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Sinai aus Stahl und Spritzbeton
Der Standard

Das Museum der Geschichte der polnischen Juden in Warschau ist ein Versuch, zerstörte Kultur zu rekonstruieren. Ob die hohl klingende Architektur den Ansprüchen eines so sensiblen Themas gerecht wird?

15. November 2014 - Wojciech Czaja
Einmal durch die Glastür, und schon ist man mitten auf dem Berg Sinai. Wie von Wind und Wasser weichgespült, ragen links und rechts die geschmeidigen, sandsteinfarbenen Felswände empor. Der Himmel ist nicht zu sehen. Sanft lediglich schimmert von oben, man kann die Sonnenquelle nur erahnen, das Licht in die Tiefe der Schlucht. Fast ist man geneigt, an das Alte Testament zu denken, als Moses der Legende nach das Schilfmeer entzweite, um den Israeliten die Flucht vor den Ägyptern zu ermöglichen.

„Wir sind von einem Canyon ausgegangen, der das Gebäude in der Mitte teilt“, sagt Maritta Kukkonen, Projektleiterin im finnischen Architekturbüro Lahledma & Mahlamäki. „Aber sobald Religion und jüdische Geschichte im Spiel sind, sehen die meisten in diesem räumlichen Zitat, das uns so fasziniert hat, sofort Moses und den Marsch durch das Rote Meer. Das war zwar kein vordergründiger Gedanke, und ich bin der Meinung, dass Symbolik in der Architektur ein prinzipiell schwieriges Kapitel ist, aber wenn man diese Geste so interpretieren will, dann ist uns das nur recht. Geografisch liegen die beiden Motive ja nicht weit auseinander.“

Ende Oktober wurde das Museum der Geschichte der polnischen Juden feierlich eröffnet (der STANDARD berichtete). Letzte Woche wurde der Bau, dessen Wassermassen-Assoziationen bereits über die gesamte Medienwelt schwappten, von der Finnish Association of Architects (SAFA) mit dem renommierten Finlandia Prize for Architecture ausgezeichnet. „Die Jury hat das Museum als großartiges Gebäude bezeichnet“, meint Kukkonen mit einem Zwinkern im Gesicht. „Und sie hat dieses Urteil gefällt, ohne auch nur ein einziges Mal Moses erwähnen!“

Es hat sieben Grad Celsius. Nebel liegt über der Stadt. Über den Skwer Willy'ego Brandta, wo einst das Warschauer Ghetto war, da wo der deutsche Bundeskanzler am 7. Dezember 1970 als Zeichen der Demut und der Vergebung für den Zweiten Weltkrieg vor den Polen auf die Knie fiel, weht ein kantiger Wind. In der Mitte das schwarze Denkmal der Helden des Ghettos. Rundherum die Konturen der Plattenbauten aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren. Der Sinai ist weit, weit weg.

Von außen gibt sich das Museum der Geschichte der polnischen Juden - kurz Polin, benannt nach dem jüdischen Namen für das Land Polen, zugleich die Übersetzung für „Bleib hier!“ und „Verweile!“ - schroff und abweisend. Eisig schimmern die vertikalen Glasschuppen, reflektieren ein bisschen Wolken, ein bisschen Himmel hie und da. Muss denn jedes jüdische Museum auf dieser Welt so hart und unnahbar brutal sein wie jenes in Berlin?

„Nein, dieses Haus ist das Gegenteil von Holocaust-Architektur“, erklärt die zuständige Programmdirektorin Barbara Kirshenblatt-Gemblett. Und Dariusz Stola, Direktor des Polin, fügt, als wolle er sich von diesen klischeehaften Bildern über Architektur im jüdischen Kontext distanzieren, hinzu: „Bei uns ist der Holocaust nur ein Teil des Museums. Wir präsentieren hier fast tausend Jahre polnische jüdische Geschichte, und der Holocaust ist nur eine Unterbrechung. Er ist weder ihr Anfang noch ihr Ende.“

Drinnen erst, in diesem Canyon, der von den wenigsten nur als amorphe Gesteinsformation verstanden werden will, weil das 2. Buch Mose schwerer wiegt als jeder architektonische Grundgedanke, werden die Worte der beiden Hausverantwortlichen manifest. Dramatische Blicke, dramatische Räume tun sich hier auf. Es ist dies die angeblich größte zweiachsig gekrümmte, monolithisch zusammenhängende Wandoberfläche, die je gebaut wurde: 63 Meter lang, fast 25 Meter hoch, wenn man die bauchige Fundamentbasis im Untergeschoß, wo sich die 4000 Quadratmeter große Hauptausstellung befindet, miteinbezieht.

Echte Herausforderung

„Das Design der gekurvten Wände war eine echte Herausforderung“, erklärt Marcin Ferenc, Projektleiter im zuständigen Warschauer Partnerbüro Kurylowicz & Associates. „Eigentlich wollten wir die Wand massiv aus Beton ausführen, aber das wäre schalungstechnisch so aufwändig und so teuer gewesen, dass wir das Foyer in technischer Hinsicht komplett umplanen mussten.“ Sogar mit Schalungsballons und aufblasbaren Hilfskonstruktionen habe man zwischenzeitlich geliebäugelt, so Ferenc.

Heute verbirgt sich hinter dem vermeintlich massiven Canyon eine Unterkonstruktion aus insgesamt 60 individuell geformten Stahlstützen, die mit Platten beplankt und anschließend mit Spritzbeton versehen wurden. Man kann es durch Klopfen, gefolgt von einem sehnsüchtig weichen, die Enttäuschung hinwegfegen wollenden Streicheln der Oberfläche, erahnen: Der Klang ist ein hohler. Das ist schade. Gerade bei einem Museum, das sich um die Rekonstruktion einer an Ort und Stelle fast vollständig zerstörten Geschichte bemüht, hätte man sich mehr Substanz, mehr unantastbare Authentizität gewünscht.

Das Jüdische Museum in Berlin (2001, Daniel Libeskind) und Yad Vashem in Jerusalem (2005, Moshe Safdie) haben die architektonische Latte hoch gelegt. Das Polin-Museum in Warschau (Baukosten 160 Millionen Zloty, rund 45 Millionen Euro) wird diesen hohen Erwartungshaltungen leider nur oberflächlich gerecht. Die anfänglich dramatische Kulisse hält der tiefen Auseinandersetzung mit dem Thema nicht stand.

Umso mehr lohnt ein Besuch der privat finanzierten Dauerausstellung im Untergeschoß, die - jahrelang minutiös zusammengestellt und solide geplant - schon fertig konzipiert war, als der Architekturwettbewerb noch nicht einmal ausgelobt war. Tausend Jahre Geschichte werden hier mit allen möglichen Mitteln visualisiert. Beim Nachbau der längst zerstörten, hölzernen Synagoge Gwozdziec in 80-prozentiger Größe wird zumindest offengelegt, dass hier nichts ist, wie es scheint.

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