Artikel

Umpflügen, aufwerten, positionieren
TEC21

Grell ist das Licht, das seit einigen Jahren auf Zürich fällt. Zwar verrät das museale Stadtzentrum mit seinem sterilen öffentlichen Raum nichts von einem Bauboom, doch an seinen Rändern spielte und spielt sich ein Umbauprozess mit verschiedenartigen Drehbüchern ab.

12. Oktober 2014 - André Bideau
Zürich gehört zu den Städten, deren Ränder, was Gegenwartsarchitektur und städtebauliche Entwicklungen angeht, unendlich interessanter sind als ihre saturierte Innenstadt. Sieht man vom 2014 wiedereröffneten Sechseläutenplatz ab, bleiben die Veränderungen im musealisierten Zentrum bescheiden. Der momentan in der Altstadt aufgestellte Hafenkran – ein Veteran aus dem real existierenden DDR-Sozialismus der Ostseestadt Rostock – hat als Kunstaktion unfreiwillig den Charakter einer pädagogischen Lockerungsübung (vgl. Abb. S. 27). Umso erstaunlicher ist, was der Sechse­läutenplatz als leere, richtungsneutral begehbare Fläche zwischen Bellevue und Opernhaus leistet. Denn im Allgemeinen tut sich Zürich mit der Ausrüstung seines öffentlichen Raums schwer. Auf der parallel zum Sechseläutenplatz sanierten Bahnhofstrasse erwecken neue Beleuchtungskandelaber und Sitzbänke den Eindruck, als wollte man den in regelmässigen Abständen ausgeraubten Uhrengeschäften ein Gefühl der Sicherheit vermitteln. Massiv und trostlos, scheint diese Gestaltung um jeden Preis den Eindruck eines modischen Strassenmobiliars vermeiden zu wollen. Im Gegensatz zum Sechseläutenplatz, den ein Belag aus Valser Granit und zwei zeitgeistige Pavillons veredeln, triumphieren auf der internationalen Luxusmeile die Tiefbauingenieure.

«Modellhafte Gestaltung eines Konflikts»

Bereits 1973 warfen Bruno Reichlin und Fabio Reinhart ihren Blick auf das obere Ende der Bahnhofstrasse. An der Bruchstelle zwischen Boulevard und Quaianlagen stellten sie die Frage nach dem Gesicht der Stadt.

Reichlin und Reinhart waren damals Assistenten an der ETH Zürich bei Aldo Rossi und von diesem eingeladen worden, einen Beitrag zur 15. Mailänder Triennale zu verfassen. Im Sinn einer Entwurfshypothese wählten sie einen betont szenografischen Zugang, der die für diesen Ort zu früheren Zeitpunkten gedachten architektonischen Ideen vergegenwärtigte. Zur Grossform radikalisiert, wurde diese Geschichte in den Zürichsee hinaus projiziert (vgl. Abb. S. 26). Mit Ingredienzen, die von Klassizismus über Gründerzeit bis hin zu den funktionalistischen Ideen des Stadtplaners Ludwig Hilberseimer reichen, erschlossen Reichlin und Reinhart einen ideengeschichtlichen Raum, der nicht nur im Sinn der città analoga, sondern auch als Widerstand gegen die städtebauliche Praxis zu verstehen war. Ihr thesenhaftes Projekt für die Seefront steckte sowohl räumlich als auch historisch einen Pol ab: Auf Wachstum fixiert, betrieb Zürich damals noch Raubbau am 19. Jahrhundert und betrachtete dessen Bausubstanz als vogelfrei (Vertreter des Historismus wie Hauptbahnhof, Opern- und Schauspielhaus standen zur Disposition).

Die Verfasser präsentierten ihren Entwurf 1973 in der jungen Zeitschrift «archithese»[2]. Der Beitrag mit dem Titel «Die Historie als Teil der Architekturtheorie» plädierte für einen «Diskurs über das Bild der Stadt», aber auch für die «modellhafte Gestaltung eines Konflikts, der zusammen mit der kapitalistischen Stadt entstanden ist». Seither haben sich Zürichs Deindus­trialisierung sowie seine Transformation zu einer – wenn auch überschaubaren – Global City abgespielt. Besonders in den 1970er- und 1980er-Jahren von heftigen Diskussionen begleitet, hat sich dieser Prozess auch auf die von architektonischen Bildern transportierten Inhalte ausgewirkt. Heute sind vergleichbare Spannungen entschärft.

Was 1973 der «unfertige» Abschluss der Innenstadt zum See war, wurde in den 1990er-Jahren das brachliegende Industriequartier. Insofern nahmen Reichlin und Reinhart eine in der Zwischenzeit erfolgte Umpolung vorweg, als sie mit architektonisch-städtebaulichen Setzungen die Gewichte in der Stadt neu verteilten. Allerdings ist diese Transformation weniger das Ergebnis von planerischen Entscheiden, öffent­lichen Debatten oder gar von Visionen. Sie ist vielmehr geprägt von komplexen Aushandlungsprozessen, in denen unterschiedliche Akteure mit zahllosen Variablen konfrontiert wurden. So ging die neue Auslegeordnung in der Stadtentwicklung mit einem eigentlichen Lernprozess der Behörden einher. Von diesem Strukturwandel und dem Weg zu einer neuen urban governance soll hier unter anderem die Rede sein.

Grossinvestoren im Hinterhof

Maag, Toni, Escher Wyss, Löwenbräu, Steinfels, Schoel­ler: Dies sind die Namen von Arealen, die, höchstens zwei Kilometer Luftlinie voneinander entfernt, das Industriequartier aufspannen – genauer, dessen äussere Zone, die heute als Zürich-West bezeichnet wird. Noch 1990 waren die brachliegenden Industrieareale nörd-lich und westlich des Zentrums verbotene Städte, für die zuerst ein dynamisches – und investorenfreund­liches – Image modelliert werden musste. In der Rezession der 1990er-Jahre kaum vorhersehbar, nähert sich dieser historische Prozess inzwischen seinem Ende. Das ehemalige Herz der schweizerischen Maschinen- und Lebensmittelindustrie ist ein Lehrbeispiel für die postmoderne Beziehung von Kapital zu Raum, für die der US-amerikanische Sozialtheoretiker David Harvey den Begriff der flexiblen Akkumulation2 geprägt hat.

Wenn in Zürich eine Aufgabe als Herausforderung der vergangenen Jahrzehnte bezeichnet werden kann, war es die Öffnung und Aufbereitung von grossen Industriekomplexen für private Planungsvorhaben.

Die öffentliche Hand hatte hier auf dramatische öko­nomische Veränderungen zu reagieren, wollte sie nicht in Schockstarre verfallen und eine monumentale Landschaft urbaner Brachflächen lediglich verwalten. Man könnte einwenden, dass die Stadtplanung seither zwar ideale Bedingungen für die Architekturproduk­tion geschaffen, bei der Formulierung eines urbanen Programms jedoch taktische Zurückhaltung geübt hat. Trotz der einmaligen Situation blieb die Rolle der Stadt oftmals nur eine moderierende. Dies hing nicht zuletzt mit dem Neuland zusammen, das betreten ­wurde, um Grossinvestoren in den urbanen Hinterhof zu locken. Dort, wo zuvor Zahnräder gestanzt, Lokomotiven, Schiffsmotoren und Kraftwerksturbinen gebaut, Bierflaschen und Joghurtgläser befüllt wurden, befinden sich heute Kunstgalerien, Theater, seit Kurzem auch die Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) (vgl. TEC21 39/2014).

Im Toni-Areal, in das die ZHdK eingezogen ist, verpuppt sich zum ersten Mal ein Areal zu einem einzigen Gebäude. Nach Plänen von EM2N umgebaut, ist das Gerippe der ehemaligen Joghurtfabrik zugleich auch ­Renditemaschine für die hier federführende Totalunternehmung Allreal. In einer Aufstockung entstanden Mietwohnungen, die den Luftraum über der Schule im Sinn des air rights development noch profitabler machen. Der Strukturwandel hat sich in diesem Fall unmittelbar auf die Rollenverteilung ausgewirkt – die Hochschule ist im Komplex bloss Mieterin.

Nachindustrielle Verwertungslogik

Wie das Beispiel ZHdK zeigt, sind Kreativwirtschaft und Hochkultur die Attraktoren in einem Immobilienmix, den zu steuern und zu stimulieren von Politik und Stadtplanung ein neuartiges Sensorium verlangt. Dabei verändern sich auch die von Architekten transportierten Bilder sowie deren Adressaten.

Entscheidend für die Metamorphose des Industriequartiers waren die 1990er-Jahre, als Rezession und planungsrechtliche Unsicherheiten zu Verzögerungen führten. Zwischennutzungen der Party- und Kunstszene gentrifizierten einen Stadtteil, der damals gerade seine Traumatisierung durch die offene Drogenszene in den Griff bekommen hatte. Es war die Zeit, in der die Kreativbranche – darunter die Mehrheit der heute tonangebenden Architekturbüros – diese Gegend für sich entdeckte. Als Antwort auf die puritanisch restriktiven Zürcher Gastgewerbegesetze und im Sog der Technowelle blühte ab Mitte der 1990er-Jahre eine informelle Clubkultur in den stillgelegten Fabrikationsräumen des Steinfels- und Toni-Areals. Auf dem Fundament dieser Untergrund-Partykultur etablierte sich später der durchkommerzialisierte Betrieb, der das heutige ­Zürich-West an den Wochenenden prägt.

Analog zur Revolution im Nachtleben lässt sich im gleichen Zeitraum die Ökonomisierung des Kunstmarkts betrachten. Wie die Clubs nomadisierten Galerien und Ausstellungslokale für zeitgenössische Kunst durch verschiedene Adressen im Industriequartier, bevor es im Löwenbräu-Areal zum eigentlichen Wendepunkt kam: Auf dem Gelände der ehemaligen Brauerei löste Zürich Basel als Zentrum des Kunsthandels ab. Anfänglich ein überaus erfolgreiches Provisorium, ­mutierte das Löwenbräu-Areal in den 1990er-Jahren zu einem Zentrum des internationalen Kunstmarkts mitsamt Kunsthalle. Anstelle eines Abrisses wurde der weitläufige Komplex bis 2012 um Luxuswohnungen und Dienstleistungsflächen ergänzt (Architektur: ARGE ­Gigon/Guyer, atelier ww). In der nun aufgestockten Backsteinhülle der Brauerei ist die industrielle Vergangenheit des Orts in einem Schwebezustand eingefroren.

Unter anderen Vorzeichen manifestierte sich die nachindustrielle Verwertungslogik beim Maag-­Areal. Die Architekten, auch hier Gigon/Guyer, arbeiteten auf der Tabula rasa einer einstigen Maschinen­fabrik. Ihr Prime Tower (vgl. TEC21 45/2011) steht unmittelbar an der Hardbrücke, einer innerstädtischen Expressstrasse, und fordert als grün schimmernder Gegenpol die Innenstadt heraus. Das Grundstück zu seinen Füssen ist in eine neue, bildergestützte Ökonomie eingespeist worden – analog zu den Lastwagen-Blachen, die hier bis vor Kurzem zu Freitag-Taschen verarbeitet wurden. Im einzigen erhaltenen historischen Fabri­kationsgebäude auf dem Maag-Areal sind zwei Kunstgalerien eingezogen – Komplizen des Strukturwandels, Garanten von kulturellem Kapital? Zeitgenössische Kunst, über die sich Authentizität, Zeichen und Werte reflektieren lassen?

Neue Akteure, Instrumente und Räume

Will man die Rahmenbedingungen verstehen, die die städtische Politik ihre Inhalte umformulieren liess, sind gewisse personelle Wechsel in Zürich aufschlussreich. Entscheidend war hier das Jahr 1998: Als der blairistische Elmar Ledergerber die seit 1986 amtierende Baustadträtin Ursula Koch ablöste, richtete sich die sozial­demokratische Politik neu aus. Der vier Jahre später zum Stadtpräsidenten avancierende Ledergerber zeigte umgehend einen Hang zur angelsächsisch geprägten urban governance. Diese misst ihren Erfolg daran, ­Investoren, Arbeitsplätze und Steuerzahler an physische Orte zu binden.

Das neue Klima ab 1998 führte für Zürich-West zu einem Drehbuch, das nicht nur den ökonomischen Wert von Zwischennutzungen erkannte, sondern mit kooperativen Entwicklungsplanungen dem zunehmend unberechenbaren Markt Rechnung trug. Ursula Koch, die das Thema Deindustrialisierung früh erkannte und inhaltlich zu besetzen verstand, hatte die Thematik ins Zentrum einer Politik gestellt, die als Angriff auf die Hegemonie des zürcherischen Wirtschaftsfreisinns galt.

Unter dirigistischen Vorzeichen setzten Koch und ihre Planer bei der Umnutzung des ehemaligen Areals der MFO in Zürich Oerlikon auf einen morphologisch starren, zwischen Stadt und Grundeigentümern ausgehandelten Gestaltungsplan mit homogenen Gebäudekubaturen und Pocket Parks. Dabei führte die von der Stadt auf je ein Drittel Industrie, Dienstleistung und Wohnen durchgesetzte Nutzungsverteilung zu Kontroversen, die sich im Lauf der Immobilienkrise noch verstärkten. Demgegenüber wurden in Zürich-West unter Ledergerber die Industrieareale rascher als in Zürich Oerlikon für Investitionen geöffnet, worauf bei gänzlich anderen Konstellationen eine Entwicklung von überraschender Geschwindigkeit einsetzte.

Bei der Stadtplanung, bei Investoren sowie bei den am Stadtumbau beteiligten Architekten fand ein unübersehbarer Personalwechsel statt. Dies war der Moment, in dem Büros wie Gigon/Guyer, Diener & Diener und Meili, Peter in einen bis anhin von routinierten Architekturfirmen kontrollierten Markt eindrangen. Mit ­ihrer Arbeit auf den miteinander verbundenen Maag- und Coop-Arealen, dem mit einer Fläche von 110 000 m² grössten zusammenhängenden Industrieareal von Zürich-West, verhalfen sie einem virtuellen Stadtteil zu Signaturen, wie sie in Neu-Oerlikon noch gefehlt hatten.

Auch auf dem Immobiliensektor brachte der Strukturwandel neue Akteure hervor: Allreal, Swiss Property und Swiss Prime Site entstanden als Unternehmen aus abgewickelten oder transformierten Indus­triekonzernen. Mit den Rochaden kam eine neuartige Form von Kabinettspolitik auf, bei der sich die Rolle der Stadt veränderte. Unter dem ebenfalls neuen Direktor Franz Eberhard begann das Amt für Städtebau, unzählige Workshops und Testplanungen mit Grundeigen­tümern und Investoren durchzuführen. Im Gegensatz zu den 1980er-Jahren, als noch die Dienstleistungsbranche den Takt vorgegeben hatte, war in Zürich-West nicht mehr Büro-, sondern Wohnungsbau das einträgliche Geschäft. Dass der neue Stadtteil in der lebhaften Entwicklung des gemeinnützigen Wohnungsbaus aber keine wesentliche Rolle übernommen hat, liegt an den dortigen Bodenbesitzverhältnissen bzw. am Spiel der von der Stadt orchestrierten Marktkräfte. Wegen seiner hohen Investitionskosten blieb der Wohnungsbau im Industriequartier auf ein bestimmtes Publikum beschränkt. Anders als die Mischrechnungen, die etwa angelsächsischen Developern vorgeschrieben sind, existieren in Zürich keine Auflagen dazu, erschwinglichen Wohnraum im privaten Wohnungsbau zu schaffen.

Aufgrund der weitgehenden Privatisierung des Landes entstand ein Archipel von in sich autarken Wohnwelten, das indirekt die Abgeschlossenheit der früheren Industrieareale reproduziert. Zürich-West präsentiert sich heute im Gegensatz zum städtebaulich homogener organisierten Neu-Oerlikon als Objektstadt mit lose eingestreuten Plätzen. Städtebauliche Figuren wurden – wenn überhaupt – zu einem möglichst späten Zeitpunkt festgelegt. Rings um den Prime Tower und in den benachbarten Arealen räumte man sukzessiv das Gros der Bausubstanz aus und ersetzte es durch grossmassstäbliche Volumetrien und Aussenräume. Von der eigentlichen Industrievergangenheit blieb wenig übrig ausser hie und da einer Baulinie, einem Nebengebäude, einem mit historischen Versatzstücken be­völkerten Platz oder einer zur Mall aufwendig konver­tierten Montagehalle mit stillgelegter Kranbahn als Vintage-Fetisch.

Diesen «Mittelpunkt unkonventioneller Inszenierungen und Aktivitäten» preisen die Betreiber des Einkaufszentrums Puls 5 als «gedeckten Dorf- und Marktplatz des Trendquartiers Züri-West», der als «imposante Eventhalle» genutzt werden könne. Die Einverleibung der Giessereihalle basierte allerdings weniger auf dem freien Willen der Bauherrschaft, sondern ist vielmehr auf Auflagen der städtischen Denkmalpflege zurückzuführen. Einen Vorläufer bildet hier die Schiffbauhalle der Maschinenfabrik Escher Wyss. Dieses ebenfalls geschützte Relikt integrierten Ortner & Ortner in das neue Werkzentrum des Zürcher Schauspielhauses, dessen Bau 1996–2000 es zum eigentlichen Pionier des späteren Zürich-West werden liess. In der weiteren Entwicklung des Stadtteils zeigte sich jedoch, dass die Aufgabe der Adressbildung nicht dem Industrieerbe, sondern den Wohnhochhäusern zukommen würde.

Monokultur an der Peripherie

Dem von Roger Diener mit Elisabeth und Martin Boesch stammenden Gestaltungsplan für das kombinierte Maag- und Coop-Areal (2001) gelang es dennoch, mit übergeordneten morphologischen Beziehungen lokale Zusammenhänge zu definieren. Trotz unterschiedlicher Materialisierungen und Handschriften entstand zwischen den drei polygonalen Hochhäusern von Prime Tower, Mobimo Tower und Zölly eine geometrische Korrespondenz, die von grossen Hofräumen ergänzt wird. Wie in Neu-Oerlikon liegt die grosse Herausforderung in den Erdgeschossen, aus deren Nutzung sich Zürich-West bislang wenig Aktivierung erhoffen kann.

Schon heute präsentiert Zürich-West eine Skyline mit Hochhäusern, die auf das gehobene Wohneigentum ­ausgerichtet sind. Absehbar ist darum eine gewisse Monokultur, wenn 2015 die letzten Bewohner auf dem Maag-Areal einziehen. Im Zeitraffertempo wurden ­entsprechende Vorhaben seit 2010 realisiert: Mobimo Tower (Diener & Diener, 2011), Hard Turm Park (Gmür & Gschwentener, 2013), Escher-Terrassen (E2A Architekten, 2014), Löwenbräu-Areal (Gigon/Guyer, 2012), Zölly (Meili, Peter, 2014). Diese Architekturen verzichten auf den Anschein von Wohnlichkeit; ihre anonyme Grossmassstäblichkeit unterscheidet sich auf den ­ersten Blick nur wenig von Büro- und Hotelbauten (im Fall von Mobimo Tower und Hard Turm Park überlagern sich Wohn- und Hotelnutzungen sogar vertikal). ­Metro­politane Referenzen aus der Mitte des 20. Jahrhunderts – Auguste Perret bei Meili, Peter; Asnago & Vender bei Diener & Diener – evozieren hier die Urbanität, mit der die Deutschschweizer Architektur seit der Post­moderne operiert. Wenn es für die hiesige Szene ein verbindendes und zugleich konzeptionell tonangebendes Thema gibt, dann ist dies der Wohnungsbau. Hinsichtlich der beteiligten Büros spielen sich zwei Filme ab: Der jüngste Bauboom befasst sich entweder mit gemeinnützigen Vorhaben oder mit Projekten im Luxussegment. Diese Polarisierung ist auch eine Folge der starken lokalen Tradition des gemeinnützigen Wohnungsbaus, die in den letzten 15 Jahren eine Aktualisierung erfahren hat. So befindet sich über ein Drittel des Zürcher ­Wohnungsbestands trotz einer unerbittlichen Immo­bilienlogik nicht auf dem freien Markt. Wohnungs­bauvorhaben werden von der Stadt und den Genossenschaften weiterhin angestossen. Diesen Trend haben Volksinitiativen, legislative Vorstösse sowie die Gründung von innovativen Wohnbaugenossenschaften wie Kraftwerk, Kalkbreite, Mehr als Wohnen zusätzlich verstärkt (vgl. TEC21, Reihe Dichte 2013 sowie TEC21 26–27/2014).

Für die seit 1990 regierende rot-grüne Exeku­tive war es ein erklärtes Ziel, den Anteil des gemeinnützigen Wohnens zu erhöhen. Mangels Auflagen an Private geschah dies seither unmittelbar über die Liegenschaftspolitik sowie indirekt über bodenrechtliche Strategien. 1998, zu Beginn der aktivistischen Ära Ledergerber, formulierte der Stadtrat sein Legislaturziel «10 000 Wohnungen in 10 Jahren», das bereits neun Jahre später erreicht war – allerdings private und gemeinnützige Bautätigkeit gleichermassen umfasste.

Wohnungsbau als Karrieresprungbrett

Die ursprüngliche Glanzzeit der Zürcher Wohnbaugenossenschaften reichte von der zweiten Eingemeindung (1934) bis zur Erdölkrise der 1970er-Jahre, als der äus­serste Rand der Stadt mit einem letzten Schub an Grosssiedlungen besetzt wurde und Zürich wie andere konzentrisch aufgebaute Industriestädte als Ganzes eine nach gesellschaftlichen Klassen gegliederte Struktur annahm. Als Produkt eindeutiger funktionaler Zuschreibungen wies diese Arbeitern und Angestellten feste, identitätsstiftende Orte zu und verarbeitete nach und nach die Postulate des aufgelockerten Städtebaus. Wenngleich weniger dramatisch als im Fall der brachliegenden Industrieareale, muss für viele Siedlungen heute ebenfalls ein neuer Sinnzusammenhang gefunden werden. Im Gegensatz zu den Investitionsschüben in Zürich-West geht es nicht um Kolonialisierung von Brachflächen. Allerdings wurden auch hier die Karten neu gemischt. Denn viele Zürcher Wohnbaugenossenschaften, die sich während Jahrzehnten auf energetische Sanierungsmassnahmen und Wohnungszusammenlegungen konzentriert hatten, stehen vor konkreten Herausforderungen: Gewohnt, bei Erneuerungsbedarf auf ihre Hausarchitekten zurückzugreifen, wurden die Genossenschaften unter Peter Ess als Direktor des Amts für Hochbauten «umerzogen» und vom ökono­mischen Vorteil überzeugt, auf Wettbewerbe und Studienaufträge zu setzen. Im Zusammenhang mit einem aufwendigeren Planungsverfahren wird in der Regel eine höhere Grundstücksausnutzung gewährt. Dabei kommt der Stadt die Tatsache zugute, dass die meisten Baugenossenschaften ohnehin öffentliches Land im Baurecht erhalten.

Mit dem Instrument der Arealüberbebauung kam es ab der Jahrtausendwende zu einer Serie von Ersatzneubauten, die seither den gemeinnützigen Wohnungsbau reaktivieren. Im Verlauf der Erneuerungskampagnen haben Wohnbaugenossenschaften, Wettbewerbsteilnehmer, Juroren und eine sich als ­Agentin zeitgenössischer Architektur verstehende Bürokratie beinahe zünftische Strukturen aufgebaut. Dabei beschäftigt sich vor allem eine jüngere Architekten­generation mit der Frage, wie in den homogenen Stadtlandschaften der Nachkriegs- und Spätmoderne adäquat zu inter­venieren sei. Büros wie Baumberger Stegmeier, Von Ballmoos Krucker, Bünzli Courvoisier, EM2N, EMI, ­Graber Pulver, Neff Neumann, Pool Architekten und Adrian Streich konnten sich parallel zu ihrer primär im privaten Wohnungsbau engagierten Lehrergeneration auf dem Feld des gemeinnützigen Wohnungsbaus positionieren.

Über die – in der Regel eingeladenen – Wettbewerbe wurde ein beträchtlicher Innovationspool geschaffen, der eine lokale Tradition auf hohem Niveau fortschreibt. Das in Zürich herrschende Klima der gebundenen Innovation hat Annette Spiro mit dem «American Songbook»[3] verglichen: Deutschschweizer Grundrisshandwerk als Metier talentierter Interpreten, die eine Tradition mit immer wieder neuen Nuancen aufzuladen verstehen, einer Originalität um ihrer selbst willen aber abgeneigt sind. Ein derartiges Netzwerk kann Qualität produzieren, weil die sozioökonomischen Schwächen der betroffenen Quartiere jeweils durch den Genius Loci abgefedert werden: Wohnungsbau ist in Zürich nicht konfrontiert mit Kontextproblemen, die für isolierte Grosssiedlungen in den dysfunktionalen Banlieues in Nachbarländern typisch sind. Aus der Tatsache, dass «Massenwohnungsbau» hier nicht negativ kodiert ist, resultiert ein anderes ikonografisches Dispositiv.

Diese privilegierte Situation ist auch einer der Gründe dafür, dass das Thema bei seiner Relancierung nicht mit gesellschaftlichen Desideraten überfrachtet wurde. So konnte sich die Szene darauf spezialisieren, architektonisch thematisierbare Inhalte herauszuarbeiten. Selbst das städtische Wohnhochhaus Lochergut aus den 1960er-Jahren, andernorts wohl ein Kandidat für ein monumentales Sozialgetto, zählte Figuren wie Max Frisch oder Pipilotti Rist zu seinen Bewohnern. Sein problematischer Ladensockel erfuhr durch Pool Architekten und den Künstler Olaf Nicolai eine erfolgreiche Metamorphose, die 2006 zum 40. Geburtstag des Locherguts abgeschlossen wurde.

Das Erbe umpflügen

Der Gürtel, den Siedlungsquartiere wie Schwamendingen, Affoltern, Altstetten, Albisrieden, Leimbach oder Wollishofen rings um Zürich bilden, ist gleichzeitig Vermächtnis und Zukunft. Dort finden die Ersatz­neubauten in der Regel zwischen Schulhäusern, Sport­plätzen, Bahnstrecken, Autobahnen und bestehenden ­Wohnsiedlungen statt. Die Eingriffe folgen einem Verdichtungskonzept, das der Zürcher Stadtrat 2010 mit seiner «Räumlichen Entwicklungsstrategie» bekräftigt hat. Das Leitbild wiederum bildet die Ausgangslage für die Revision der Bau- und Zonenordnung (BZO). Gegenwärtig befindet sich diese in der Vernehmlassung, wobei ihre Beschränkungen einige Kontroversen ausgelöst haben. Nach innen gerichtetes Wachstum durch Verdichten ist die Prämisse der BZO, weil in Zürich keine nennenswerten Landressourcen mehr zur Verfügung stehen und die Einzonung von neuem Bauland ein Tabu darstellt. Dem Platzmangel steht ein unaufhaltbar wachsender individueller Flächenverbrauch mit einem Anteil an Single­haushalten von 50 % gegenüber. So sieht Patrick Gmür, seit 2010 Direktor des Amts für Städtebau und selber Architekt verschiedener Zürcher Wohnungsbauten (Paul-Clairmont-Strasse 2006, James 2008, Hard Turm Park 2013), einen Imperativ zum «Umpflügen» des historischen Bestands der Wohnsiedlungen.

Das Weiterweben des für Zürich prägenden Gartenstadt-Urbanismus bei gleichzeitiger Anreicherung mit zeitgenössischen Wohnvorstellungen wird mit unterschiedlichem Erfolg praktiziert. Denn das von Gmür geforderte Umpflügen mit Ersatzneubauten bedeutet die selektive Bewahrung der städtebaulichen Tradition des jeweiligen Kontexts. Angesichts des repetitiven ­Charakters baulicher Umgebungen der Gartenstadt-Moderne aus der Zwischen- und Nachkriegszeit stellt sich die Frage nach dem Part, den jeweils der Ersatzbau im Verwandlungsprozess des Quartiers übernimmt. Indem die Programme weiterhin monofunktional zugeschnitten sind, liegt der Hauptunterschied zumeist allein in der Grösse der Wohnung – und vor allem in der höheren Grundstücksausnutzung. Die neue Siedlung reproduziert in einer anderen morphologischen Körnung die Autarkie ihrer abgebrochenen Vorgängerin. Im Fall des geförderten Wohnungsbaus ist diese thematische Beschränkung eine Folge des baurechtlichen Instruments der Arealüberbauung. Sein pragmatischer Charakter verhindert über den unmittelbaren Perimeter der Wohnsiedlung hinausreichende Aussagen, während die parzellenweise Verdichtung einen nicht immer stimmigen räumlichen Massstabssprung bewirkt. So kann es ­problematisch sein, einzelne Ensembles innerhalb repe­titiver Verbände in ihrem architektonisch-städte­baulichen Wert abzuschreiben. Wenn die bisherigen Zeilenmuster verdickt und in einer zeitgenössischen Sprache purifiziert wiederkehren, kann der Über­schreibungsvorgang das fein austarierte Verhältnis von ­Aussenraum zu Bauvolumen im Gartenstadtteppich destabilisieren.

Konsequenter wäre bei manchen Ersatzneubauten das Bekenntnis zu einer Poesie der gestrandeten Objekte, wie sie Marianne Burkhalter und Christian Sumi bei der Wohnbaugenossenschaft Sunnige Hof (2012), UndEnd Architekten bei der städtischen Siedlung Rautistrasse (2014) oder Adrian Streich bei der Siedlung Stückler (im Bau) überzeugend vorführen.

Weiterhin Blockade im Zentrum

Architekten tragen in Zürich ihre Positionen dort vor, wo sich im Gegensatz zum mumifizierten Zentrum noch Deutungsräume öffnen. Die Befindlichkeit der urbanen Ränder sorgte für thematische Inspiration, lang bevor das Industriequartier zum Synonym für Kunstgalerien, Lofts und überteuerte Pizzas wurde. Schon in den 1980er-Jahren definierte sich die Architekturdiskus­sion über den Gegensatz zum veränderungsresistenten Stadtzentrum, als eine junge Architektengeneration in der Nachfolge des geistigen Übervaters Aldo Rossi eine trockene Realismus-Ikonografie auf Zürich zu applizieren begann. Mit der Poetik unspektakulärer Off-Räume identifizierte sich damals der charismatische Architekturlehrer Miroslav Šik, der von der ETH Zürich aus mit seinen Studierenden die suggestiven Bildwelten der «Analogen Architektur» verbreitete. Beachtung fand ferner ein Text, den Marcel Meili 1988 in der katalanischen Zeitschrift «Quaderns» veröffentlichte.[4] Wie Šik ein Schüler Rossis, brachte Meili in seinem «Brief aus Zürich» Architektur und Stadtidentität auf den Punkt – als «Summe von höchst akribisch kontrollierten und geregelten Territorien, deren Grenzverläufe argwöhnisch bewacht werden». Als eine dieser Grenzen beschrieb er die «Oberfläche der Innenstadt», hinter bzw. unter der sich die wahren städtebaulichen Transformationen abspielten – einen Prozess, der im Unterschied zum Stadtbild nicht öffentlich verhandelt werde. Während es den Verkehrsplanern und Ingenieuren vorbehalten war, die Stadt im Zuge des S-Bahn-Baus bis 1990 unterirdisch aus den Angeln zu heben, war es Meili in Zusammenarbeit mit Markus Peter, Axel Fickert und Kaschka Knapkiewicz immerhin vergönnt, im Gefüge aus Verkehrssystemen und Detailhandel, zu dem der Zürcher Hauptbahnhof nun mutierte, zu intervenieren. Ihre simple doppelseitige Öffnung der Gleishalle zum Stadtraum war 1997 eine radikale Geste.

Urbanes Pastiche und Rendite

Mit ihren monumentalen Schrägpfeilern dürften die Bahnsteigdächer von Meili, Peter / Knapkiewicz & Fickert der einzige eminent öffentliche Ort im Stadtzentrum sein, wo der Versuch einer zeitgenössischen architektonischen Setzung gelang. Auch wenn man die neben dem Hauptbahnhof gegenwärtig entstehende Europaallee als Befreiungsschlag hin zu hochver­dichtetem Bauen an bester Lage sieht, bleibt Zürichs Innenstadt im Grund genommen ein Glacis – für ihre städtebauliche Bilanz ist das bald fünfzigjährige ­Globus-Provisorium in der Limmat typischer. Nach dem Scheitern der monströsen Gleisüberbauung Eurogate – nach über zwanzig Jahre Planung und zwei Volksabstimmungen kapitulierte 2001 die Bauherrin UBS – bemühte sich die Europaallee als Überbauung um die morphologische Anbindung an den angrenzenden Kreis 4, der jetzt unverhofft in den Sog der Grossüberbauung gerät. Auf der Grundlage von Kees Christiaanses Masterplan (2003) entsteht nun ein urbanes Pastiche. In der ersten Etappe kommen heterogene Handschriften zum Einsatz. Entfernt erinnern die ­Fassaden von Chipperfield, Dudler, Gigon/Guyer und Caruso St. John an die Berliner Friedrichstrasse – unter neuen Vorzeichen wird die von Meili in «Quaderns» thematisierte Potemkinsche «Oberfläche der Innenstadt» vergegenwärtigt.

Strukturell zwar komplexer, stadträumlich ­jedoch gescheitert ist der vorderste Bauabschnitt von Max Dudler: Sechs Meter über Strassenniveau schwebt der «Campus» der Pädagogischen Hochschule über einer unmotivierten und wenig inspirierenden Einkaufspassage. Ihrerseits von Dienstleistungsflächen umzingelt, demonstriert die 2013 eröffnete Hochschule vor allem die Verwertungslogik der SBB, die ihre Landreserven für die Sanierung der eigenen Pensionskassen einsetzt. Wie zuvor beim Maag-Areal nahm das Amt für Städtebau bei der Europaallee eine moderierende Rolle ein – in diesem Fall gegenüber einem privatwirtschaftlich agierenden Bundesbetrieb. Durch das Vorhaben ist Zürich «gratis» zu einem eleganten Stadtteil gekommen, während darunter Bund und Kanton einen zweiten unter­irdischen Durchgangsbahnhof erstellt haben, durch den die S-Bahn, ab Ende 2015 auch ­der Fernverkehr führt.

Eine neue Raumhierarchie denken

Einen Steinwurf von der Europaallee entfernt befindet sich das Kasernengelände – ein Denkmal für schleppende Aushandlungsprozesse und die helvetische Aversion gegen visionäre Würfe. Obwohl das Militär die Kaserne bereits seit vier Jahrzehnten nicht mehr benötigt, geht die Öffnung der denkmalgeschützten Anlage mit ihrer weiten Wiese für neue Nutzungen nur zaghaft voran. Durch unzählige Ideenwettbewerbe versüsst, gilt dies auch als Indiz für die notorisch schwierige Beziehung zwischen Stadt und Kanton. Als Hausherr betreibt ­Letzterer hier Dienstabteilungen seiner Polizei und ein Untersuchungsgefängnis – Nutzungen, die allerdings 2018 auf das Areal des abgerissenen Güterbahnhofs in ein neues Polizei- und Justizzentrum von Theo Hotz ziehen sollen. Der Gewinn dieser Rochade ist wieder infrage gestellt, seitdem der Kanton erneut Platzbedürfnisse am Standort Kaserne angemeldet hat.

Eine verpasste Chance ist auch das Areal gegenüber von Universität und ETH, wo dem Kantons­spital aufwendige Transformationen bevorstehen. Nachdem Testplanungen die grundlegende Erneuerung am beengten Standort bevorzugen, wird das Szenario einer Umsiedlung des Kantonsspitals entlang der Halsschlagader Zürich–Winterthur nicht weiter verfolgt. Diese Verlagerung hätte sich jedoch im Umfeld der S-Bahn-Station Stettbach als Treiber für die Gegend zwischen Schwamendingen und Dübendorf erwiesen. Hierbei handelt es sich um die seit einigen Jahren ­diskutierte Region Glatttalstadt, der eine unter dem ­Namen «Gruppe Krokodil» bekannte Zürcher Architektengemeinschaft mehrere Studien, Symposien und Pub­likationen gewidmet hat. Als Brennpunkt einer urban imaginierten Agglomeration hätte das Kantonspital dort identitätsstiftend gewirkt. Ferner hätte sein Umzug in die Glatttalstadt ein enormes Entwicklungspoten­zial für die übersaturierte Hochschulgegend geboten – anstelle der aufwendig etappierten Erneuerung am bishe­rigen Standort, wo ein im August vorgestellter 2014 Masterplan die langfristige Entwicklung von Spital, Universität und ETH vorzeichnet. Die erklärten Ziele von Stadt, Kanton und Bund, den in diesem «Genera­tionenprojekt» vertretenen Akteuren, sind die koordinierte städtebauliche Verdichtung einer einmaligen Nachbarschaft von Institutionen bei gleichzeitiger Entspannung der angrenzenden Wohnquartiere. In Kauf genommen wird hier eine massive Nutzungskonzentration, deren Vorzüge für Stadtraum und Stadtbild im vorliegenden Masterplan noch keineswegs ersichtlich sind.

Eine derartige Deblockade hat immerhin die Erneuerung des Kongresshauses am See erfahren – allerdings aufgrund eines Volksentscheids eher unfreiwillig: 2008 wurde der Baukredit für ein verzwängtes Projekt von Rafael Moneo abgelehnt.

Man verzichtete auf den Abriss der Architektur von Häfeli, Moser & Steiger von 1939 und suchte einen Alternativstandort. Wiederum fünf Jahre später überraschte die Stadt, indem sie sich zum bestehenden Komplex bekannte und Planungen für einen Neubau sistierte. Der Grund für die Kehrtwende lag allerdings weniger in einer neuen Wertschätzung dieses architektonischen Vermächtnisses der «Landi» als vielmehr in veränderten ökonomischen ­Realitäten. Denn am Flughafen soll ab 2018 ein Kongresszentrum mitsamt Kongresshotel Zürichs Bedürfnisse abdecken – sofern sich für die Überbauung «The Circle» von Riken Yamamoto noch ein Hauptinvestor findet. Als «Destination für Business und Lifestyle, für Brands, Medizin, Bildung, Kultur und Unterhaltung, Hotellerie und Kongresse» (so die Website) zeigt dieses grösste private Bauprojekt der Schweiz, wie sich inzwischen auch ausserhalb des Stadtgebiets die Gewichte verschieben. Postfordismus und flexible Akkumulation haben die Bedeutung von morphologisch fassbaren ­Räumen und politischen Territorien relativiert. Es findet sich wohl keiner, der zu Beginn des Umbauprozesses vor 25 Jahren Antworten auf die Gleichung mit ihren vielen postindustriellen Variablen hätte geben können. Heute ist Zürichs Identität keinem konzentrisch aufgebauten Gebilde mehr eingeschrieben. Es zeichnet sich vielmehr eine neue Raumhierarchie ab. Während die Agglomeration jenseits der Stadtgrenzen ihre Beziehung innerhalb des Metropolitanraums noch zu definieren sucht, verfügt Zürich-West mittlerweile über die Attribute einer gut vermarkteten und trendig gelebten ­Urbanität. Mit eige­ner Skyline, strategischen Adressen des Kunsthandels und Ablegern der Hochkultur, als Standort der Kreativ- und Dienstleistungswirtschaft, orientiert sich Zürich-West nicht mehr an der Innenstadt, wo bereits der ­Büroleerstand als Problem thematisiert wird.

Zürich wird immer mehr zum gestylten Opfer seines eigenen Erfolgs. Einerseits kann es als eine der teuersten Städte weltweit auf exorbitante Mietkosten verweisen, anderseits steht sein Wohnungsbestand im gemeinnützigen Bereich schweizweit an vorderster Stelle. Bis vor Kurzem erlaubte seine Finanzlage, viele Befindlichkeiten zu berücksichtigen, sozioökonomische Extreme abzufedern und Experimente mit Wohnbaugenossenschaften zu wagen. Wie die Karrieren zahlreicher Zürcher Architekturbüros belegen, bot die Kombination von Wohlstand und learning by doing seitens Institutionen und Investoren ideale Bedingungen für eine Kultivierung des architektonischen Handwerks. Im allgemeinen Eldorado verbot es sich, eine eigentliche Stadtvision zu formulieren. Und so steht nun die Bewährung der vielen neuen Einzelwelten bevor.


Anmerkungen:
[01] archithese 11/1974, S. 25
[02] Mit flexibler Akkumulation bezeichnet Harvey den Wechsel von (standortgebundenem) Produktions- zu (flexiblem) Dienstleistungssektor und die damit verbundenen Auswirkungen auf die Stadt, ihre Nutzungsprogramme, den Verkehr und identitätsstiftende städtebauliche Bilder.
[03] Sascha Roesler (Hg.), Pool. Werkjournal 1998–2010, Zürich 2010, S. 42
[04] Quaderns, Barcelona, Nr. 177/1988

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

Tools: