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Abschied von der Stadt
Spectrum

Die neue Mariahilfer Straße: so weit derzeit absehbar, ein vergleichsweise gelungenes Stück Fußgängerzone. Doch die grundsätzliche Frage bleibt: Wozu überhaupt Fußgängerzone? Erste Wahrnehmungsübungen zwischen Mariahilf und Neubau.

11. Oktober 2014 - Gottfried Pirhofer
Schwellenlos und störungsfrei benutzbar zeigt sich der neue Stadtraum. Die Gehsteigkanten, die ein Stolperstein und im Probelauf vor zwei Jahren je nach Empfinden ein Relikt oder eine Reminiszenz der Straße waren, sind beseitigt. Ich erinnere mich noch gut: Ein Stück der Straße, die vorher eine berühmte, lang gezogene Stadtstraße war, in der Fußgänger, Radfahrer, Autoinsassen, dicht und langsam sich schoben oder „flanierten“, war abgesperrt, stillgelegt, still und breit wie eine Gasse im Cottage, aber in größerem Format. Es war, je nach Stimmung ein Störfall, eine Besetzung, ein Fest, ein Abschied von der Stadt. Auf dem Asphalt lagen junge Leute auf Decken und zelebrierten mit Thermoskannen, Papptellern und Plastikbesteck die Befreiung von den Zwängen der Straße. Musik aus Boxen ersetzte das Stadtgeräusch. Nach Erregungen, Kontroversen, Polemiken, zugeschnittenem Abstimmungsverfahren wurde das Projekt real, wie es immer ein Wunder ist, wenn nach endlosen Debatten die Bauarbeiter mit ihren schweren Geräten aufmarschieren: ein überdurchschnittlich gelungenes Stück FUZO, dem ersten Augenschein nach weniger die Stadtraumästhetik ruinierend als anderswo.

Das transformierte Stück Straße, die immer schon eine der breitesten war, ist in der Wahrnehmung noch einmal breiter geworden. Nicht nur wegen des Ausschlusses der Autofahrer und des Busses, der Abschaffung des Fahrradstreifens und der Gehsteigkante, sondern auch wegen des Bodenbelags, der im Verhältnis zur großen Fläche kleinteilig gemustert ist. Nicht unähnlich den Oberflächen der historistischen Fassaden, nicht banal-protzig-brav (dass man nur nichts falsch macht) wie bei der Neubelegung der FUZO Kärntner Straße, der man den Rest der Pflastersteine entfernte, die einmal so wienerisch waren, aber sich für Stöckelschuhe nicht eignen. Hier flirrt es, bei bestimmtem Wetter, wie ein Mosaik aus dem Süden. Dem Oberflächendesign ist der Spagat gelungen, billiger als in der Kärntner Straße, aber nicht schäbiger zu sein. Bewirkt vom Recycling alter Platten und der Freigabe des Layouts an die Pflasterer, wie man sie früher nannte.

Die grotesk überdimensionierten Masten der ehemaligen Mariahilfer Straße wirken jetzt weniger penetrant als die Kulissen der Beleuchtungskörper in der ehemaligen Kärntner Straße. Die FUZO und ihr Bodenbelag zeigen die Sockelzonen der Geschäftshäuser weniger schäbig; als ich sie (im Vergleich mit Kärntner Straße/Kohlmarkt/Graben) früher empfand. Der neue Bodenbelag bewirkt eine Aufhellung, und man könnte daraus lernen, alle 20 Jahre die Stadtstraßen Wiens von Grund auf zu reinigen, gesponsert von Kärcher. Man könnte sich, speziell bei Sonnenuntergang, der für die Mariahilfer Straße immer schon wie ein Naturwunder war, die main street für einen Wiener Western denken, ein erinnerungswürdiger Showdown. Die Raumerinnerung ist schwach und die Macht der Gewohnheit schafft an. Wer erinnert sich noch, wenn er durch die Segmente der ehemaligen Straße geht – Begegnungszone, Fußgängerzone, Begegnungszone –, dass der Historismus neu dimensionierte Stadtstraßen und in diesen Prototypen, Sequenzen, Serien (Bänke, Pissoirs, Kioske, Beleuchtungskörper, Otto Wagners Stadtbahnkreuze) schuf; dass die Stadt in der Ästhetik und der Benutzung durchgängig war; dass das 19. und frühe 20. Jahrhundert das noch nachwirkende Bild der Großstadt schufen. Wer zieht daraus Schlüsse (die Konsequenzen kämen dann), dass heutzutage der öffentliche Raum, im Gegensatz zum vorgeblichen Liberalismus, der dennoch wirklich (und) geschichtsmächtig ist, in komplizierter Weise unterteilt, zoniert, zerniert wird.

Die „Zone“ – ursprünglich dem Militär vorbehalten – hat sich „zivilisatorisch“ ausgebreitet und ausdifferenziert. Wir leben in und zwischen Raucherzonen, Graffitierlaubniszonen, Parkraumbewirtschaftungszonen, Bezirksparkerzonen, Ladezonen, Tempo-30-Zonen, Entwicklungszonen, Demonstrationsverbotszonen, Straßenstricherlaubniszonen, Schutzzonen, Grillzonen, Fußgängerzonen, Begegnungszonen, Straßenmusikantenzonen, Gratis-WLAN-Zonen. In der chinesischen Millionenstadt Chongqing wurde ein Gehweg ausschließlich für Handynutzer eröffnet. „Wie Fahrräder und konventionelle Fußgänger mit eigenen Wegen voreinander geschützt werden, sollen sich auch Leute, die unterwegs auf ihr Smartphone starren, zum eigenen Schutz vom Rest abgesondert fortbewegen. Markierungen auf dem Boden wie Pfeile mit der Laufrichtung helfen beim Vorankommen mit gesenktem Blick.“ (Spiegel Online) Laut einer Untersuchung der Ohio State University wurden 2008 mehr als 1000 Personen in die Notaufnahme eingeliefert, weil sie stolperten, fielen oder mit Hindernissen kollidierten, während sie ihr Handy benutzten. In London rüstete die Organisation „Living Street“ zum „Schutz der Fußgänger mit Handy-Ablenkung“ Laternenpfähle mit Polstern auf. Das Gratis-WLAN in der FUZO ist ein Geschenk mit Folgen.
Ich weiß großartige Texte, Bilder, Filme von Stadtstraßen (unter den vielen die Via Veneto in Fellinis „La Dolce Vita“), aber kein einziges hochkulturell oder subkulturell interessantes Sujet einer FUZO. Zwar gibt es jene komischen Hollywoodfilme, in denen sich Verfolgungsjagden abspielen und Autos oder Motorräder durch Auslagenscheiben preschen, und ein Teil wird in FUZOs gedreht worden sein, weil man dort weniger absperren muss. Dieser kommerzielle Anarchismus Hollywoods im ordnungsstaatlich befriedeten Liberalismus weist, würde vielleicht Adorno meinen, im Rahmen des beschädigten Lebens (der Stadt) auf ein legitimes (?) Zerstörungspotenzial: hintergründiger als Ulrich Seidls Penetrierung des Kellers und als krachender Hinweis darauf, dass es an der Zeit wäre, sich mit dem Massenphänomen FUZO auseinanderzusetzen.

Darling ich bin in der FUZO, in der chinese box des Massenkonsums, zusammen mit einer Klientel vom „Land“, die sich in die Stadt wagt, mit Touristen, die vom Sightseeing müde sind, mit vom Land in die Stadt Gespülten, die von den Dörfern träumen, mit jenen, die ein Penthouse auf dem Dach erobert haben und mit ihren SUVs aus der Hausgarage zur nächstgelegenen Autobahnauffahrt brettern. Wenn sie in der Stadt sind, die sich nicht fürs Brettern eignet (was seit Langem die Schwachstelle der Mariahilfer Straße war), bevorzugen sie die FUZO. Dort kann sie kein anderes Auto überholen, und sie fühlen sich „mediterran“. Sie lassen sich Zeit und entspannen nach dem Slow Food. Die „Scripts“ überschneiden sich, entlang derer die Subjekte agieren, und sie und wir alle sind in der FUZO, und es ist vergeben und vergessen, dass die Vorkämpfer des FUZO-Projekts die Skeptischen und Offen-Kritischen als Zurückgebliebene abtaten.

Die FUZO ist ein Teil der Wahrheit der zonierten Stadt. In der Stadt der Geschichtsverdrängung und der Entmischung/Gentrifizierung (des Ausverkaufs des Öffentlichen an das Geld, hätte man früher gesagt) treibt sie die Differenzierung/Polarisierung des finanziellen, sozialen und symbolischen Kapitals weiter. Während anderswo der motorisierte Verkehr sich multipliziert, in Wien die „Tangente“ die mitteleuropäische Magistrale und die „Ausfallstraßen“ häufig ein Ausfallfall sind, errichtet sich die FUZO als Geh- und Ruhezone. Dass Zonen ausschließen, ist deren Bestimmung. Auch die Stadtstraße war und umfasste nicht alles, aber sie behauptete nicht den schönen neuen Stadtkonsum für alle, sondern enthielt (und zeigte!) einen Rest des Reichs des Notwendigen, der Arbeit, des Transports (in gewisser Weise für die ganze Stadt).
Der Mythos der FUZO schließt dies aus, verwandelt die notwendig vorhergegangene Arbeit in Freizeitkonsum. Zwar sind ein paar um ihr Leben Arbeitende, Straßenmusikanten und Bettler zu sehen, überwacht und kontingentiert bis zum nächsten Erlass (wie die Straßenprostitution in Zonen, die woanders sind), aber man geht an ihnen vorbei oder über sie hinweg, diesen Gadgets des Amüsements. Es ist nicht ohne Weiteres zu sehen, dass die schöne neue Innenstadt vorrangig von jungen Mittelschichtlern aus liberalen Milieus (keine Ahnung, woher der Großteil sein Geld hat, wenn nicht von den Eltern) belebt und auf Trab gehalten wird. Frühstück bis 16 Uhr. Der Mythos der FUZO, die so viele lieben, überdeckt die Selektion. Der Mythos umfasst alle, die zwei Beine haben, und ist für den Rollstuhl schwellenlos, und wenn es jemand dorthin nicht schafft, hat es andere Gründe.

In den vergangenen Monaten sind in und an der Mariahilfer Straße verschwunden (unvollständige Aufzählung): ein Libro (der letzte Nahversorger für einfache und billige Büromaterialien); die Bar Italia; der Slama; ein Wiener Herrenmodegeschäft, dessen Name mir nicht einfällt; demnächst schließt das Klavierhaus Reisinger; das kleine Wettgeschäft hält sich. Da Nespresso einzieht, deutet sich an, dass die FUZO eine gehobene Variante der immergleichen FUZO-Ketten in allen Großstädten der Welt wird. Was der Beruhigung der globalen Konsumenten in der Allgegenwärtigkeit des immergleichen Konsums dient.

Ich fühle mich in einem Stadtraum nicht angeödet, wenn er einen Rest von Differenz (die schwache Form des „anderen“) enthält. Die Mariahilfer Straße wurde groß und bedeutend, als sie vor Jahrhunderten eine Poststraße wurde, was einen hochrangigen Kommunikationsweg bedeutete. Jetzt ist sie eine zonierte Post-Straße.

Die Stadtgrünen haben es geschafft, den Dirigismus, der ihnen anlastet, in ein Symbolprojekt der neuen Stadtfreiheit umzumünzen, in der der Individualismus, der Platz greift (und braucht), mit dem Neoliberalismus (der Befreiung vom Zebrastreifen, diesem obrigkeitsstaatlichen Relikt, auf dem die Beatles gingen, auf dem berühmten Abbey-Road-Cover) und dem „Ökologischen“ sich paart, denn Gehen ist ökologischer als Fahren und daher gut, und alles andere ist schlecht, und selbst die Radfahrer sind bereit, ihr Gerät durch die FUZO zu schieben.

Der Drang zur FUZO kam unterschwellig von den Kunden der Stadtpolitik und der Stadtverwaltung, die von dieser nicht mehr als Bürger, sondern als Konsumenten begriffen werden, das schreibt der globale Kapitalismus dem new public management vor. Und wenn früher Stadtluft frei machte und Straßen, Plätze, Parks (außen die Gstettn) die besonderen Orte der öffentlichen Freiheit waren (in Städten wie Peking, Kairo, Teheran, Istanbul, Madrid, Athen es immer noch sind und immer wieder werden), ist in den kommerziell „gesättigten“ Gesellschaften das neue Ding die FUZO. Tatsächlich enthält sie ein doppeltes Versprechen: man kann besser konsumieren, aber muss es nicht.
Es war die Enge der alten Straße, obwohl sie breit war, dass es für die Gesellschaft, die immer mehr Platz braucht, nicht mehr ging. Das hat mehrere Facetten. Erstens brauchen die Körper mehr Raum: die Jogger, die Handybenutzer (häufig mit ausgefahrenen Ellbogen), die Babys in den X-Large-Kinderwagen wie kleine SUVs, die Transporteure der Rollkoffer, die Fettleibigen und so weiter. Zweitens werden die Waren, die man abschleppt, trotz der Tendenz zur Miniaturisierung wegen ihrer Menge raumgreifender. Drittens – vor allem – steigen die Empfindlichkeiten.

Ein Raucher in einem Abstand von zwei Metern ist eine Bedrohung, eine Bank, die für zwei ist (wegen der Sandler knapp bemessen), wird mit Vorliebe von einem Gegenstand als Abstandhalter besetzt, auf den Sesselliften werden trotz Warteschlangen die Mehrzahl der Plätze nicht benutzt, im Railjet liegen mehr Gegenstände als Abstandhalter auf den Plätzen, als Fahrgäste sitzen, in den Flugzeugen finden Platz- und Luftraumkämpfe statt, der Trend zu den Luftabzügen in den Küchen und zum Singlewohnen ist ungebrochen. Wir haben nicht die Kultur der kleinen weißen Masken, mit denen Japaner den Abstand signalisieren.

Die Stadtgrünen haben begriffen, dass sich mit den schmalen Zuschnitten der Bürgersteige, die in der Gründerzeit und dann in den Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts verbreitert wurden, die Vielzahl und Multiplikation der Distinktionsbedürfnisse (auch so ein Wort: früher sagte man Unverträglichkeiten, Neurosen, Allergien) nicht mehr ausging. Und wenn, laut Aussagen von Mittelschichtjugendlichen, ein Teil der Fahrgäste trotz Klimatisierung in der U-Bahn unerträglich stinkt, ist es wie die Wiederkehr der antiurbanen „schaurigen Bilder“, in denen die Stadt eine große Kloake war. Der Hygienediskurs ist nicht so unschuldig, wie er scheint.

Ein Querdenken der FUZO ist aussichtslos und betrifft nicht nur die gekappten Querungslinien, die – unökologische – Umwege der Autofahrer (schlecht) bedingen, im Netz, das die Stadt einmal war. Auch das Entlang-gehen fällt mir nicht selbstverständlich leicht, wie es sollte. Gehen war einmal der selbstverständlichste Akt, aus dem der Gang der Geschichte der Menschheit hervorgegangen ist, weder gut noch schlecht, und jetzt soll Gehen etwas Besonderes und besonders Gutes geworden sein. Gehen in einer Zone, abgeschnitten, beleuchtet, ein bisschen privilegiert, diskret überwacht. Jetzt hat sie endlich mehr Platz und Ruhe, die „Gesellschaft des organisierten Konsums“ (Henry Lefevbre). Der Schwachpunkt ist, dass man in der FUZO nicht liegen darf.

Die Schaufenster, die tatsächlich raffinierter werden, tun ihr Bestes, zeigen einen winzigen Ausschnitt der „ungeheuren Warensammlung“ (Karl Marx) und spiegeln zurück, was draußen schlendert. Es verbreitet sich die narzisstische Kontemplation, die vormals der fließende Verkehr beschränkte. Und es sind tatsächlich nicht alle Kunden der Geschäfte, ein zunehmender Teil sind Informanten (Spione hätte man früher gesagt, Scouts später). Sie erkundigen sich in aller Ruhe, im Ambiente der analogen Wirklichkeit, und kaufen dann bei Amazon, Ebay, Zalando, Rakuten, Alibaba.

Je mehr sich die FUZO der FUZO angleicht und die letzten speziellen Wiener Geschäfte verschwinden, desto schutzloser gegen den boomenden e-Kommerz wird sie sein. Und mancher mag sich die Autokundschaft aus den äußeren Shopping-Cities als Restposten wieder herbeiwünschen. Eher geht der Weg in Richtung einer (zonierten) Residenzia (bei diesem Nachfragedruck in Wien, dessen berühmte Lebensqualität und Sicherheit eine „urban orientierte“, kaufkräftige Klientel anzieht), als in ein Freizeitparadies für alle. Vorläufig ergibt sich das Bild einer, mit öffentlichen Mitteln ausstaffierten Etappe in der Entwicklung des Kapitals, das – noch immer ein wenig territorial – in die nächste Spirale eintritt.

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