren Handelsstraße. Die Gemeinden in Schluchtnähe profitierten zunächst vom steigenden Verkehrsaufkommen Richtung Italien. Mit der Eisenbahn brach allerdings eine neue Ära an: Zwei Jahre nach der Eröffnung des Gotthardtunnels verließ der letzte Fuhrwerkskonvoi Thusis.
Wandel des Tourismus'
Als südlicher Endpunkt der Rhätischen Bahn konnte sich Thusis eine neue wirtschaftliche Basis im verstärkt einsetzenden Alpentourismus schaffen; Hotels boten den Reisenden Übernachtungsmöglichkeiten, bevor diese zur Weiterfahrt ins Engadin aufbrachen. Die kurze Blütezeit endete, als 1903 die Albulastrecke in Betrieb genommen wurde und die Besucher ohne Umsteigen von Chur bis nach St. Moritz reisen konnten. Angesichts dieser absehbaren Entwicklung beschloss der Verkehrsverein Thusis, die einst gefürchtete Schlucht, die verkehrlich kaum noch eine Bedeutung besaß, zur Attraktion zu machen. An der engsten und eindrucksvollsten Stelle, nahe der südlichen Wildener-Brücke, wurde ein Treppenabgang angelegt, der zu einer durch den Felsen getriebenen 110 m langen Halbgalerie führte, von der aus sich die durch die Schlucht tosenden Wassermassen bestaunen ließen. Die im Juni 1903 eröffnete Anlage, die von dem später durch seine Lehrgerüste für Brücken bekannten Ingenieur Richard Coray ausgeführt wurde, war anfangs kein großer Erfolg; die Übernachtungszahlen stiegen nur mäßig, und der Erste Weltkrieg ließ den Schweiz-Tourismus kollabieren.
In Schüben wurde die Via Mala-Route in späteren Jahrzehnten ausgebaut: In den 30er Jahren durch neue Straßenbrücken, in den 60ern durch eine völlig neue Trassenführung im Zuge des Ausbaus der Nationalstraßen. Eilige Reisende umfahren den Kernbereich der Via Mala seither in einem 720 m langen Tunnel.
Da der Abstieg in die Via Mala aber seit den 50er Jahren endlich die erwünschten Besucherströme anzog, musste der dortige Kiosk mehrfach erneuert werden: zunächst 1956, dann 1971. 30 Jahre später – die jährlichen Besucherzahlen hatten inzwischen die Grenze von 90 000 überschritten – sollte die Infrastruktur wieder einmal grundlegend erneuert werden. Im Wettbewerb des Jahres 2001/02 konnten sich Bearth & Deplazes mit ihrem Konzept eines turmartig aus der Schlucht herauswachsenden Gebäudes aus Stampfbeton durchsetzen. Doch die für die Realisierung nötige Summe überforderte den seit Anbeginn für die Schluchterschließung zuständigen Verkehrsverein. Das Projekt wurde verschoben, redimensioniert und am Ende ganz eingestellt. Inzwischen sanken die Eintrittszahlen und erreichten mit 50 000 Besuchern einen Tiefststand.
Haus am Abgrund
Für die lokalen Touristiker waren die alarmierenden Zahlen allemal der Grund, die Schlucht durch ein neues Besucherzentrum aufzuwerten. Mit dem in Thusis ansässigen Architekturbüro Iseppi/Kurath, das schon die nahegelegene Autobahn-Raststätte Viamala entworfen hatte, begann man gleichsam von vorne. Zunächst erarbeiteten die Architekten drei Szenarien: das einer Reduzierung, das einer Optimierung und das eines Ausbaus der bestehenden Infrastruktur. Man entschied sich schließlich für den Mittelweg, da eine Erweiterung (»Via Mala maximal«) die Balance zwischen Naturerlebnis und touristischer Nutzung gefährdet hätte. Außerdem wünschte man sich handhabbare Baukosten. Auch die schließlich nötigen 1,4 Mio. CHF ließen sich aber nur bereitstellen, weil der Verkehrsverein Thusis im Zuge der Bündner Tourismusreform in die regionale Organisation Via Mala Tourismus integriert worden war. Für den Besitz und Betrieb der Infrastrukturen in der Schlucht entstand die Viamala Infra Betriebsgenossenschaft, deren Kapitalbasis auch durch Zuwendungen seitens Institutionen, Organisationen und Privatpersonen vergrößert wurde.
Im Winterhalbjahr 2013/14 – in dieser Zeit ist der Abstieg in die Schlucht nicht möglich – wurde anstelle des unscheinbaren und wenig attraktiven Kiosks auf ungefähr derselben Fläche der Neubau realisiert – eine Art mit Satteldach versehenes Urhaus aus hellem Sichtbeton, das der in der Schweiz seit Jahren beliebten Idee monolithischen Bauens folgt. Die Längsseiten zur Schlucht und zur Straße, wo ein Langfenster Einblick gewährt und neugierig macht, sind geschlossen, die Gebäudestirnen dagegen völlig in Glas aufgelöst. Auf der Südseite schließt sich parallel zur Straße eine kleine Terrasse an, von der aus man bei Kaffee den Blick in die Schlucht genießt. Auch sie wirkt mit ihrem Geländer aus dicht gestellten Stahlstaketen und der in die Rückwand eingelassenen Sitzbank nun gestalterisch ambitionierter als ihre Vorgängerin, man könnte auch sagen: »designter«. Die massive Rückwand aus Beton geht auf eine Vorgabe der kantonalen Behörden zwecks Schutz gegen Steinschlag zurück. ›
Defizite der Vermittlung
Das neue Besucherzentrum ist Dreh- und Angelpunkt für den Schluchtbesuch. Man betritt das kleine Gebäude mit seiner Nutzfläche von etwa 40 m² auf der Nordseite, löst am Tresen ein Ticket, führt dieses in das Drehkreuz ein und verlässt das Gebäude ebenfalls auf der Nordseite durch die dem Eingang benachbarte Tür. Eine Treppe führt hinunter in das halb offene UG, das als »Ausstellungsraum« deklariert ist. Auf der einen Seite werden Zitate historischer Besucher projiziert, auf der anderen Seite ein Blick in die Schlucht – was angesichts der Tatsache, dass man gerade im Begriff ist, diese real zu erleben, überflüssig erscheint. Der Weg mündet in die ausgebesserte und erneuerte Wegführung von 1903, und man gelangt nicht nur zu der Felsengalerie, sondern über eine Erweiterung des Wegs aus den 60er Jahren samt Tunnel auch zu den in dieser Zeit entdeckten Strudeltöpfen. Zurück geht es auf der gleichen Route. Diese trennt sich unterhalb des Besucherzentrums, sodass man dieses zum Abschluss betritt, um sich am Tresen noch mit einem Getränk oder einem Plüschsteinbock als Souvenir zu versorgen, oder um sich kurz aufzuwärmen. Zum Temperieren der Luft genügt eine kleine Luftwärmepumpe, deren Auslass im Einbaumöbel integriert ist, zumal das Besucherzentrum in der wetterabhängig gefährlichen Zeit von November bis März geschlossen ist.
Ausgekleidet mit einheimischem Fichtenholz, besitzt das Gebäude eine durchaus angenehme Atmosphäre; markant sind die zylindrischen, mit rotem Stoff bespannten Hängeleuchten, die im roten Mobiliar auf der Terrasse ihre farbliche Entsprechung finden. Der Innenraum ist nicht groß, wirkt wie ein mit Regalen vollgestelltes Wohnzimmer, erinnert aber auch an die Stuben der Bündner Häuser – kleinteilige, holzbekleidete Zimmer, die mitunter in eine massive Mauerwerkshülle eingelassen sind. Allerdings sei die Frage erlaubt, ob nicht alles etwas zu urban, zu perfekt, zu gewollt wirkt; mit anderen Worten: ob das Gebäude das Erlebnis der Schlucht nicht relativiert. Denn Rauheit und Erhabenheit sehen anders aus. Aber Tourismus, so ist entgegenzuhalten, bedeutet stets Domestizierung, und schon zur Zeit der Eröffnung des Schluchtabstiegs war der Blick auf die gefahrvolle Passage romantisch verklärt. Problematischer aber ist, dass das Besucherzentrum so gut wie keine Informationen über die kulturhistorische Bedeutung der Via Mala vermittelt. »Die Schluchtbesucher werden bewusst nicht mit Informationen überhäuft, sondern subtil aufgefordert, das Szenario mit all ihren Sinnen wahrzunehmen.« Der Fokus der von einer Fachgruppe unter Hinzuziehung von Roland Scheurer, einem Fachmann für »touristische Angebotsentwicklung«, konzipierten Inszenierung, liegt auf der »archaischen Natur als Kernwert der Via Mala«. Neben dem kargen Ausstellungsraum findet man verstreut in der Schlucht einige Tafeln mit anekdotischen Geschichtchen, außerdem wird mithilfe eines Faltblatts und entsprechenden Wegmarkierungen über die Entstehung der Schlucht, die Strudeltöpfe, das Hochwasser und anderes informiert. Kulturhistorische, verkehrswirtschaftliche und touristische Aspekte bleiben weitgehend ausgeblendet. Warum sieht man nirgends die Zeichnung, die Goethe 1788 in der Schlucht angefertigt hat, oder die erste bildliche Darstellung von Jan Hackaert aus dem Jahr 1655? Warum erfährt man nichts über die verschiedenen Straßen und Brücken, die sich heute wie in einem historischen Palimpsest überlagern? Und warum gibt es keinen Hinweis auf den Kulturverein Via Mala, der u. a. zwei ganz in der Nähe befindliche ingeniöse Fußgängerbrücken von Jürg Conzett in Auftrag gegeben hat? Nur das Naturerlebnis in Szene zu setzen, ist zu wenig. Das Besucherzentrum wäre der Ort, auch die komplexeren Zusammenhänge zu erläutern. Oben Information, unten Erlebnis.
Wandel des Tourismus'
Als südlicher Endpunkt der Rhätischen Bahn konnte sich Thusis eine neue wirtschaftliche Basis im verstärkt einsetzenden Alpentourismus schaffen; Hotels boten den Reisenden Übernachtungsmöglichkeiten, bevor diese zur Weiterfahrt ins Engadin aufbrachen. Die kurze Blütezeit endete, als 1903 die Albulastrecke in Betrieb genommen wurde und die Besucher ohne Umsteigen von Chur bis nach St. Moritz reisen konnten. Angesichts dieser absehbaren Entwicklung beschloss der Verkehrsverein Thusis, die einst gefürchtete Schlucht, die verkehrlich kaum noch eine Bedeutung besaß, zur Attraktion zu machen. An der engsten und eindrucksvollsten Stelle, nahe der südlichen Wildener-Brücke, wurde ein Treppenabgang angelegt, der zu einer durch den Felsen getriebenen 110 m langen Halbgalerie führte, von der aus sich die durch die Schlucht tosenden Wassermassen bestaunen ließen. Die im Juni 1903 eröffnete Anlage, die von dem später durch seine Lehrgerüste für Brücken bekannten Ingenieur Richard Coray ausgeführt wurde, war anfangs kein großer Erfolg; die Übernachtungszahlen stiegen nur mäßig, und der Erste Weltkrieg ließ den Schweiz-Tourismus kollabieren.
In Schüben wurde die Via Mala-Route in späteren Jahrzehnten ausgebaut: In den 30er Jahren durch neue Straßenbrücken, in den 60ern durch eine völlig neue Trassenführung im Zuge des Ausbaus der Nationalstraßen. Eilige Reisende umfahren den Kernbereich der Via Mala seither in einem 720 m langen Tunnel.
Da der Abstieg in die Via Mala aber seit den 50er Jahren endlich die erwünschten Besucherströme anzog, musste der dortige Kiosk mehrfach erneuert werden: zunächst 1956, dann 1971. 30 Jahre später – die jährlichen Besucherzahlen hatten inzwischen die Grenze von 90 000 überschritten – sollte die Infrastruktur wieder einmal grundlegend erneuert werden. Im Wettbewerb des Jahres 2001/02 konnten sich Bearth & Deplazes mit ihrem Konzept eines turmartig aus der Schlucht herauswachsenden Gebäudes aus Stampfbeton durchsetzen. Doch die für die Realisierung nötige Summe überforderte den seit Anbeginn für die Schluchterschließung zuständigen Verkehrsverein. Das Projekt wurde verschoben, redimensioniert und am Ende ganz eingestellt. Inzwischen sanken die Eintrittszahlen und erreichten mit 50 000 Besuchern einen Tiefststand.
Haus am Abgrund
Für die lokalen Touristiker waren die alarmierenden Zahlen allemal der Grund, die Schlucht durch ein neues Besucherzentrum aufzuwerten. Mit dem in Thusis ansässigen Architekturbüro Iseppi/Kurath, das schon die nahegelegene Autobahn-Raststätte Viamala entworfen hatte, begann man gleichsam von vorne. Zunächst erarbeiteten die Architekten drei Szenarien: das einer Reduzierung, das einer Optimierung und das eines Ausbaus der bestehenden Infrastruktur. Man entschied sich schließlich für den Mittelweg, da eine Erweiterung (»Via Mala maximal«) die Balance zwischen Naturerlebnis und touristischer Nutzung gefährdet hätte. Außerdem wünschte man sich handhabbare Baukosten. Auch die schließlich nötigen 1,4 Mio. CHF ließen sich aber nur bereitstellen, weil der Verkehrsverein Thusis im Zuge der Bündner Tourismusreform in die regionale Organisation Via Mala Tourismus integriert worden war. Für den Besitz und Betrieb der Infrastrukturen in der Schlucht entstand die Viamala Infra Betriebsgenossenschaft, deren Kapitalbasis auch durch Zuwendungen seitens Institutionen, Organisationen und Privatpersonen vergrößert wurde.
Im Winterhalbjahr 2013/14 – in dieser Zeit ist der Abstieg in die Schlucht nicht möglich – wurde anstelle des unscheinbaren und wenig attraktiven Kiosks auf ungefähr derselben Fläche der Neubau realisiert – eine Art mit Satteldach versehenes Urhaus aus hellem Sichtbeton, das der in der Schweiz seit Jahren beliebten Idee monolithischen Bauens folgt. Die Längsseiten zur Schlucht und zur Straße, wo ein Langfenster Einblick gewährt und neugierig macht, sind geschlossen, die Gebäudestirnen dagegen völlig in Glas aufgelöst. Auf der Südseite schließt sich parallel zur Straße eine kleine Terrasse an, von der aus man bei Kaffee den Blick in die Schlucht genießt. Auch sie wirkt mit ihrem Geländer aus dicht gestellten Stahlstaketen und der in die Rückwand eingelassenen Sitzbank nun gestalterisch ambitionierter als ihre Vorgängerin, man könnte auch sagen: »designter«. Die massive Rückwand aus Beton geht auf eine Vorgabe der kantonalen Behörden zwecks Schutz gegen Steinschlag zurück. ›
Defizite der Vermittlung
Das neue Besucherzentrum ist Dreh- und Angelpunkt für den Schluchtbesuch. Man betritt das kleine Gebäude mit seiner Nutzfläche von etwa 40 m² auf der Nordseite, löst am Tresen ein Ticket, führt dieses in das Drehkreuz ein und verlässt das Gebäude ebenfalls auf der Nordseite durch die dem Eingang benachbarte Tür. Eine Treppe führt hinunter in das halb offene UG, das als »Ausstellungsraum« deklariert ist. Auf der einen Seite werden Zitate historischer Besucher projiziert, auf der anderen Seite ein Blick in die Schlucht – was angesichts der Tatsache, dass man gerade im Begriff ist, diese real zu erleben, überflüssig erscheint. Der Weg mündet in die ausgebesserte und erneuerte Wegführung von 1903, und man gelangt nicht nur zu der Felsengalerie, sondern über eine Erweiterung des Wegs aus den 60er Jahren samt Tunnel auch zu den in dieser Zeit entdeckten Strudeltöpfen. Zurück geht es auf der gleichen Route. Diese trennt sich unterhalb des Besucherzentrums, sodass man dieses zum Abschluss betritt, um sich am Tresen noch mit einem Getränk oder einem Plüschsteinbock als Souvenir zu versorgen, oder um sich kurz aufzuwärmen. Zum Temperieren der Luft genügt eine kleine Luftwärmepumpe, deren Auslass im Einbaumöbel integriert ist, zumal das Besucherzentrum in der wetterabhängig gefährlichen Zeit von November bis März geschlossen ist.
Ausgekleidet mit einheimischem Fichtenholz, besitzt das Gebäude eine durchaus angenehme Atmosphäre; markant sind die zylindrischen, mit rotem Stoff bespannten Hängeleuchten, die im roten Mobiliar auf der Terrasse ihre farbliche Entsprechung finden. Der Innenraum ist nicht groß, wirkt wie ein mit Regalen vollgestelltes Wohnzimmer, erinnert aber auch an die Stuben der Bündner Häuser – kleinteilige, holzbekleidete Zimmer, die mitunter in eine massive Mauerwerkshülle eingelassen sind. Allerdings sei die Frage erlaubt, ob nicht alles etwas zu urban, zu perfekt, zu gewollt wirkt; mit anderen Worten: ob das Gebäude das Erlebnis der Schlucht nicht relativiert. Denn Rauheit und Erhabenheit sehen anders aus. Aber Tourismus, so ist entgegenzuhalten, bedeutet stets Domestizierung, und schon zur Zeit der Eröffnung des Schluchtabstiegs war der Blick auf die gefahrvolle Passage romantisch verklärt. Problematischer aber ist, dass das Besucherzentrum so gut wie keine Informationen über die kulturhistorische Bedeutung der Via Mala vermittelt. »Die Schluchtbesucher werden bewusst nicht mit Informationen überhäuft, sondern subtil aufgefordert, das Szenario mit all ihren Sinnen wahrzunehmen.« Der Fokus der von einer Fachgruppe unter Hinzuziehung von Roland Scheurer, einem Fachmann für »touristische Angebotsentwicklung«, konzipierten Inszenierung, liegt auf der »archaischen Natur als Kernwert der Via Mala«. Neben dem kargen Ausstellungsraum findet man verstreut in der Schlucht einige Tafeln mit anekdotischen Geschichtchen, außerdem wird mithilfe eines Faltblatts und entsprechenden Wegmarkierungen über die Entstehung der Schlucht, die Strudeltöpfe, das Hochwasser und anderes informiert. Kulturhistorische, verkehrswirtschaftliche und touristische Aspekte bleiben weitgehend ausgeblendet. Warum sieht man nirgends die Zeichnung, die Goethe 1788 in der Schlucht angefertigt hat, oder die erste bildliche Darstellung von Jan Hackaert aus dem Jahr 1655? Warum erfährt man nichts über die verschiedenen Straßen und Brücken, die sich heute wie in einem historischen Palimpsest überlagern? Und warum gibt es keinen Hinweis auf den Kulturverein Via Mala, der u. a. zwei ganz in der Nähe befindliche ingeniöse Fußgängerbrücken von Jürg Conzett in Auftrag gegeben hat? Nur das Naturerlebnis in Szene zu setzen, ist zu wenig. Das Besucherzentrum wäre der Ort, auch die komplexeren Zusammenhänge zu erläutern. Oben Information, unten Erlebnis.
Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung
Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkel