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14. Dezember 1996 Spectrum

Kiste, Schachtel und Schatulle

Gerhard Lindners „Siemens Forum“ in Erdberg zeigt wieder einmal: Zweckbetontes verträgt sich durchaus mit architektonischen Ambitionen.

Kiste ist nicht gleich Kiste. Das wird jeder bestätigen, der das Firmenareal von Siemens Österreich in die- sen Tagen genauer in Augenschein nimmt. Denn da türmen sich ungeheure Bürokomplexe auf - im besten Wortsinn: lauter Käse mit Löchern - und verstellen die Gegend, und sie tun es bar jeder architektonischen Ambition.

Firmenplanung heißt das im Klartext, denn Siemens Österreich hat eine eigene Bauabteilung. Aber: Neuerdings gibt es auf diesem Unternehmensgelände auch noch eine andere Art von Kiste zu besichtigen, eine Kiste, die von ihrer Größe her eigentlich mehr eine kleine Schachtel, eine Schatulle ist. Und die architektonische Botschaft, die sie verkündet, ist mit jener der Büroburg nicht zu verwechseln.

Siemens hat sich ein eigenes „Forum“ gebaut, einen Ausstellungs- und Veranstaltungsraum, der vielen Anforderungen gerecht werden muß, unglücklicherweise etwas versteckt liegt und nicht viel kosten durfte. Es gab eine Phase, sagt Architekt Gerhard Lindner aus Baden, da stand er vor der Wahl: Entweder wird das Projekt realisiert, und er muß kraß abspecken - oder das Projekt wird eben nicht realisiert.

Von außen ist das neue Siemens Forum ein sehr schlichtes Haus. Diese Schlichtheit ist dabei nicht unbedingt gewollt, vielmehr hat sie mit dem erwähnten „Abspecken“ zu tun. Vor die Alternative „Sein oder nicht sein“ gestellt, entschied sich Gerhard Lindner nämlich dafür, den Innenraum möglichst ohne Abstriche zu retten und dafür an den Fassaden zu sparen. Schon das ist eine Haltung, die auf dem weiten Feld des heutigen Bauens nicht unbedingt selbstverständlich ist. Aber es kommt noch besser.

Der Bauplatz selbst ist sozusagen ein Hoffnungsgebiet für Siemens: Denn man muß damit rechnen, daß sich in absehbarer Zeit einmal Büroetagen über der kleinen Veranstaltungskiste türmen. Trotzdem hat es Lindner geschafft, die Vorgabe einer Stützenreihe, von der dann links und rechts Büros erschlossen sind, konstruktiv so weit zu umgehen, daß zwar eine Überbauung des Hauses auch weiterhin möglich ist, der neue Veranstaltungsbau aber trotzdem räumlich völlig freigespielt bleibt.

Jetzt kommt man hinein und hat einen großzügigen, luftigen Raum vor sich, der linker Hand und an der Stirnseite in Geschoße unterteilt und rechts weitgehend verglast ist. Auf den ersten Blick rätselhaft: ein architektonisches Element, das sich über die volle Länge des Raums vom Erdgeschoß bis ins zweite Obergeschoß erstreckt. Es ist der sogenannte „lange Weg“, der von der temporären Veranstaltungsebene unten hinauf auf das Niveau des zweiten Obergeschoßes führt, wo die historischen Exponate der Siemens-Sammlung zu sehen sind.

Man könnte damit protzen, was dieses Haus in technischer Hinsicht alles kann. Denn es sind ungefähr 100 Kilometer Kabel darin verlegt, gar nicht zu reden von den höchstentwickelten elektronischen Vorrichtungen, die es enthält - es ist sozusagen alles da, vom gewöhnlichen PC bis zum Glasfaserkabel. Wobei es allein an PCs ungefähr 90 Stück auf den 1700 Quadratmetern Fläche gibt und dazu natürlich jede Menge Touchscreens, Projektionsflächen und ähnliches.

Das Ausstellungskonzept erscheint insgesamt, von der Flächenaufteilung her, zwar einfach: Auf der Erdgeschoßebene finden die temporären Veranstaltungen und Ausstellungen statt, im ersten Obergeschoß ist man mit aktuellen Entwicklungen konfrontiert, im zweiten mit der historischen Sammlung.

Aber wie dieses Konzept umgesetzt ist, das läßt durchaus Assoziationen mit gewissen Bereichen in La Villette zu. Denn dort kann man die Kids beobachten, wie sie interaktiv an einer Museumseinrichtung teilnehmen und gar nicht davon lassen können, und hier wird es einmal mit Sicherheit genauso sein.

Jeder Besucher erhält beim Eintritt Kopfhörer mit Infrarotsender beziehungsweise -empfänger und wird gleich zu Anfang identifiziert, auf Namen und andere Daten und Vorlieben abgefragt und während seines gesamten Rundgangs immer wieder persönlich angesprochen und in die Ausstellung einbezogen.

Die Eingangsfrage nach dem Lieblingsfilm - es gibt mehrere zur Auswahl - mag zunächst sinnlos erscheinen, ebenso die Frage nach Gewicht, sportlicher Betätigung und so weiter. Aber wenn man dann im Synchronstudio angelangt ist und eine Szene aus dem eigenen Lieb- lingsfilm sieht - in Verbindung mit der Aufforderung, diese Szene selbst zu synchronisieren, und der Möglichkeit, diese Synchronisation nachzubessern und zu kontrollieren -, dann erklärt sich die Technologie des Hauses wie von selbst.

Ebenso ergeht es einem, wenn man auf der Ebene der aktuellen Entwicklungen im medizinischen Bereich ankommt und auf der Basis des eigenen Körpergewichts und anderer Angaben, die beim Eintritt abgefragt wurden, eine Diagnose der individuellen Befindlichkeit erhält.

Diese Strategie zieht sich durch die ganze Ausstellung: Das Bakelit-Telephon läutet, über Display wird der Besucher namentlich aufgefordert abzuheben und erhält dann eine Nachricht; die Radios spielen und verkünden je nach der Zeit, aus der sie stammen, jeweils über Originallautsprecher eine authentische Botschaft.

Es handelt sich also um ein durch und durch interaktives Konzept, das den Besucher im echten Wortsinn zum Bestandteil der Ausstellung macht. Wie das technisch möglich ist, das wissen die Kids von heute sicher besser als ich. Ich habe nur verstanden, daß irgendwo im tiefen Keller alle Daten gespeichert sind und daß es spezielle Einrichtungen braucht, um die Verfügbarkeit dieser Daten in einem gewissen Tempo zu gewährleisten. Es scheint hier also ein gewaltiges Netzwerk zu geben - und wie es aussieht, funktioniert dieses Netzwerk.

In architektonischer Hinsicht ist wichtig, daß die räumliche Konzeption von Architekt Lindner diesen Gegebenheiten in jeder Hinsicht Rechnung trägt. Denn er hat einen sehr offenen, neutralen Raum geschaffen - nicht zuletzt im Hinblick auf künftige Umbauten, die bei einem solchen Ausstellungsgegenstand wohl gar nicht zu vermeiden sind -, und er hat die räumliche Disposition so entwickelt, daß sie auf einer anderen, eben auf der architektonischen Ebene das nachvollzieht, worum es hier inhaltlich geht.

Es gibt natürlich auch einen „kurzen“ Weg durch die Ausstellung, und jeder kann sich aussuchen, wie er die Räume passiert, aber spannend ist vor allem der „lange“ Weg. Denn er führt über die Rampe durch die volle Länge des Hauses und läßt einen schon aus der Distanz mit- und nachvollziehen, was drüben, auf den Ausstellungsflächen, passiert. Man sieht auch die anderen Besucher, man sieht, was rundherum passiert, und man gehört dazu. Und das ist sicher nicht das schlechteste Ausstellungskonzept.

Jedenfalls nicht für eine solche Ausstellung, die ja irgendwo zwischen „Technischem Museum“ und „Ars Electronica Center“ angesiedelt ist, wobei letzteres ein Vielfaches an Geld zur Verfügung hatte. Verglichen damit war Gerhard Lindner genügsam: Es gibt zwar die Tageslicht-Umleitungsprismen von Bartenbach, die Siemens ursprünglich erzeugt hat, an der Fassade; aber drinnen behilft sich Lindner mit einem von Peter Kogler entworfenen Vorhang als einfachster und preisgünstigster Maßnahme zur Abdunkelung und schalltechnischen Verbesserung des Raums.

Andererseits kann der Raum gerade in schalltechnischer Hinsicht wirklich allerhand, weil er durch ein verstellbares Lamellensystem und die Bespannung an der Decke sowohl schallweich als auch schallhart gemacht werden kann, und das in zwei Richtungen - über die gesamte Länge ebenso wie in der Breite. Kleinigkeiten fallen noch auf: Wenn Schulklassen kommen, dann finden sie Garderoben mit Schließfächern vor, die sie selbst bedienen können; wenn aber eine spezielle Veranstaltung stattfindet, dann läßt sich aus dem Garderobenbereich ein nahtlos in der Wand versenktes Pult herausziehen, hinter dem die Garderobieren agieren können. Auch Seminarräume sind da - durch Schiebewände trennbar oder eben zusammenlegbar, wie man es braucht. Das Stellwandsystem für den temporären Ausstellungsbereich ist überaus praktikabel. Und ein Abdunkelungselement an der Fassade, das die Fensteröffnungen aufnimmt und nur verschoben werden muß, stellt eine reizvoll einfache architektonische Maßnahme dar.

Daß gute Architektur nicht teuer sein muß, wäre ein lächerliches Fazit aus diesem Bau. Sinnvoller scheint es, darauf zu verweisen, daß die Einbeziehung eines freien, frei denkenden und agierenden Architekten ganz offensichtlich selbst für sol- che Unternehmen von Vorteil ist, die über eine eigene Bauabteilung verfügen.

23. November 1996 Spectrum

Schwebebalken mit Rückgrat

Wer seine Bankfiliale in der Favoritenstraße vor Augen hat, wird angesichts des Grazer Universitätsneubaus überrascht sein: Günther Domenig fand für sein „Resowi“ eine disziplinierte, beherrschte Formensprache.

Die Größe einer Bauaufgabe sei nicht von speziellem Interesse für ihn, sagt Günther Domenig, weil man bei kleineren Bauten in der Regel viel mehr riskieren könne. Das mag stimmen, und doch stimmt es auch wieder nicht: Denn in der Architektur, das müssen wir nur allzu oft leidvoll erfahren, stellt Größe im Sinn von Dimension ein gewaltiges Risiko dar. Große Bauten sind meistens eine „Garantie“ für Unmaßstäblichkeit, für Orientierungslosigkeit, für Trostlosigkeit und Langeweile.

Meistens. Mit dem Neubau der Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät („Resowi“) der Karl-Franzens-Universität in Graz ist Günther Domenig gemeinsam mit seinem Partner Hermann Eisenköck allerdings ein Ausnahmebau gelungen. Dabei bietet das Haus immerhin über 10.000 Studenten Platz, 33 Instituten, einer Fakultätsbibliothek, einer ganzen Reihe unterschiedlich dimensionierter Hörsäle und Sonderräume, einem EDV-Zentrum und einer gewiß nicht kleinen Cafeteria.

Das Gebäude ist beachtliche 300 Meter lang, 50 Meter breit und 30 Meter hoch, und es steht auf einem relativ schmalen, langen Grundstück gleich hinter der alten Universität.

Mit einer solchen Größenordnung und einer solchen städtebaulichen Konstellation muß man umgehen können. Und wie es geht, das führt Domenig beispielhaft vor. Er versucht erst gar nicht, diese lange, schmale Gebäudefigur irgendwie aufzulösen oder aufzubrechen. Im Gegenteil: Er hat den langen Riegel ganz lapidar und selbstverständlich auf dem Grundstück plaziert und sowohl seine Länge als auch die Gleichförmigkeit seiner Nutzung nach außen durch eine Reihe additiver Elemente provokant demonstriert. Man könnte vielleicht - in bester bildhafter Domenig-Manier - sagen, daß dieser Bau als eine Art Körper aufgefaßt ist, der ein Rückgrat hat, um das sich die Muskeln eines komplexen Raum- und Funktionsprogrammes entwickeln.

Der Haupteingang des Resowi ist ein wenig außermittig auf der Seite des Platzes zwischen altem und neuem Universitätsbau plaziert. Er markiert die Trennung der beiden Universitätsbereiche: Auf der einen Seite geht es zu den Rechts- und Sozialwissenschaftlern, auf der anderen zu den Wirtschaftswissenschaftlern.

Domenig hat sich für den Haupteingang eine deutliche, unmißverständliche architektonische Geste einfallen lassen: Hier, wo das Bauwerk durchlässig ist und man über ein paar Stufen zu den Zugängen der beiden Fakultätsbereiche kommt, hier schiebt sich linker Hand eine gewaltige plastische Form - der größte Hörsaal - aus dem Gebäude heraus und im Obergeschoß die kompliziert gekrümmte, fast muschelförmige Glasfassade des Cafés.

Hier erlaubt sich Domenig mit dem leuchtenden Rot der Konstruktion auch einen der wenigen Farbakzente, die es in diesem Haus gibt. Ein zweiter nach außen wirksamer Farbakzent prägt den oberen Abschluß des Bauwerks: der seitlich vorspringende sogenannte „Schwebebalken“ in leuchtendem Blau.

Die Betonung dieses Schwebebalkens ist kein willkürlicher gestalterischer Eingriff, sondern rückt die vielleicht wichtigste konstruktive Maßnahme bei diesem Haus ins Bild. Denn das oberste Geschoß der zweihüftigen Anlage ist selbsttragend konstruiert, und davon wiederum ist das darunterliegende Geschoß abgehängt. Das brachte für die innenräumliche Organisation einen entscheidenden Vorteil: Der Raum innen war damit konstruktiv so weit freigespielt, daß sich verschiedene räumliche, körperhafte Elemente einschieben ließen.

Bleiben wir beim Bild des Rückgrats: Denn wenn man in einen der Fakultätsbereiche hin-einkommt, wird dieses Bild au-genblicklich nachvollziehbar. Wie Wirbel sind hier die Vertikaltürme mit den Stiegenhäusern, Liften, Installationen und einem auf jedem Geschoß wiederkehrenden, schildartigen Element, hinter dem kleine Teeküchen oder Kopierräume verborgen sind, in ganz regelmäßigen Abständen aufgereiht.

Monotonie stellt sich jedoch eben deswegen nicht ein, weil Domenig durch seine konstruktive Entscheidung zugunsten des Schwebebalkens zwischen diesen Vertikalen so viel Spielraum hatte, daß es möglich wurde, sehr differenzierte räumliche Sequenzen zu formulieren. Das heißt, zwischen die Vertikalen sind jeweils Sonderelemente eingeschoben, sehr plastisch durchgebildete, autonom wirkende „Fremdkörper“, in denen die unterschiedlich großen Hörsäle und andere Sonderräume untergebracht sind.

Diese skulpturalen Körper prägen auch die Außenansicht des Bauwerks, denn sie wurden nicht nur zwischen die Vertikalerschließung eingeschoben, sondern schieben sich auch aus dem Gebäude heraus und geben der Fassadenabwicklung einen signifikanten Rhythmus. Das Thema ist klar: Es geht um die Auflösung von Masse, und drinnen geht es darum, mit leisen Mitteln für unterschiedliche Raumsituationen, für differen-zierte Stimmungen zu sorgen.

Wem immer noch die Bank in Favoriten und die Individualität ihres architektonischen Ausdrucks vor Augen steht, der wird angesichts des Resowi überrascht sein: Domenigs Sprache ist gerade bei öffentlichen Bauten heute viel weniger subjektiv verrätselt, als sie einmal gewesen ist, sie ist nicht mehr auf Konfrontationskurs angelegt. Man kommt zwar nach wie vor nicht umhin, den Kraftakt zu bewundern, der hinter der Bewältigung einer solchen Aufgabe steckt, aber diese Kraft des Ausdrucks rührt aus anderen Quellen her - aus einem beherrschten, disziplinierten Umgang mit Form, der nicht mehr um jeden Preis alle Mittel aufbieten möchte, die möglich gewesen wären.

Diese Beherrschtheit drückt sich nicht nur im formalen Aufwand aus, sondern auch im ma-teriellen. Daraus resultiert der Eindruck großer Einheitlichkeit: Es gibt Sichtbetonscheiben beziehungsweise aufgelöste Betonstützen, es gibt Betondecken, es gibt konstruktiven Stahl; die Installationen sind in glänzenden Nirosta-Röhren sichtbar geführt; es gibt viel Glas, teilweise mit fixen Aluminiumlamellen als Sonnenschutz davor; und dann gibt es die glatte Haut aus Kunststein, die den plastischen Elementen innen wie außen einen eigenen Charakter verleiht, und den Betonstein, der im Innenausbau bei den einzelnen Instituten verwendet wurde.

Domenig erwähnt zwar eine gewisse Trauer im Zusammen-ang mit diesem Haus, weil es in der letzten Realisierungsphase einen Verkleidungscharakter bekommen habe, eine Art glatte Eleganz, die er sich so nicht gewünscht hatte. Aber dieses unvermeidliche Zugeständnis an die behördlichen Auflagen muß man wohl in Kauf nehmen: Die Konstruktion ist nicht mehr ganz so fein und minimiert, wie sie ursprünglich war, weil sie ummantelt werden mußte, und das Haus suggeriert nicht mehr uneingeschränkt jene Purheit der Materialien, aus denen es gebaut ist.

Aber das dürfte sich den Nutzern des Hauses am wenigsten mitteilen. Die können sich an einer übersichtlichen und funktionellen Gebäudeorganisation erfreuen, die trotz der Größe Möglichkeiten der Orientierung bietet. Sie können sich an einer bis in die Mittelzone des Erdgeschoßes reichenden natürlichen Belichtung erfreuen, die durch die Verglasung des nach oben breiter werdenden Mittelbereichs bis nach unten geholt wird. Und sie werden auch die unterschiedlichen Raumsequenzen und die abschnittsweise differenzierte innenräumliche Atmosphäre zu schätzen wissen.

Domenig ist mit dem Außenraum sehr sorgsam umgegangen und hat gemeinsam mit einem Landschaftsplaner ein minuziöses Gestaltungskonzept dafür entwickelt, das befestigte Flächen, teilweise spitzwinkelig zugeschnittene Wasserbecken und eine eigenwillige Bepflanzung der Grünflächen einschließt.

Sehr wichtig für die Beziehung zwischen Universitätsneubau und alter Universität gegenüber - und damit für den Platzbereich dazwischen - war überdies, daß Domenig auch mit der Erweiterung der Zentralbibliothek vis-à-vis betraut wurde. Dieser Zubau besteht in einer verglasten Erweiterung eines Lesesaals, wodurch die alte Außenfassade zur Innenwand wurde, in der Ausbildung von drei vertikalen, großzügig verglasten Fassadenelementen und einer darangestellten, offenen Fluchtstiege.

Man kommt durch diese zusätzliche und sehr glückliche Maßnahme bei aller Unterschiedlichkeit der eingesetzten Formen doch nicht umhin, hüben wie drüben eine Art geistige Verwandtschaft zu konstatieren. Und die tut dieser dichten Gesamtsituation gut.

5. Oktober 1996 Spectrum

Das Ende aller Architektur?

Drei Wochen ist die sechste Architekturbiennale in Venedig alt, und noch immer will sich nicht eins zum andern fügen. Was man sieht, ist so disparat, daß sich trotz längerer Reflexion keine Zusammenhänge erkennen lassen.

Geschafft: Jetzt gib es also eine Architekturbiennale, die dem biennalen Kunstspektakel in nichts nachsteht. Stolz gab es die Biennaleleitung, an der Spitze „unser“ Hans Hollein in seiner Eigenschaft als erster nicht-italienischer Biennaledirektor, bei einer Pressekonferenz auf den Giardini bekannt; übrigens unter der Rekonstruktion eines Zeltes, das Frei Otto 1963 für die Internationale Gartenausstellung in Hamburg entwickelt hat und das jetzt als weithin sichtbares Zeichen am Eingang zum Biennalegelände fungiert. Nach Anzahl der teilnehmenden Länder und Architekten, nach Ausstellungsfläche und Quantität an Veranstaltungen, nicht zuletzt gemessen an den Hundertschaften von Journalisten, stellt diese sechste Architektur- Biennale ihre Vorgänger zweifellos in den Schatten.

Das ist nach den Jahren der langwierigen, trägen Entwicklung in Richtung auf die Institutionalisierung einer solchen neuen, zweiten Veranstaltungschiene auf dem Gelände der Giardini immerhin bemerkenswert. Denn seit den Tagen der „Strada Novissima“ im Jahr 1980 - dem ersten massiven Auftritt der Postmodernen -, damals unter der Direktorenschaft von Paolo Portoghesi, kam es nur noch 1991 zu einer Architekturbiennale, die auch internationale Relevanz bewies. Zur Erinnerung: Bei dieser Gelegenheit wurde der neue Electa- Pavillon von James Stirling eröffnet, und die Österreicher trugen den Sieg für die beste nationale Präsentation davon.

Und jetzt also - ein Paukenschlag, der den Vorsprung der langen Tradition des Kunstevents wettmacht. Von ein, zwei Ausnahmen abgesehen, sind alle Nationenpavillons bespielt, es gibt eine umfangreiche thematische Zentralausstellung, und es findet - unter der Bezeichnung Biennale-„Patronanz“ - auch außerhalb der Giardini eine Reihe von Ausstellungen statt, wiewohl Hollein auf Grund budgetärer Kürzungen auf ein Lieblingsprojekt verzichten mußte: die Ausstellung internationaler Architekturschulen.

Es ist also viel zu sehen an der Lagune - viel und wenig zugleich. Denn die Zentralausstellung „Sensing the Future“ ist ohne Zweifel eine Enttäuschung. Was bietet sie? Eine Ansammlung vielfach publizierter Projekte, die einer illustren Autorenschaft zu verdanken ist. Aber es könnte alles über dieser Ausstellung stehen: Sie kann „Sensing the Future“ heißen, sie könnte aber auch mit „High-Tech“ oder „Postmodern“ oder „Dekonstruktivismus“ oder was auch immer überschrieben sein. Der Titel würde in jedem Fall auf einen Teil der gezeigten Arbeiten zutreffen, auf den anderen Teil eben nicht.

Man kann das Hans Hollein nicht wirklich vorwerfen - so war es immer, auch bei den Kunstbiennalen. Aber eine gewisse Enttäuschung bleibt zurück. Na schön, wir sehen das Max-Reinhardt-Haus des Peter Eisenman und das Teneriffa-Projekt von Leon Krier; wir sehen neue Arbeiten von Herzog & de Meuron und den Kansai Airport von Renzo Piano. Aber welche Botschaft nehmen wir mit?

Es gibt natürlich allerhand anzumerken, in bezug auf den Auftritt der Österreicher zum Beispiel. Der war massiv, das immerhin haben wir Hans Hollein zu verdanken. Niemals zuvor war Österreich auch nur annähernd so gut in Venedig repräsentiert. Aber Sinn hat dieser Auftritt trotzdem nur zum Teil. Denn: Unter dem Titel „Sensing the Future“ kann man die Musikergedenkstätten einer Elsa Prochazka halt nur schwer verkaufen, und zwar umso schwerer, wenn dann etwa das Jüdische Museum eines Daniel Libeskind fehlt. Und solche Ungereimtheiten gibt es zuhauf: Sir Foster ist natürlich da, aber Sir Rogers nicht - wieso eigentlich nicht? Und wieso sind ein paar mehr oder weniger belanglose Einfamilienhäuser des Ettore Sottsass einen ganzen Raum wert und so viele ungleich bedeutsamere Projekte von mindestens so illustren Autoren nicht?

Außerdem hat Hollein etwas eingeführt, was nicht gerade sympathisch ist - eine Zweiklassengesellschaft. Denn in der Zentralausstellung gibt es eine erste und eine zweite Garnitur, wobei letztere unter dem Titel „Emerging Voices“ rangiert. Im Klartext: Nummer eins sind Günther Domenig, Walter Pichler und die Coop Himmelb(l)au, zweite Kategorie sind Adolf Krischanitz, Rüdiger Lainer, Henke/ Schreieck und Elsa Prochazka. Wie gesagt, man muß Hollein zugute halten, daß mehr Österreicher denn je bei der Biennale präsent sind. Da gibt es die sieben Auserwählten im Zentralpavillon - über die Auswahl selbst kann man streiten, meinem Gefühl nach ist sie viel zu Wien-lastig -, dann gibt es in einer kleinen, komprimierten Schau über die Avantgarde der fünfziger, sechziger und beginnenden siebziger Jahre ebenfalls eine Reihe von Österreichern; im australischen Pavillon hat sich eine Ausstellung internationaler Architekturphotographen eingemietet, auch da sind mit Margherita Spiluttini und Gerald Zugmann Österreicher dabei; schließlich stößt man in der Fondazione Querini Stampaglia, im Rahmen einer Präsentation des Hombroich-Projekts, auf Raimund Abraham und auf der Giudecca gar auf die Präsentation des Pfaffenberg-Wettbewerbes, den die Hollitzer Baustoffwerke für Bad Deutsch-Altenburg ausgelobt haben.

Diese massive Präsenz der Österreicher ist sicherlich aufgefallen. Und das umso mehr als der Wiener Stadtrat Hannes Swoboda bei der Eröffnung im Österreich-Pavillon das Sakrileg beging, vor ausländischen Gästen zu behaupten, die österreichischen Architekten seien die besten der Welt. Damit macht man sich nicht beliebt.

Im übrigen: Wie bei allen derartigen Großveranstaltungen bringt einen auch eine längere Reflexionsphase inhaltlich nicht weiter. Was man sieht, ist so dis-parat und willkürlich, daß sich Zusammenhänge nur mutwillig konstruieren lassen, von selbst stellen sie sich nicht ein. Der japanische Pavillon mit seiner Botschaft „vom Ende aller Architektur“ wurde schließlich nicht zufällig Biennale-Preisträger. Im Großaufgebot nationaler Eigentümlichkeiten konnte diese architektonische Sendepause ihre Wirkung tatsächlich nicht verfehlen.

Und sie hatte ja auch ein übermächtiges Gegenüber: die Präsentation des Walt-Disney-Konzerns im amerikanischen Pavillon - Ausstellungskommissar: Thomas Krens, seines Zeichens Guggenheim-Direktor -, die jeden Architekturinteressierten das Fürchten lehrt. Die Disney- Leute selber mögen davon reden, daß sie einen Traumbauen; aber aus der Distanz betrachtet, stellt sich dieser Traum ganz schnell als beklemmende Architekturlüge heraus. Es ist ziemlich schlimm, was einem da architektonisch vorgesetzt wird. Und es ist auch ziemlich schlimm, daß keiner der großen internationalen Stars die Gelegenheit ausgelassen hat, für Disney zu projektieren. Als habe jeder - von Hollein bis Isozaki - seinen Architekturobulus an den Disney-Konzern entrichten wollen, wohl wissend, daß nur das wenigste davon jemals gebaut werden wird. Denn das Bauen, das besorgen - von Ausnahmen wie Aldo Rossi oder Frank Gehry abgesehen - eben doch die Herren Graves oder Stern und wie sie sonst heißen . . .

Normalerweise ist der Biennaledirektor gleichzeitig auch italienischer Ausstellungskommissär. Auf diese Ehre hat Hollein zugunsten von Marino Folin verzichtet. Der lieferte eine Italien- Sektion, die jeder Beschreibung spottet - dicht, dichter, am dichtesten und gruselig obendrein. Denn jeder teilnehmende Architekt hat einen Bestandteil seiner präsentierten Arbeit, wie banal der auch immer sein mag, eins zu eins nachgebaut. Die Architekturausstellung als Erlebniswelt, Disney in einer europäischen - und insofern dilettantischen - Variante, die es unmöglich macht, das Gute vom Schlechten zu scheiden.

Die Franzosen hingegen haben sich einer ähnlichen Strategie wie die Österreicher bedient und zeigen gewissermaßen eine Avantgardetradition vor, die den Bogen von den sechziger bis zu den neunziger Jahren spannt. Vor allem der Einstieg mit den fulminanten, zwischen Architektur und Skulptur angesiedelten Arbeiten von André Bloc ist faszinierend. Obendrein erwies sich die Auswahl im nachhinein als richtig: Odile Decq und Benoit Cornette, Vertreter der jüngsten Architektengeneration und auch in der Zentralausstellung präsent, konnten immerhin einen Biennale-Preis erringen. Sensing the Future? Ein wirklich neuer Ansatz scheint vorläufig nicht in Sicht. Aber das ist nicht weiter schlimm. Gute Architektur wird trotzdem gedacht und gebaut. Und das müßte eigentlich genügen.

14. September 1996 Spectrum

Flugobjekt mit Reißverschluß

Keine Putzfassade, kein Satteldach: Mit ihrem Einfamilienhaus in Wien-Donaustadt beweisen Andreas und Gerda Gerner, dass sich eine einladende Raumatmosphäre auch ohne grossen Gestaltungsaufwand herstellen lässt.

Die gebauten Tatsachen in diesem Viertel der Wiener Donaustadt sprechen für sich: Sie sagen uns, daß wir nicht im Cottage sind, sondern in einer Umgebung, deren Architektur vornehmlich der Nachkriegszeit zu verdanken ist. Was das für eine Gegend bedeutet, die durch Einfamilienhäuser mit Gärten charakterisiert ist, bedarf keiner Erläuterung. So viele Sattel- und Krüppelwalmdächer, so viele Plastikfenster aus dem Baumarkt, Thujenhecken . . .

Aber selbst wenn man die gestalterische Qualität außer acht läßt: Mit dem Wohnen, das zeigt sich im Einfamilienhausbau deutlicher als in der städtischen Wohnanlage, verbindet die Mehrheit der Bevölkerung zutiefst konservative Vorstellungen. Gemütlich muß es sein und so, wie man es kennt. Oder doch nicht ganz: Der Anspruch der Pflegeleichtigkeit führte zu gewissen Modifikationen ­ von den Kunststoffsprossen im Fenster bis zu den Fliesen auf dem Vorzimmerfußboden.

Und mitten in solcher Idylle ­ dieses Haus. Eine Überraschung! Es kommt einem vor, als wäre ein unbekanntes Flugobjekt hier notgelandet. Das Haus hat keine Putzfassade, kein Satteldach, keine Plastikfenster, und Thujenhecke habe ich auch keine entdeckt. Dafür zieht sich straßenseitig eine Art ãGlasbandÒ wie ein Reißverschluß die Fassade hinauf, als wäre das Haus aufgeschnitten. An der plastisch formulierten Gartenseite im Westen signalisieren große Glasschiebetüren direkten Bezug nach draußen.

Es ist ein seltener Glücksfall, wenn ein Bauherr, der vielleicht gar nichts grundsätzlich Andersartiges wollte, die Beweglichkeit aufbringt, die Vorschläge eines Architekten nicht als Gewaltakt, sondern als spannende Bereicherung aufzufassen. Natürlich tut hier eine Korrektur not: Es bedeutet einen gravierenden Unterschied, ob jemand sein Haus beim Baumeister beziehungsweise aus demKatalog bestellt oder einen Architekten beauftragt. Beim Ärzteehepaar bestand kein Zweifel: Es fand in dem jungen Architektenehepaar Andreas und Gerda Gerner einen kongenialen Partner. Dabei könnte man sich vorstellen, daß es für jemanden, der Architektur nicht zu seinem speziellen Anliegen gemacht hat, einen Schock bedeutet, beim Rohbau seines Hauses ­ statt mit einer Ziegelmauer ­ mit einem nackten Stahlskelett mit Betondecken konfrontiert zu sein. Andreas und Gerda Gerner hatten sich nicht um jeden Preis vorgenommen, einen Stahlbau zu errichten, es wurde auch über Holzbauweise nachgedacht.

Aber eines war von vornherein klar: Ihrem ersten realisierten Bauwerk sollte man anmerken, daß es ein Statement von heute ist. Doch es sollte dem Bauherrn keine Gewalt antun, weshalb Andreas Gerner auch andere, möglicherweise akzeptablere Architektennamen als Alternative ins Spiel brachte. Ein Einfamilienhaus in Leichtbauweise: oberflächlich besehen mit fast skulpturalem Charakter. Aber diese Charakterisierung stimmt nicht, denn sie würde bedeuten, daß die Formulierung des Baukörpers einer formalen Willkür unterliegt, was nicht der Fall ist. Denn der Baukörper drückt nach außen deutlich innenräumliche Qualitäten aus.

Man sollte erwähnen, daß Andreas Gerner bei Helmut Richter sein Diplom erworben hat und in dessen Büro arbeitet. Das sieht man dem Haus in mancher Hinsicht an. Dem Einfamilienhaus ist aber auch der Stempel der ernstgemeinten Auseinandersetzung mit den Vorstellungen des Bauherrn aufgedrückt. Vom Einfamilienhaus hat es immer schon geheißen, es sei die Haute-Couture-Version des Wohnbaus. Das ist beim Haus Hinterberger in besonderem Maß der Fall.

Man betritt es von der Straße im Osten und bemerkt flüchtig den verglasten ãSchnittÒ, der sich über die Fassade hinaufzieht. Welche Bewandtnis es damit hat, merkt man erst drinnen: Das Motiv des ãSchnittesÒ zieht sich über das Dach und bis zur gartenseitigen Westfassade. Das sorgt für schöne Lichtreflexe am Tag; nachts wölbt sich über dem Bett in einem der beiden Kinderzimmer der Sternenhimmel.Das Konzept des Hauses mutet auf Anhieb außergewöhnlich an. Die herkömmlichen Wohnvorstellungen sind in Frage gestellt.

Gespräche zwischen Architekten und Bauherren ergaben, daß die Sitzgruppe hauptsächlich abends genützt wird und es unsinnig wäre, ihr den prominenten Platz hinter den Glas- schiebetüren zum Garten einzuräumen. Nachts sind alle Katzen grau, der tageslichtumflutete, zum Garten hin zu öffnende Eßplatz hat hingegen eine eigene Qualität. Man betritt das Haus also von Osten, kommt an der leuchtend roten, von den Gerners minimalistisch, dabei subtil und praktikabel gestalteten Gar- derobe vorbei und sieht schon durch bis zum Garten. Man kann durchatmen, Offenheit teilt sich mit. Linkerhand die Küche, rechts, durch eine Glasschiebetür abtrennbar, der Eßbereich. Er ist ganz zum Garten, zum Licht hin orientiert ­ auch hier ermöglichen gläserne Schiebetüren Abgrenzung wie auch Öffnung hinaus zur Natur ­ und hat einen zweigeschoßigen Bereich vorgeschoben.

Das ist auf den ersten Blick eine eigenwillige Lösung, vor allem für ein Elternschlafzimmer; im Obergeschoß mündet es offen in diesen schmalen, zweigeschoßigen Raum. Aber die Direktiven des Bauherrn waren eindeutig: Er wollte ein offenes Haus. Überdies läßt sich diese ­ man könnte sagen: Schlafgalerie ­ abschließen, durch ebenfalls gläserne Schiebeelemente.

Die innenräumliche Organisation des Hauses ist ansonsten einfach und klar: Wohnen im Erdgeschoß, Schlafen und Arbeiten darüber, im zweiten Obergeschoß liegt das Refugium der Kinder. In den Kinderzim- mern fällt besonders auf, wie faul die landläufigen Vorstellungen von Gemütlichkeit sind: Hier bestehen die Decken aus Metallkassetten, also einem un- verkleideten Industrieelement, dem man eine gewisse Kühle nicht absprechen kann. Aber wie sagte schon Karl Kraus? Gemütlich bin ich selbst.

Die Gerners haben das Konzept dieses Hauses präzise entwickelt und durchgehalten. Sie haben nicht einen Stahlbau realisiert, um ihn dann zu verstecken: Die ­ äußerst minimierte ­ Konstruktion sieht man. Alle tragenden Teile im Inneren des Hauses haben einen blauen Anstrich erhalten und sind somit unaufdringlich vorgezeigt. Auch der Kamin aus Nirosta blieb unverkleidet, wiewohl das einer Sondergenehmigung bedurfte. Der Kachelofen steht natürlich im Wohnbereich, aber in die Tiefe des Hauses verlegt, dorthin, wo sich tatsächlich die Sitzgruppe befindet. Hier nimmt die sonst ganz offene und zum Garten hin orientierte Wohnebene einen atmosphärisch anderen Charakter an, der Raum vermittelt den Eindruck einer großzügigen Nische, in der man sich geborgen fühlt.

Man kann die Frage aufwerfen, was die Leichtbauweise einem Einfamilienhaus bringt ­ die Frage läßt sich aber auch be- antworten: Es ist eine sehr ökonomische Bauweise, die nur kurze Montagezeiten erforderlich macht und ein hohes Maß an Flexibilität erlaubt. Die Gerners haben sich für eine Fassade aus Holzzementplatten entschieden, ein hartes, dauerhaftes Material, das im Raster von 1,40 Metern verlegt ist. Das hat im Hinblick auf Veränderungen in der Nutzung einen großen Vorteil: Man kann innerhalb dieses Rasters jederzeit Plattenelemente herausnehmen und durch Glas ersetzen oder, umgekehrt, die bestehende Verglasung des ãSchnittesÒ wieder schließen.

Verglichen mit einer Putzfassade hat die Plattenhaut des Ge- bäudes auch noch einen anderen Vorteil: Man kann sie reinigen. Die Rundumwäsche läßt sich zwar nicht von der Hausfrau be- sorgen, dafür sind Reinigungsfirmen da, aber sie ist bei weitem nicht so kostspielig, wie man vermuten würde. Das Haus Hinterberger ist keine bescheidene Minimaleinheit des Wohnens. Mit seinen 280 Quadratmetern Nutzfläche ­ Sauna und Vorratsraum im Keller eingerechnet ­ bietet es einer vierköpfigen Familie großzügig Platz. Es zeigt aber auch, wie überflüssig, ja störend ein Zuviel an Gestaltungsaufwand im Einfamilienhausbau ist.

Hier haben sich die Architekten auf wenige Materialien und Farben beschränkt: die blaugestrichenen Stahlteile der tragenden Konstruktion, die rote Garderobe, das Ahornparkett, weiße Wän- de, das metallische Schimmern des Nirostakamins und der Dek- kenelemente ­ und viel Glas; und sie haben sich nicht auf die ãWärmeÒ von Materialien berufen müssen, um eine Wohnat- mosphäre herzustellen, in der man sich wohl fühlt. Es kommt auf andere Dinge an: auf den Bezug zum Außenraum, die fließende Grundrißorganisation, die natürliche Belichtung, auf Durchblicke und räumliche Differenzierungen. Nur wenn das stimmt, tritt jener Effekt ein, den sich jeder Hausbesitzer wünscht: eine Raumatmosphäre, die hell, einladend und großzügig erscheint. Und im Haus Hinterberger stimmt es. .

31. August 1996 Spectrum

Freier Blick ins Schlafgemach

Ein Gemeinschaftsprojekt setzt in sozialer und architektonischer Hinsicht neue Maßstäbe: das „Wohnheim“ von BKK-2 auf demGelände einer alten Sargfabrik in Wien-Penzing.

Das leuchtende Orange an den Fassaden des „Wohnheims“ Sargfabrik morst seine Botschaft unmißverständlich ins benachbarte Quartier: Etwas Besonderes liegt vor, und wer will, ist eingeladen, daran teilzuhaben. Man glaubt es kaum, aber auch Architektur vermag Optimismus auszustrahlen. Beim „Wohnheim“ Sargfabrik ist man direkt mit diesem Sachverhalt konfrontiert. Und diese Konfrontation ist gar nicht unangenehm, wiewohl sie einem gerade in bezug auf die „normalen“ städtischen Wohnformen zu denken gibt. Es steht einem die gebaute Frage vor Augen, ob es mit all den landläufigen Vorstellungen über das Wohnen tatsächlich seine Richtigkeit hat.

Dabei geht es dicht zu auf dem Gelände der alten Sargfabrik - und überaus urban. Trotzdem ist sofort klar, daß hier keine alltäglichen Qualitäten vorliegen. Die Devise „Gemeinschaft vor Individualität“ mag sich architektonisch nicht eins zu eins darstellen lassen, aber sie teilt sich mit, wenn sie sich nicht sogar indirekt visuell vermittelt. Wenn man das Gelände von der Goldschlagstraße her betritt, kommt man zunächst am Kaffeehaus vorbei. Es ist zweigeschoßig und vermittelt mit seiner großflächigen Verglasung einen speziellen Drive.

Dann kommt man linker Hand durch ein Foyer hinunter in einen Veranstaltungssaal. Vom Weg aus sieht man schon Laubengänge und die schräg nach außen gekippten, betonierten und an den Schmalseiten verglasten Balkonbrüstungen, die einmal zu Ikonen dieses Projekts werden dürften. Man passiert den Abgang zum Bad, das eine Palette von Möglichkeiten bietet: Schwimmkanal, Sauna, Wannen, ein türkisches Bad. Ein erster Freiraum tut sich auf: darin ein großes Wasserbecken mit zwei formal eigenwilligen Elementen - den Oberlichten des darunter liegenden Bades.

Ginge man in eines der Häuser und auf einen der Laubengänge, könnte man in das Badezimmer eines der Bewohner schauen. Oder in das Schlafzimmer. Denn es handelt sich um ein Mitbestimmungsprojekt im Wortsinn: Die beliebig addierbare zweigeschoßige Minimaleinheit - die „Box“ - wurde von den Bewohnern nach individuellen Vorstellungen interpretiert. Dabei hat man auf Architektenseite zwar darauf geachtet, daß keine funktionell falschen Grundrisse zustande kamen, aber der Spielraum für unkonventionelle Lösungen blieb.

Irgendwo ragt eine Reminiszenz an die Sargfabrik empor: das weißgestrichene Backstein-Mauerwerk des Schornsteins. Der Weg wird schmäler und breiter - wie es die Grundstücksgrenze und die Bebauung der Nachbarschaft erlauben. Schweift man ab, kommt man zu einem baumbestandenen Hof; geht man weiter, landet man hinter dem alten Zinshaus, das ebenfalls einer orangefarbenen Oberflächenbehandlung unterzogen wurde, beim Eingang in der Matznergasse.

Was man nicht sieht: Die Vorgeschichte des Projekts reicht bis in die achtziger Jahre zurück. Damals tat sich eine Gruppe von Leuten zusammen und kaufte die Sargfabrik. Eine erste Planung sah die Erhaltung der Produktionshalle vor und Wohnbauten, die in dieser mit ihrem Backsteinmauerwerk atmosphärisch reizvollen Halle hätten stattfinden sollen. Um diese zu erhalten, wurde ein entscheidender Nachteil in Kauf genommen: Die Wohnungen im hinteren Bauteil wären in die Halle hinein orientiert gewesen. Dieses ganz normale, geförderte Wohnbauprojekt wurde erst genehmigt, dann vom Verwaltungsgerichtshof beeinsprucht.

Seit Beginn der zweiten Planungsphase stellte sich die Frage, ob man die Backsteinarchitektur der Sargfabrik überhaupt erhalten solle; und es ging auch um Möglichkeiten zur Bewältigung eingefahrener Konventionen in Sachen Wohnbauförderung. So kam es zur Entwicklung einer geradezu genialen Strategie: Der Verein, die Eigentümergemeinschaft, entschied sich für die Errichtung eines „Wohnheims“. Das brachte aus herkömmlicher Sicht einen entscheidenden Nachteil: Niemand ist Eigentümer der von ihm genutzten Wohneinheit - Eigentümer ist ausschließlich der Verein. Es gab aber auch einen Vorteil: Es wurden all jene Gemeinschaftseinrichtungen gefördert, die jetzt aus dem „Wohnheim“ etwas so Besonderes machen.

Beschäftigen wir uns mit der gebauten dritten Planungsvariante. Diese macht sichtbar, was niemand wissen will: Wohnen läßt sich nicht verordnen. Die Regeln, die wir in bezug auf Grundrißlösungen für gegeben erachten, werden obsolet, wenn wir mit den Wünschen individueller Nutzer konfrontiert sind. Hier zeigt sich, daß es manchem gar nichts ausmacht, wenn sein Badezimmer direkt am Laubengang liegt; der Mehrwert, den ihm diese ungewöhnliche Grundrißorganisation bringt, ist ihm diesen Einsatz wert. Und es zeigt sich auch, daß es diesen Leuten auf etwas nur sehr nebenbei ankommt, was normalerweise zu den unantastbaren Geboten des Wohnbaus gehört - auf die verbriefte Intimität.

Frappant sind die Offenheit, die diese Architektur vermittelt, die Ungeniertheit, mit der sie Einblicke in den individuellen Wohnbereich erlaubt. In dieser Hinsicht wird mit dem Projekt nicht nur eine Lektion theoretisch formuliert, sondern auch pragmatisch umgesetzt. Zu den architektonisch wesentlichen Ausgangsüberlegungen der dritten Planungsvariante gehört, daß man weitgehend bei den Beschlüssen geblieben ist.

Und dies, obwohl die Entscheidung längst zugunsten des Abbruchs der alten Werkhalle und eines kompletten Neubaus gefallen war. Die Architekten behielten die ursprüngliche Bebauungsstruktur im großen und ganzen bei. Und damit die Stellung der Baukörper, den Raster von 4,80 Metern und die knappe Raumhöhe von 2,26 Metern. Darin drückt sich auch die bekannte Auffassung des BKK-2 aus, daß gewisse Festschreibungen der Bauordnung Richtwerte, aber keine absoluten Wahrheiten sind: Wenn man richtig damit umgeht, sind in Nebenräumen extrem niedrige Raumhöhen verkraftbar, nur müssen dafür im Wohnbereich entsprechende Lufträume für die nötige Differenzierung sorgen. Dabei ist die Raumhöhe nicht bloß ein eigenwilliges Statement der Architekten - sie hat ihre Begründung in der Ausgangsplanung: Ursprünglich sollte eine Decke der Produktionshalle erhalten bleiben - da kam eben nur eine Raumhöhe von 2,26 Metern plus Geschoßdecke in Frage. Dann entschied man sich für den Abbruch der Halle, aber vom Konzept dieser Raumhöhe wollte sich niemand mehr lösen.

Daß diese Maßnahme kein Fehler war, ist auch für den Außenstehenden überprüfbar: Atmosphärisch ist einfach alles in Ordnung. Und die Möglichkeiten, die diese Anlage ihren Bewohnern bietet, sind schlichtweg überwältigend. Mit Restaurant, Seminarräumen, Veranstaltungssaal und Bad sind 2000 Quadratmeter Gemeinschaftsfläche vorhanden. Im Bauteil an der Goldschlagstraße wurde ein Kinderzentrum eingerichtet. In der Nachbarschaft der „Heimküche“ gibt es auf knapp 400 Quadratmetern eine Wohneinheit für eine Wohngemeinschaft. Die ausgedehnte Dachbegrünung bietet vom Steingarten bis zum Gemüsebeet alles, was sich der Hobbygärtner nur wünschen kann.

Natürlich ließe sich viel über die Architektur sagen, obwohl es zu ihrem sprachlichen Ausdruck gehört, daß sie sich auf Detailmalerei erst gar nicht einläßt. In der Sargfabrik wird formal mit der Addition und Repetition gleicher Elemente Wirkung erzielt. Erwähnenswert sind die kühn nach außen gekippten Betonbrüstungen der Balkone mit verglaster Schmalseite. Das BKK-2 pflegt solche formalen Entscheidungen in der Regel nicht rein geschmacklich, sondern sachlich zu begründen. Daß die Fensterflächen bündig in der Fassade sitzen, soll dieser Lesart zufolge den Baukörper ruhiger machen. Um dieser Wirkung willen wurde eine Vielzahl von Silikonfugen riskiert, über deren Dauerhaftigkeit es unterschiedliche Auffassungen gibt. Die an den Rücklauf der Fernwärme angeschlossene Niedrigtemperatur-Wandheizung ist eine hier erstmals in großem Umfang eingesetzte Technologie. Wo inhaltlich soviel Neues dahintersteckt, sollte man auch bei der baulichen Umsetzung etwas probieren dürfen. Von der gestalterischen Lösung her zählt vor allem das Bad zum Feinsten, was diese Gegend zu bieten hat.

Mit dem „Wohnheim“ Sargfabrik wurde sowohl in sozialer und konzeptueller als auch in architektonischer Hinsicht ein neuer Maßstab in Sachen Wohnen gesetzt. Auf die künftige Entwicklung des Projekts darf man gespannt sein. Sicher scheint, daß sich schon in allernächster Zukunft Soziologen und all jene, die sich dem Thema Wohnbau forschend nähern, damit befassen werden.

10. August 1996 Spectrum

Haus mit Kopf und Schwanz

Erich G. Steinmayr hat dem Lustenauer Rathauskomplex einen Neubau angefügt. Einen Neubau, der trotz seiner „dienenden“ Haltung gegenüber dem Bestand seine eigene, zeitgemäße Identität behaupten kann.

In der Architektur ist Anpassung in der Regel keine Haltung, die zu einem nennenswerten Ergebnis führt. Man weiß es von den verschiedenen Schutzzonen her: Anpassung erzeugt schwache architektonische Resultate. Daher hat sich für Erich G. Steinmayr die Frage der Anpassung auch niemals gestellt. Die Frage mußte vielmehr lauten, ob der bemerkenswerte Lustenauer Rathauskomplex vom Ende der fünfziger Jahre eine architektonische Intervention überhaupt zuläßt - und wenn, an welcher Stelle eine solche ansetzen könnte.

Unter den Vorarlberger Architekten galt dieses Problem ursprünglich als unlösbar. Aber die sachliche Bestandsanalyse brachte es an den Tag: Es gab einen Gebäudeteil mit Hausmeisterwohnung, Kohlenlager und Polizeigaragen, der zwar strukturell in Ordnung, aber letztlich ohne Schwächung des Altbaus verzichtbar war. Genau diesen Teil brach Steinmayr ab und setzte seinen Neubau an die Stelle. Und zwar unter maximaler Rücksichtnahme auf die bestehenden Vorgaben: Das heißt, das neue Haus respektiert die Maßstäblichkeit und hierarchische Gliederung des alten Baus, es ist nicht höher, es führt sogar die Geometrie der Dachform weiter, es stößt ganz selbstverständlich an eine Mauerscheibe des Bestands. Dabei führt es seine Andersartigkeit so unverkennbar vor, daß Zweifel über sein Entstehungsdatum gar nicht aufkommen können. Aber das Resultat solcher Eindeutigkeit ist nicht eine Verunklärung des Gesamtkomplexes, sondern eher seine Aufladung mit neuer Hochspannungsenergie.

Um aber das geforderte Raumprogramm unter diesen Umständen überhaupt unterzubringen, mußte Steinmayr ein zusätzliches Geschoß schaffen. Und das ist ihm letztlich gelungen, indem er nicht in die Höhe, sondern in die Tiefe gebaut hat: An der Ostseite, zur Straße hin, wo es über eine Brücke ebenerdig in den Neubau hineingeht, wurde das Terrain um etwa drei Meter abgesenkt. In diesem Untergeschoß, dem ein besonders reizvoll angelegter Grünbereich vorgeschoben wurde, sind zwei große Konferenzräume, der Seminarbereich und - vorläufig noch als räumliche Reserve -Computerarbeitsplätze untergebracht. Im Erdgeschoß hat das Tiefbauamt seine Büros, im Obergeschoß das Hochbauamt.

Die innenräumliche Struktur des Gebäudes stellt sich sehr minimiert dar, einfach und ökonomisch, wiewohl sich das Haus den Luxus der Einhüftigkeit leistet. Alle Erschließungsgänge liegen an der Westseite zum Garten hin, die Büros sind nach Osten, zur Straße hin, orientiert; hier zeichnet sich mit einem schießschartenartigen Fassadenteil auch die Lage des Archivs ab. Die Fassade - sichtbar verschraubte Aluminiumplatten, die mit Eisenglimmer beschichtet sind, Glas und simple LKW-Bretter aus Aluminium als Beschattungslamellen - gibt sich betont schlicht, dabei elegant. Trotz seiner „dienenden“ Haltung gegenüber dem Bestand kann der Neubau seine eigene und sehr zeitgemäße Identität behaupten.

Von der Straße her sieht man zunächst nur ein relativ niedriges, langgestrecktes Gebäude, einen deutlich definierten Eingang mit elegantem Vordach, zu dem man über eine Brücke gelangt, große Fensterflächen und rechts über dem Eingang das signifikante, schießschartenartig formulierte Fassadenelement vor dem Archiv. Wenn man auf den Eingang zugeht, sieht man auch hinunter in den „Graben“ - einen bepflanzten Gartenhof -, der als Freiraumschicht dem Untergeschoß vorgeschoben ist.

Diese Entscheidung, nicht in die Höhe, sondern in die Tiefe zu bauen, ist von wesentlicher Bedeutung für das gesamte Projekt. Außerdem ist der Gartenhof in drei Metern Tiefe ein besonderes Element: Eine Betonwand muß zwar erst zuwachsen, aber die Wirkung der sehr abstrakten, artifiziellen Lösung unten - mit schmalen, rechteckigen Wasserwannen und ebenso geschnittenen Buchsbaumpflanzungen - teilt sich auch jetzt schon mit. Wenn man das Haus betritt, kommt man zunächst in eine lichtdurchflutete, sehr offene Empfangszone mit Arbeitsplätzen für zwei Sekretärinnen.

Von hier geht es über einen Erschließungsgang entlang der Westfassade ebenerdig zu den Büros des Tiefbauamtes weiter, über eine Treppe hinunter ins Untergeschoß beziehungsweise hinauf zu Hochbauamt und ArchivDie Struktur ist also ganz einfach. Daß das Archiv hinter einer so besonderen Fassade situiert wurde, hat mit der Anforderung zu tun, daß es in einem Tageslichtraum untergebracht werden und doch beschattet sein sollte. Auch an der Westfassade sorgt ein Lamellenraster aus Aluminiumbrettern für die nötige Beschattung. Und am „Schwanz“ des Gebäudes im Süden, der wie ein Kasten ein wenig über dem Boden schwebt und damit ein Motiv des Altbaus aufnimmt, sorgt ein genau berechneter Rahmen für den erforderlichen Sonnenschutz der verglasten Besprechungsräume.

Für Schatten und damit ein angenehmes Raumklima wurden also die erforderlichen Vorkehrungen getroffen. Und doch: Eine Stunde am Tag fällt in verschiedenen Bereichen - in den Korridoren, im Archiv - die Sonne direkt ein, und es kommt zu jenem Phänomen, das Steinmayr „Lichtgraphik“ nennt. Die Sonne kommt, sie verschwindet wieder, für kurze Zeit erweckt sie das Gebäude an verschiedenen Stellen zum Leben. Schatten, so Steinmayr, mag eine Qualität sein, aber auch Sonnenlicht gehört in ein Haus.

Apropos Sonnenlicht: Die Lichtführung im Gebäude kommt einer minuziösen Komposition gleich. So liegen in den Erschließungsbereichen im Erdgeschoß und im Obergeschoß durchscheinende Glasplatten auf Gitterrosten. Dadurch entsteht zwar überall der Eindruck einer geschlossenen Decke, gleichzeitig verteilt sich aber das Tageslicht gleichmäßig von oben bis in das Untergeschoß. Und das Kunstlicht ist im Bereich der Stiege in den Handlauf integriert; man schaltet also bei Dunkelheit die Beleuchtung des Handlaufs im Geschoß oberhalb ein, und das Licht verteilt sich über die Decke.

Auch in den Büros sorgt indirektes, gleichmäßig verteiltes Kunstlicht für ausgezeichnete Arbeitsbedingungen. Und drei verschiedene Abschattungsmöglichkeiten - eine außen, eine innen und zusätzlich eine, die man im Computerbereich hochziehen kann - erlauben die Differenzierung der Tagesbelichtung.

Man könnte sagen, daß das Gebäude einen Kopf-, einen Mittel- und einen Schwanzteil besitzt und daß jedem dieser Bereiche spezielle Aufgaben und damit eine eigene atmosphärische Charakteristik zugeordnet wurden. Die unterschiedliche Art der Nutzung bildet sich in feinen Differenzierungen, unterspielt, aber doch lesbar, auch nach außen ab. Vordergründigkeit hat sich Steinmayr aber gerade an der Fassade in keiner Weise gestattet. Zur Straße hin gibt sich die Gebäudehaut zwar unerhört perfekt und auch ein wenig technoid - als wollte sie verständlich machen, daß dahinter eine konstruktiv ganz andere Technologie steckt als bei dem Bau der fünfziger Jahre. Und an der Gartenseite geben die Abschattungslamellen vor der Glasfassade einen gewissen Takt vor, der eigentliche Rhythmus dieses bewegten Fassadenbildes entsteht aber durch die unterschiedlichen Reflexionen der grünen Umgebung im Glas.

Steinmayr hat mit Fritz Mascher vor Jahren das Gutachterverfahren gewonnen, bei dem es um Erweiterung und Sanierung der Albertina ging. Seinem bemerkenswerten Projekt, man weiß es leider, war bisher wenig Glück beschieden. Das scheint sich in diesen Tagen zu ändern, die Realisierung einer ersten, wesentlichen Bauetappe steht unmittelbar bevor. Man kann diesem wichtigen Kulturbau in der Bundeshauptstadt höchst gelassen, ja zuversichtlich, entgegenblicken: Denn der Rathauszubau in Lustenau zeigt deutlich, daß hier jemand am Werk ist, der die Gratwanderung zwischen der Referenz vor dem historischen Baubestand und einer dezidiert zeitgenössischen technischen Lösung gepaart mit ebensolcher Materialqualität und Formensprache souverän beherrscht.

20. Juli 1996 Spectrum

Was bleibt, wenn nichts bleibt?

Bis zum Rand sollen sie mit Nutzungen gefüllt werden, die Simmeringer Gasometer, Industriedenkmäler der Gründerzeit. Wer kann so blauäugig sein, zu glauben, daß dabei von ihren singulären Qualitäten irgend etwas erhalten bleibt? Eine Erregung.

Als Farce hat es begonnen, als Tragödie wird es dereinst enden, wenn all das tatsächlich gemacht werden sollte, was derzeit an Projekten für die Umnutzung der Simmeringer Gasometer auf dem Tisch liegt. Denn über eines kann es keine Unklarheit geben: Dieses „einmalige“ Industriedenkmal, das „Wahrzeichen“ von Simmering, über dessen Erhaltungswürdigkeit sich alle so einig sind und dessen Erhaltung durch die neue Nutzung ja auch finanziert werden soll, dieses Wahrzeichen und Industriedenkmal ist dann ruiniert. Und zwar für alle Zeit.

Worin besteht die besondere Qualität der vier Gasometer? Vor allem in diesem gewaltigen, leeren Raum (er hat einen Außendurchmesser von immerhin 64,9 Metern und an der höchsten Stelle eine Höhe von 72,5 Metern) - und dann auch darin, daß es sich um signifikante, intakte Beispiele für die Industriearchitektur der Gründerzeit handelt.

Genau diese beiden Qualitäten würden durch die Realisierung der jetzt vorliegenden Projekte zerstört: Der Innenraum, der so groß ist, daß das ganze Riesenrad hineinpassen würde - wie es immer wieder heißt -, der würde dann bis an den Rand mit Nutzungen gefüllt sein: mit Geschäften, Büros, Lagerräumen, Gastronomie, einem Kindergarten, einem Veranstaltungssaal für 3000 Besucher, einer „Day-Mall“, einer „Night-Mall“ (was auch immer das bedeuten soll) und mit insgesamt mehr als 900 Wohnungen. Es kann niemand so blauäugig sein, zu glauben, daß unter diesen Umständen von der innenräumlichen Qualität der Gasometer irgend etwas erhalten bleibt.

Aber auch der architektonische Wert der äußeren Erscheinung wird durch diese Art der „Revitalisierung“ nicht erhalten, sondern drangsaliert. Man braucht nämlich zusätzliche Öffnungen im Ziegelmauerwerk, das immerhin zwischen 5,4 und 1,65 Meter dick ist, weil man sonst niemals auch nur annähernd akzeptable Lichtverhältnisse erreicht. Diese Öffnungen wird man dort ins denkmalgeschützte Gemäuer schneiden dürfen, wo es „vorgegebene bauliche Vertiefungen“ gibt, etwa innerhalb der arkadenähnlichen Bogenstellungen unter dem Hauptgesims oder den darunterliegenden Konsolen; sie können aber auch „im Sinne einer architektonischen ,Schattenführung‘ entlang der strebepfeilerartigen Lisenen“ geführt werden. Die Zitate entstammen übrigens der Beschreibung des denkmalpflegerischen Konzepts in der Publikation dieses „Revitalisierungsprojekts“.

Durch diese zusätzlichen Öffnungen wird man aber noch immer bei weitem nicht genug Licht in den Innenraum holen können. Daher darf entweder „eine Öffnung der Dachfläche“ vorgenommen werden - oder es darf diese „Dachfläche in fix montierte Glaslamellen aufgelöst“ werden. Wenn also weder das markante Dach mit seiner Laterne unangetastet bleibt noch das kreisrunde Mauerwerk - was ist dann eigentlich noch übrig vom Bestand? Die Haltung des Bundesdenkmalamtes in dieser Causa wäre einen eigenen Kommentar wert. Vielleicht ist es ja auch wahr, was als Gerücht in Wiener Architektenkreisen die Runde macht: Man brauche ein Projekt nur zu „wehdornisieren“ - und schon sei es auch denkmalpflegerisch „gelaufen“.

Gegen dieses Vorhaben lassen sich allerdings keineswegs nur denkmalschützerische Argumente ins Treffen führen. Es spottet auch in anderer Hinsicht jeglicher Vernunft. Die Frage der Finanzierbarkeit zum Beispiel, die ist durchaus ein paar Überlegungen wert. Wieviel an baulichen Maßnahmen ist denn nötig, wenn man die Gasometer füllen will? Es muß die Außenfassade saniert werden, es muß die Innenfassade saniert werden. Das kuppelförmige Dach mit seiner Spannweite von 63,8 Metern muß weg und durch irgend etwas anderes ersetzt werden.

Jeder Gasometer hat im geböschten Bereich ein Wasserbassin mit einem 1,7 Meter dicken, nach oben bombierten Betonfundament. Das muß natürlich auch weg, denn man wird ein neues Fundament brauchen. Das Mauerwerk des Bestands hatte ja bisher keine wesentlichen statischen Funktionen zu erfüllen, also kann man es auch in Hinkunft nicht belasten. Die neuen Einbauten müssen daher selbsttragend sein.

Und dann das Bauen selbst: Es wird doch wohl niemand ernsthaft behaupten wollen, daß Bauen im umbauten Raum nicht wesentlich aufwendiger ist als das Bauen auf der grünen Wiese. Aber eigenartig, trotzdem soll dieses Bauvorhaben zu den Bedingungen der Wiener Wohnbauförderung realisierbar sein. Wenn das möglich ist, dann kann man daraus nur einen Schluß ziehen: Wir wurden bisher mutwillig getäuscht. Wenn das alles möglich ist, dann haben wir in den letzten zehn Jahren bei jedem einzelnen Wohnbau eine erkleckliche Summe verschwendet. Dann wäre es bei gleichem Standard auch viel billiger gegangen. Und damit kommen wir zu einem dritten Stichwort: dem Standard. Der Wiener Wohnbau hat ein hohes Niveau, und darauf hat sich die Stadt bisher auch etwas zugute gehalten. Aber wie wird das in den Gasometern sein? Bisher zum Beispiel haben Architekten die größten Anstrengungen in die Orientierung ihrer Wohnungen investiert. Eine nach Norden gerichtete Wohnung galt als Sakrileg. In den Gasometern wird es jede Menge nach Norden gerichteter Wohnungen geben. Und auch solche, die einfach nicht gut belichtet sein können, weil sie in den unteren Wohngeschossen liegen. Und sie werden alle keinen freien Ausblick haben, weil ihnen eben doch nur eine Wand mit Löchern oder der Nachbar beziehungsweise das Visavis vor Augen steht. Die jetzt publizierte Lesart dieses Faktums besagt zwar, daß gerade darin eine Qualität liege, weil die Umgebung so beschaffen sei, daß erst der fragmentierte Blick sie wirklich erträglich mache, aber wenn das nicht der schiere Zynismus ist . . .

Man muß sich auch klarmachen: Die schönen Architektenzeichnungen mit den großzügigen Innenhöfen täuschen. Und ob der Grünbereich im Projekt Wilhelm Holzbauers überhaupt machbar ist, das ziehen zumindest fachkundige Landschaftsplaner in Zweifel, weil bei dieser Gebäudekonfiguration in den Hof zuwenig Licht fallen dürfte. Dann die Akustik: In den Gasometern wird einiges an Aufwand nötig sein, damit nicht jedes Türknallen gleich eine explosionsartige Geräuschkatastrophe verursacht. Wobei es ausdrücklich festzuhalten gilt, daß es hier nicht um die Schwächen oder Mängel einzelner Projekte geht - schon der grundlegende Konzeptansatz ist falsch.

Freilich kann man den beteiligten Architekten den Vorwurf nicht ersparen, daß sie sich überhaupt auf das Ansinnen eingelassen haben, die Gasometer mit Wohnungen vollzustopfen. Natürlich ist es möglich, für historische Bauwerke neue Nutzungen zu entwickeln. Aber wenn diese Interventionen substantielle Qualitäten des Bestands zerstören, dann kehrt sich der scheinbar gutwillige und verantwortungsbewußte Akt der Erhaltung zur sinnlosen und verlogenen Alibigeste um. Und das müßten Architekten wie Jean Nouvel, Wilhelm Holzbauer, Manfred Wehdorn und die Coop Himmelb(l)au eigentlich wissen.

Die einzigen, die mit ihren Projekten so etwas wie Haltung demonstriert haben, sind Peichl & Weber und Hermann & Valentiny; sie haben immerhin darauf hingewiesen, daß man die Wohnungen genausogut oder sogar besser „draußen“ realisieren könnte. Besonders im Projekt von Hermann & Valentiny ist eine bestechende Alternative zu den Vorhaben zu erkennen, die tatsächlich gebaut werden sollen. Die beiden setzen mit ihrem „horizontal geschichteten“ Hochhaus, einer unheimlich mächtigen, die Gasometer sogar noch überragenden Gebäudewand, ein architektonischen Zeichen, das den historischen Bauwerken sozusagen die Reverenz erweist.

Die Gasometer selbst bleiben in diesem Projekt weitgehend frei: Sie sind Parkplätzen vorbehalten, die man in jedem Fall braucht, und sie bieten ein konzentriertes Angebot an Infrastruktur - von der Veranstaltungshalle bis zum Kindergarten und zur Schule. Bei einem der Gasometer wird dabei übrigens eine Glasüberdachung vorgeschlagen, die Bausubstanz also ebenfalls angetastet.

Und die Idee dahinter? Man macht drinnen 880 Stellplätze und auf diesen Stellplätzen einen Park, also in einer Höhe, in der - wie Landschaftsplaner meinen - tatsächlich etwas wachsen kann. Schließlich wird es in der Umgebung mit Freiflächen für die hier Wohnenden schwer werden: Der kontaminierte Boden des ehemaligen Gaswerks dürfte wohl kaumein guter Spielplatz sein. Bürgermeister Häupl hat in seinem Vorwort zur Publikation über das „Revitalisierungsprojekt“ Gasometer geschrieben, es gebe in Wien genug Platz für unkonventionelle Ideen. Da muß man ihn - angesichts dieses Vorhabens - korrigieren. Nein, es gibt nicht genug Platz, und es gibt auch nicht genug unkonventionelle Ideen.

22. Juni 1996 Spectrum

Vom Anpassen und Einfügen

Unspektakulär steht er da, der Zubau zur Post- und Telegraphendirektion in Linz von Nehrer + Medek - eine solide städtebauliche Lösung. Architekturgeschichte wird er nicht machen.

Die österreichische Post-und Telegraphenverwaltung zählt nicht zu jenen Unternehmen, die ihre Rolle als Bauherren auch als öffentlichen und kulturellen Auftrag verstehen. Anders ausgedrückt: Wenn die Post baut, dann bringt das die Architektur dieses Landes in keiner Weise weiter. Da ist schon viel eher das Gegenteil der Fall. Man muß aber auch fragen: Wo hält sich denn hierzulande überhaupt jene Bauherrschaft versteckt, die dem Architekten im Hinblick auf ein neues Konzept, auf eine zeitgenössische Sprache, möglicherweise sogar auf eine innovative Technologie etwas abverlangt? Es scheint sie in Österreich nicht zu geben - und das wiederum ist merkwürdig genug.

Nun hat also die Post- und Telegraphendirektion in Linz gebaut. Zugebaut, um genau zu sein. Und man kann sagen: Was sie gebaut hat, das wird sicher nicht die Runde durch die internationale Fachpresse machen. Dafür ist diese Architektur zu unspektakulär. Dafür bedient sie sich viel zu bescheidener, herkömmlicher Mittel. Und dafür hält sich der nun - nämlich nach dem Zubau - ziemlich gewaltige Gebäudekomplex eben doch viel zu sehr zurück, er paßt sich an, er fügt sich geradezu besorgt ein. Aber das ist - nach einem kurzen Liebäugeln mit den postmodernen Ausdrucksmöglichkeiten, das schon länger zurückliegt -, das ist nun einmal genau die Art von haltbarem, gesichertem, zeitunabhängigem Vokabelschatz, den das Wiener Architektenbüro Nehrer + Medek seit Jahren pflegt.

Der Schauplatz des architektonischen Geschehens ist relativ zentrumsnah: Hier wurde in den sechziger Jahren eine höchst ambitionierte und anständige Amtsplanung der oberösterreichischen Postdirektion realisiert, die damals noch eine eigene Bauabteilung hatte. Baudirektor Alfred Kolodejs Entwurf umfaßte ein respektables und ziemlich hohes Haus für die technischen Einrichtungen, die eine solche Telegraphendirektion in geballter Ladung braucht, und ein darangestelltes niedrigeres Verwaltungsgebäude. Später hat die Post auch die angrenzenden Grundstücke erworben, auf denen nicht nur ein denkmalgeschütztes Stöcklgebäude aus dem 19. Jahrhundert, sondern auch die Bauten einer Brauerei standen. Übrigens schließen an dieses Areal - allerdings durch eine ziemlich hohe Mauer getrennt - die ehemalige Deutschordenskirche von Lukas von Hildebrandt, das katholische Priesterseminar und die Katholisch- Theologische Hochschule von Hans Puchhammer an.

Diese städtebauliche Situation gab den Architekten einiges aufzulösen, denn die unterschiedlichen Gebäudehöhen des Priesterseminars und des etwas höheren Hauses der Post, zwischen die es die neue Eckverbauung einzufügen galt, waren nicht so leicht in den Griff zu bekommen.

Freilich: Die jetzt realisierte Lösung überzeugt umso mehr: Mit dem Denkmalamt konnten sich die Architekten einigen, daß das Stöcklgebäude verzichtbar sei, es wurde daher abgerissen. Und das Problem mit den unterschiedlichen Gebäudehöhen wurde insofern bewältigt, als ein Teil des Gebäudes in gleicher Höhe an den Baubestand der Post anschließt und in dieser Höhe übers Eck auch weitergeführt wird, allerdings ein ganzes Stück hinter der Baulinie. Davor haben die Architekten dann einen zweiten Bauteil gesetzt, der um ein Geschoß niedriger ist und die Gebäudehöhe des Priesterseminars aufnimmt. Die Verbindung zwischen diesen beiden Baukörpern wird durch eine schräge Oberlichtverglasung hergestellt, die eine allerdings schmale Erschließungshalle wunderbar belichtet. Hier geht es über Galerien und kleine Brücken zu den Büros des Trakts „in der zweiten Reihe“.

Man betritt das neue Haus an der Ecke, an der sich der höhere Bauteil hinter dem niedrigeren vorbeischwindelt. Es geht in ein rundum verglastes Foyer, das räumlich großzügig formuliert wurde. Aber da heute niemand eine großzügige freie Fläche auszuhalten scheint, wurde sie sofort vollgeräumt: mit Zwischenwänden, auf denen derzeit Aquarelle des hauseigenen Personals zu sehen sind. Da wird man auch bei der Post in Zukunft noch einiges hinzuzulernen haben. Vom Foyer geht es weiter in eine relativ große Kantine, die sich von den üblichen Ausspeisungen insofern wohltuend unterscheidet, als die Küche offen und einsehbar ist. Das wirkt nicht nur angenehmlebendig, es nötigt dem Kantinenpersonal auch ein Höchstmaß an Sauberkeit ab, und das wiederum kommt schließlich den Kantinenbesuchern zugute.

Das Treppenhaus liegt am Ende des höheren Bauteils - und zwar dort, wo dieser die Richtung wechselt, wo er einen Haken schlägt. In der Spindel des Treppenhauses ist ein Lift, aber wer ihn benützt, der bringt sich quasi selbst um das räumlche Haupterlebnis der - bei aller Enge - doch attraktiven, von oben belichteten Erschließungshalle. Die hat auf der Ebene des ersten Obergeschoßes eine zunächst rätselhafte Eigenheit in Form lochblechverkleideter Öffnungen nach unten: Es handelt sich um sogenannte Frischluftbrunnen, die die Behörde für den Brandfall vorschreibt. Im übrigen wird der nüchtern weiße Raum langsam, aber sicher von Topfpflanzen sehr unterschiedlicher Größe besiedelt. Das kann man zwar als eine Inbesitznahme der Architektur durch die Benutzer lesen, es dürfte längerfristig aber auch zu einem etwas artfremden Schrebergarteneffekt führen, den es rechtzeitig einzudämmen gilt.

Nehrer + Medek haben ihrem Bau eine extrem schlichte, weiße Putzfassade angemessen, die praktisch mit den gleichen Ausdrucksmitteln arbeitet wie der Bestand, mit Fensterbändern. Was mich daran ein wenig stört: Die heutigen Geschoßhöhen stimmen mit denen des Nachbarbaus nicht überein, daher konnten die Fensterbänder des Neubaus nicht auf der gleichen Höhe wie beim Altbestand sein. Daraus wiederum ergibt sich die Frage, ob es unter diesen Umständen wirklich zwingend ist, das Fensterbandmotiv im Neubau überhaupt aufzunehmen. Andererseits: Es ist wahrhaftig kein Sakrileg, wenn sich die Architekten dazu entschlossen haben, es doch zu tun. Der Architektur von Nehrer + Medek muß man ja generell attestieren, daß sie ohne formalistischen Schnickschnack auskommt und sich lieber auf die pragmatischen Inhalte konzentriert. Das hat in Linz dazu geführt, daß eine wirklich gute städtebauliche Lösung gefunden wurde, obwohl die Randbedingungen alles andere als einfach und ideal waren.

Auch jetzt fällt es einem nicht leicht, etwa die Mauer zur Straße hin zu akzeptieren, die den schönen Gartenhof zwischen Neubau und altem Brauereigebäude abschirmt. Oder den Umstand zu akzeptieren, daß der Blick und der Zugang zur Hildebrandt-Kirche nicht auch von dieser Seite frei sein können.

Weit hinter der Mauer zur Straße, an der Grundstückgrenze zum Priesterseminar, plustert sich, wie erwähnt, eine zweite, noch viel höhere Mauer auf, an die auf der Seite des Kirchenareals noch dazu ein niedriges Nebengebäude anschließt, das diese Barriere sozusagen unverzichtbar macht. Nein, nein, Durchlässigkeit scheint nicht gefragt, dafür ist Abgrenzung angesagt. Immerhin haben es die Architekten geschafft, das voluminöse Raumprogramm so unterzubringen, daß sich wenigstens der Blick auf den oberen Teil der Kirche, über die Mauern hinweg, frei entfalten kann.

Die Arbeitsbedingungen im neuen Haus sind sichtlich angenehm. Und die Ganganschlüsse an die anderen Geschoßhöhen des Altbestands wurden ganz selbstverständlich bewältigt. Am Bestand selbst ist nicht viel geschehen: Der Beton wurde frisch gestrichen, eine Hofeinfahrt beziehungsweise die Zufahrt zur neuen Tiefgarage in den Neubau verlegt, weil die alte Einfahrt längst zu niedrig war. Daß alle Dächer Flachdächer sind, die verordnetermaßen begrünt werden mußten, ist noch einer Erwähnung wert. Ebenso der Umstand, daß im hohen Bauteil des Bestands die Errichtung einer behördlich geforderten Fluchttreppe notwendig wurde. Die wird jetzt realisiert und soll sich um eine vorhandene Betonscheibe winden. Es ist insgesamt ein gutes Haus, im Altbestand und erst recht im Neubau. Und es ist ein sehr anständiges Haus: Denn es signalisiert zwar nach außen, worum es drinnen geht, aber ganz ohne mutwillige Absichten und ganz ohne großes Aufsehen. Das ist eine Qualität, die man schätzen kann. Man könnte sie in diesem Fall aber sicher auch in Frage stellen, obwohl dies keinesfalls zu Lasten der bauenden Architekten gehen darf. Die österreichische Post ist schließlich kein Nobody in der Welt der heimischen Unternehmen, daher wäre von ihr viel, viel mehr einzufordern. Aber da beißt sich die Katze in den Schwanz, und wir müßten eigentlich von vorn beginnen.

11. Mai 1996 Spectrum

Riegel mit Hand, Fuß, Kopf

Ein Niedrigenergie-Bau in Schichten: Die Wohnanlage der Arbeitsgemeinschaft Reinberg-Treberspurg-Raith ist ein Lichtblick im verkehrsgeplagten Stadterweiterungsgebiet an der Brünner Straße in Wien.

Es dürfte sich herumgesprochen haben, daß an der Brünner Straße, im Norden von Wien, eines der großen Stadterweiterungsgebiete der neunziger Jahre liegt. Tatsächlich hatte man lange Zeit das bedrückende Gefühl, hier würden sich sämtliche Baukräne Wiens ein Stelldichein geben. Dabei wurde die Brünner Straße mit der Öffnung der Grenzen zur verkehrsreichen Verbindung nach Tschechien, was der Wohnqualität der an der Straße gelegenen Bauten nicht gerade förderlich ist. Obendrein glänzt dieses auf Biegen und Brechen aus dem Boden gestampfte Areal in weiten Teilen durch die Abwesenheit jeglichen sinnvollen Städtebaus, ganz abgesehen davon, daß die baukünstlerische Qualität desaströs ist.

Und doch konnte man in den letzten Jahren die Entstehung eines Bauwerks beobachten, das Neugier provoziert. Es ist ein Wohnbau, der sich als 300 Meter langer Riegel rechts der Brünner Straße (stadtauswärts gesehen) entwickelt und der schon im Rohbau deutlich hat erkennen lassen, daß er sich von der 08/15-Architektur der Umgebung radikal unterscheidet.

Was man in der Rohbauphase von der Straße aus kaum mitbekommen hat: Das Projekt besteht nicht nur aus diesem Riegel mit einem herausgeschwenkten Kopfbau in Richtung Stadt und einem „Ausleger“ an der stadtabgewandten Seite - es schließt hinter der Abschirmung aus Kopfbau-Riegel-Ausleger auch einen freistehenden Kindergarten ein, außerdem - in zehn fast imrechten Winkel zum Riegel situierten Zeilen - Reihenhäuser, denen jeweils noch ein zusätzliches Wohngeschoß aufgesetzt ist.

Die gesamte Wohnhausanlage stammt von der Arbeitsgemeinschaft Reinberg-Treberspurg- Raith und wurde als „Niedrigenergiebau“ konzipiert. Es handelt sich um Wohnbauten, die über eine Be- und Entlüftungsanlage mit Wärmerückgewinnung und Vorwärmung der Frischluft verfügen und bei denen der Aspekt der passiven Sonnenenergienutzung besonders beachtet wurde. Die Intelligenz des Konzepts kann, gerade im Hinblick auf die problematische Lage an der Brünner Straße, wirklich überzeugen.

Vor allem die Wohnungen im Riegel profitieren von diesem Konzept. Es ist in Schichten gedacht, sodaß die Wohnungen soweit wie möglich zur ruhigen Hofseite hin orientiert sind. Die äußerste Schicht spielt sich dabei in der Fläche ab, denn sie besteht aus einem höchst signifikanten Rankgerüst.

Die zweite, schon deutlich „räumliche“ Schicht besteht aus breiten Laubengängen, die den Wohnungen Erschließungsfläche - und damit eine zusätzliche Pufferzone zwischen Straße und Wohnbereich - vorschalten. Eine dritte, wieder mehr flächige Schicht besteht in einer „Installationswand“, die alle Arten von Leitungen aufnimmt. Erst dahinter entwickelt sich das, was man individuellen Wohnraum nennt, wobei dem eigentlichen Wohnbereich noch eine Schicht vorgeschaltet ist - die Naßräume - und auf die Zone der Wohnräume eine weitere Schicht folgt, ein „Loggiengerüst“ mit nach Süden gedrehten Erkern.

Diese Wohnanlage hat wirklich Hand und Fuß und Kopf. Schon das städtebauliche Konzept ist sinnvoll: Der verdrehte Kopfbau an einem Ende des Riegels und der „Ausleger“ am anderen schirmen gemeinsam mit dem fünfgeschoßigen Riegel das dahinter liegende Areal optimal ab. Das einzige, was sich gegen die Anlage ins Treffen führen läßt, ist die Gestaltung der durchgrünten Freiflächen.

Daß das Rankgerüst an der Brünner Straße mit verschiedenen Kletterpflanzen probeweise begrünt wird, um herauszufinden, welche sich unter den konkreten Bedingungen am besten entwickeln, mag sinnvoll sein. Man kann darüber streiten, ob das für die Rankbögen über Wegen ebenfalls zutrifft. Nicht mehr streiten läßt sich über die monströsen, sündteuren „Designerbänke“. Gerade im Kontext dieser Architektur, der man eine gewisse Schärfe nicht absprechen kann, wirkt dieses gestalterische Chi-Chi abwegig.

Noch eine andere Kuriosität: Die Architekten haben in der Erdgeschoßzone ihres Kopfbaus einen Supermarkt eingeplant. Bei einer Wohnanlage mit 215 neuen Wohneinheiten und noch viel mehr längst bezogenen in den Bauten davor und gegenüber ist eine solche infrastrukturelle Maßnahme nicht überzogen. Dazu wurde hier, im Vor feld des Kindertagesheims, eine Tiefgarage mit 215 Stellplätzen situiert. Nur will sich jetzt kein Supermarkt finden, der hier Einzug halten würde. Man mag dagegenhalten, daß bei einer Anlage dieser Größenordnung nicht alles bis ins letzte Detail stimmen kann. Aber es ist für den Beobachter schwer nachzuvollziehen, warum es bei sorgfältiger Planung an manchen Punkten der Umsetzung hapert.

Der Kindergarten zum Beispiel ist als freistehender Baukörper konzipiert, mit dem Eingang an der Nordseite und einem zweigeschoßigen Wintergarten Richtung Süden. Von der Eingangshalle geht es zu zwei quadratischen Gruppenräumen und der Kleinkinderkrippe, das Obergeschoß ist durch eine interne und eine externe Stiege erschlossen. Die Details des Kindergartens sind liebevoll entwickelt. Besonders die differenzierte Belichtung der Räume wurde genau kalkuliert, den Gruppenräumen sind jeweils Rückzugsbereiche in Form von Nischen zugeordnet, man hat sich auf wenige Materialien - Holz, Putz, Linoleum, Fliesen, Glas - beschränkt. Und doch: Die in den Hauptraum integrierten Elemente wie Stiege, Galerie und Rutsche, allesamt aus Holz, wurden nicht so ausgeführt, wie es der Architekt gezeichnet hatte. Warum, weiß kein Mensch.

Die Wohnanlage von Reinberg- Treberspurg-Raith setzt dennoch Maßstäbe. Die verglasten Laubengänge im Riegel an der Brünner Straße funktionie-ren nicht nur als akustische und klimatische Pufferzone, sie sind auch großzügige räumliche Elemente. Und das zu den Reihenhauszeilen hin orientierte Loggiengerüst mit den nach Süden gewendeten Erkern stellt eine Erweiterung des Wohnbereichs dar. Klarerweise konnten die Wohnungen im Riegelbauwerk wegen der Nähe zum verkehrsreichen Straßenraum nicht querdurchlüftet werden. Das Energiekonzept ist daher gerade in dieser städtebaulichen Situation besonders berechtigt.

Im Kopfbau, der das architektonische Rufzeichen der Anlage darstellt, weil er sich dem aus der Stadt Kommenden schräg entgegenstellt, sind den Wohnungen Wintergärten vorgelagert. Auch die Reihenhäuser haben je einen zweigeschoßigen Verandenbereich. Nur die kleinen Wohnungen, die diesen Reihenhäusern übergestülpt worden sind, müssen sich mit einem schmalen Freiraumbescheiden. Es erscheint überflüssig, bei einer Wohnanlage, die inhaltliche Fragen so dezidiert in den Vordergrund stellt, auf den formalen Aspekt einzugehen. Aber zur Architektur gehört nun einmal die baukünstlerische Umsetzung. Unter diesem Vorzeichen betrachtet, kann besonders das Riegelbauwerk mit seiner zur Straße gekehrten Front überzeugen. Man liest „Rankgerüst“ und sieht in Gedanken eine ländliche Pseudoidylle vor sich. Dem ist mitnichten so! Dieses Wohnhaus gibt sich höchst städtisch, und in der seriellen Abfolge gleicher Elemente über eine so enorme Länge ist auch das Thema Geschwindigkeit ins Bild gesetzt.

Rote und blaue Akzente nach außen, gelbe in den Laubengängen: Das ausgetüftelte Farbkonzept ist nicht aufdringlich, aber doch ein Signal -ebenso die rigorose Einschränkung auf wenige Materialien. So zieht sich im Osten das Loggiengerüst aus Stahl beziehungsweise Stahlbeton-Fertigteilen über die volle Gebäudelänge, ohne die Größe des Bauwerks zu verharmlosen. Es gibt noch keine überprüfbaren Daten über den tatsächlichen Energiebedarf der Anlage, weil sie eben erst fertiggestellt worden ist. Aber die Investition in ein wohldurchdachtes Klimakonzept, das die Energiekosten beträchtlich reduzieren könnte, wird sicher Nachuntersuchungen unterzogen. Auf die Ergebnisse darf man gespannt sein.

27. April 1996 Spectrum

Wer allzuviel auf einmal will

Kein Zweifel: Der Wiener U-Bahn-Bau ist in die Jahre gekommen. Die schlichte Modernität der „ersten Generation“ scheint verloren. Anläßlich der Eröffnung des neuen U6-Teilstücks: ein Vergleich.

Anfang Mai ist es wieder soweit, ein neues Teilstück des Wiener U-Bahn-Netzes wird seiner Bestimmung übergeben. Es umfaßt sechs Stationen - Spittelau, Jägerstraße, Dresdner Straße, Handelskai, Neue Donau, Floridsdorf - und macht aus der U6 Wiens längste U-Bahn-Linie. 13 Bezirke sind nun miteinander verbunden, die Strecke ist 18 Kilometer lang, hat insgesamt 24 Stationen, und wer tatsächlich vom einen Ende zum anderen fahren will - also von Siebenhirten im Süden über die Donau bis nach Floridsdorf im Norden -, der wird das in Hinkunft in 36 Minuten schaffen. Soviel zur Statistik.

Ein solches Ereignis läßt sich auf verschiedene Weise betrachten. Zum Beispiel: retrospektiv. Kein Zweifel, der Wiener U-Bahn-Bau ist in die Jahre gekommen. Als die Architektengruppe U-Bahn - Wilhelm Holzbauer, Heinz Marschalek, Georg Ladstätter und Bert Gantar - vor 26 Jahren mit der Planung der U1 begann, da war auch die architektonische Corporate Identity dieser Verkehrsbauten noch in Ordnung. Und sie brachte dem Team keineswegs zu Unrecht viel Anerkennung und in der Folge sogar den Auftrag ein, die Stationsgebäude einer neuen Metrolinie in Vancouver zu planen. Aber inzwischen ist viel Zeit vergangen.

Wenn man die Stationsgebäude des Wiener U-Bahn-Netzes aus heutiger Sicht betrachtet, dann kommt man nicht darum herum, eine Verwässerung und Abschwächung des ursprünglichen Konzepts zu konstatieren. Bekanntlich verderben viele Köche den Brei. Und der Architektur der Wiener Stationsgebäude hat es nicht unbedingt genützt, daß der „Auftragskuchen“ mehr und mehr portioniert wurde, damit auch andere „zum Zug“ kommen. Der Architektur hat es aber auch nicht nur genützt, daß die Architektengruppe U-Bahn selbst irgendwann einmal - anläßlich der Planung der U3 - zur Einsicht gelangte, sie müsse das Ausgangskonzept ändern und sprachlich „aktualisieren“. Last, not least tut es Verkehrsbauwerken grundsätzlich nicht gut, wenn man allzuviel auf einmal von ihnen will.

Besonders für diesen letzten Aspekt liefert die Station Handelskai ein hervorragendes Beispiel. Sie wurde in eine Art städtebauliche Wüstenei gestellt. Vor Jahren gab es zwar allerhand Pläne, die dieses Gebiet aufgewertet hätten, aber nichts davon wird in absehbarer Zeit realisiert. Also: vorläufig keine Belebung des Viertels, auch keine städtebauliche Bereinigung des Areals, dafür aber eine von den Dimensionen her wirklich riesige Station in Verbindung mit allerlei baulichen Denkwürdigkeiten.

So groß ist die Station deshalb geworden, weil hier einerseits U-Bahn und S-Bahn parallel laufen und andererseits eine weitere S-Bahnlinie kreuzt. Damit nicht genug: Die Wiener Stadtpolitiker wollten gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe treffen. Und daher haben sie mit diesem Teilstück des U-Bahn-Baus auch den Anspruch verknüpft, das Fuß- und Radwegenetz über die Donau hinweg zu verlängern und zu vervollständigen. Wenn man schon eine U-Bahn-Brücke baut, so die Überlegung, dann ist der Mehraufwand für einen Steg, der Fußgängern und Radfahrern zugute kommt, verhältnismäßig gering.

So weit, so gut. Doch wo ist der Steg für Fußgänger und Radfahrer? Oben, auf Höhe der Bahnsteige. Und wo sind die Straßen, von denen Fußgänger und Radfahrer kommen oder zu denen sie wollen? Die sind natürlich unten, auf Bodenniveau. Es galt also einen Niveausprung zu bewältigen, und das hat auf-wendige bauliche Maßnahmen nach sich gezogen. Zusätzlich zur ohnehin gewaltigen Station gibt es daher noch runde, turmartige Rampenbauwerke, mit deren Hilfe das Gefälle sowohl von den Radfahrern als auch von Kinderwagen schiebenden Fußgängern in weitschweifigen Serpentinen überwunden werden kann.

U-Bahn und die parallele S-Bahnlinie sind im Bereich Handelskai in Hochlage geführt. Um der Sache mehr räumliche Spannung zu verleihen, verläuft die U-Bahn-Trasse dabei nicht exakt parallel zur Bahn, sondern schwingt sich in einer sanften Kurve an das Stationsgebäude heran. Das hat wiederum zur Folge, daß nicht nur unter den beiden Trassen „Restraum“ entsteht, sondern auch dazwischen. Überhaupt kommt es hier durch die Vielzahl der notwendigen baulichen Maßnahmen zu „Resträumen“ verschiedenster Art. Man hat sich zwar Mühe gegeben: Zwei solche Resträu-me wurden zum Beispiel mit jeweils drei Pappeln bepflanzt. Aber die Tatsache, daß hier ein unheimlich kompliziertes und überdimensioniertes Verkehrsbauwerk entstanden ist, die läßt sich nicht so leicht kaschieren. (Es scheint überhaupt ein Trend zu sein, daß die Stationsgebäude immer größer werden.)

Derzeit wird in den sechs neuen Stationen nach wie vor auf Hochtouren gearbeitet, und wenn man die Baustellen inspiziert, dann weiß man, daß bis zur Eröffnung am 4. Mai bestimmt nicht alles fertig sein wird. Aber immerhin, die Züge der U-Bahn fahren schon, wenn auch einstweilen nur im Probebetrieb. Eine Station, die fast in Sichtweite des Handelskais - nur die Donauinsel schiebt sich dazwischen - und ebenfalls in Hochlage errichtet wurde, liegt an der „Neuen Donau“. Sie steht auf der Eindeckung der Donauufer-Autobahn und enthält eine kleine, bescheidene EXPO-Reminiszenz in Form eines Parkplatzes: Hier hätte der EXPO-Shuttle seinen „Bahnhof“ haben sollen. Die Lage dieses Stationsgebäudes ist recht spektakulär: Man hat einen wundervollen Ausblick auf das Kleingartengebiet, auf die „Neue Donau“ und hinüber zur Donauinsel. Die Station „Neue Donau“ demonstriert alle Merkmale des aktuellen U-Bahn-Konzepts in Reinkultur: Die Primärkonstruktion ist ein Stahlbauskelett aus mächtigen Raumfachwerksträgern, die sowohl im Bereich der 115 Meter langen Seitenbahnsteige außen liegen (da sind sie am Bahnsteigtragwerk befestigt) als auch im Bereich des Aufnahmegebäudes (da stehen sie vor der Fassade). Im übrigen gibt es viel Glas.

Das Aufnahmegebäude liegt zentral, die Erschließung der Bahnsteige erfolgt jeweils über eine breite Stiege und durch einen 20-Personen-Lift, der rundum verglast ist, um das Sicherheitsrisiko zu minimieren. Das Paneelsystem an Wänden und Decke ist inzwischen bewährt und bekannt, ebenso das frei abgehängte Leitsystem. Die „Möblierung“ ist durchaus sinnvoll in Gruppen konzentriert und überaus solide. Man hat weder Kosten noch Mühen gescheut, um dieses Bauwerk und natürlich auch die Gestaltung der von den Bauarbeiten arg in Mitleidenschaft gezogenen Umgebung so auszuführen, daß sich darin ein materieller Qualitätsanspruch adäquat ausdrückt. Es ist keine Frage, daß es mit dieser sprachlichen Gestik zu tun haben muß, wenn die Wiener U-Bahn-Bauten nicht so sehr von Vandalismus und Schmierereien betroffen sind, wie man sie aus anderen Städten nur zu gut kennt.

Hier wurde nicht am falschen Platz gespart wie bei der U6-Süd, wo aus Kostengründen teilweise auf die Überdachung der Bahnsteige verzichtet wur-de; und hier sind auch die Leitungen nicht sichtbar und sperrig zwischen den Gleisen geführt, als gelte es, Zäune aufzurichten. Insofern stimmt alles. Freilich: Die schnittige Präzision der ersten Generation von U-Bahn-Bauten, die das Thema der Bewegung und Geschwindigkeit architektonisch aufgenommen haben - man denke an die U1-Station „Alte Donau“ -, die hat mittlerweile einer Art von Repräsentation Platz gemacht, die einem auch zuviel werden kann, weil sie einem heutigen Verkehrsbauwerk - im Gegensatz zu den Zeiten Otto Wagners - zumindest nicht in dieser Formentspricht.

Wenn man die Stationen „Alte Donau“ und „Neue Donau“ - und letztere ist die mit Abstand am besten gelungene des neuen Teilstückes - miteinander vergleicht, dann kommt es einem vor, als sei damals, beim Bau der U1, die Sprache der U-Bahn-Bauten eher auf der Höhe der Zeit gewesen, als sie es heute ist. Zumindest war sie selbstverständlicher und nicht ganz so eitel und prächtig. Damit soll der Wiener U-Bahn nichts Schlechtes nachgesagt sein. Das Grundkonzept hat sich längst als richtig erwiesen. Aber die eher schlichte Modernität der „ersten Generation“, die ist verloren.

20. April 1996 Spectrum

Die Freiheit der Bezüge

Offiziell firmieren Gustav Peichl und Roland Rainer als „Autoren“ des Neubaus neben der Wiener Secession. Freilich: Die Architektursprache verrät Rainer als bestimmende Kraft.

Wir haben versucht zu zeigen, was wir unter moderner Architektur verstehen." Roland Rainers Credo zum Thema „Bauen in der Altstadt“ hat weitgehend Gestalt angenommen, das Haus an der Ecke Friedrichstraße- Getreidemarkt wird Anfang Juni eröffnet. Der Bauplatz an der Grenze des ersten Bezirks verdankte sich ursprünglich dem U-Bahnbau: Weil darunter eine U-Bahntrasse verläuft, mußte die Stadt Wien das Grundstück erwerben, und das alte Haus, das darauf stand (übrigens mit dem legendären Gasthaus „Zum Grenadier“, in dem Holzmeister und Wotruba gern gesehene Gäste waren), wurde abgerissen.

Das Grundstück blieb viele Jahre leer, bis unter Bürgermeister Zilk daraus ein Geburtstagspräsent wurde: Die Stadt Wien schenkte den prominenten Bauplatz der benachbarten Akademie der bildenden Künste zu deren 300. Geburtstag, wobei es der Akademie freistand, wie und wofür sie ihn nutzen wollte. Sie hätte dort selbst bauen können, sie durfte ihn aber auch verkaufen. Letzteres ist dann geschehen - eine Bank und ein privater Investor teilen sich nun in den Besitz -, und mit der Kaufsumme wurde der Erwerb von akademieeigenen Ausstellungsräumen und den neuen Räumen für das Kupferstichkabinett finanziert.

Aber das ist schon der letzte Stand. Davor gab es noch eine Phase, in der die Akademie das Haus mehr oder weniger allein nutzen wollte, und in dieser Phase wurden Roland Rainer und Gustav Peichl beauftragt, ein erstes Projekt zu entwickeln, das allerdings nur sehr schwer finanzierbar gewesen wäre. Übrigens firmieren offiziell auch beim jetzt realisierten Projekt Rainer und Peichl als „Autoren“; andererseits - so Roland Rainer - „wurde das gesamte Gebäude bis ins letzte Detail in meinem Büro gezeichnet“. Und das sieht man dem Haus auch an: Es ist architektursprachlich so formuliert, daß man es Roland Rainer zuordnen muß.

Worum geht es? Um ein Haus, das letztlich die Grenze der Wiener Innenstadt markiert, das dem über die Westeinfahrt nach Wien Kommenden ein Signal entgegenmorst, das der „Gegend“ des Karlsplatzes gegenübertritt und die Nachbarschaft zu Secession und Akademie pflegt. Es geht aber auch darum, sehr Verschiedenes unter einem Dach zu vereinen: Auf der Erdgeschoßebene sind kommerzielle Nutzungen angesiedelt - es gibt eine Geschäftspassage, die von der Akademieseite zur Friedrichstraße und zum Karlsplatz führt; hier ist auch der U- Bahnabgang ins Gebäude integriert, und auf einem gedeckten Vorplatz werden gleich drei gastronomische Einrichtungen zu finden sein.

Auf der Ebene des ersten Obergeschoßes - eingeschlossen ein Zwischengeschoß - ist die kulturelle Nutzung durch die Akademie angesiedelt, darüber, auf vier Geschoße verteilt, befinden sich Büros - und ganz oben noch zwei Wohngeschoße, wobei das letzte zurückversetzt ist, sodaß den Wohnungen Terrassen vorgelagert werden konnten.

Es gehört zu Roland Rainers Credo vom „Bauen in der Altstadt“, vom „Bauen in der Großstadt“ und vom „Bauen für die postindustrielle Gesellschaft“, daß sich diese unterschiedlichen Funktionen nach außen sichtbar ausdrücken. Daher war Rainer an der Basis Schwere wichtig, darüber sollte es leicht sein, schweben, und ganz oben kam es darauf an, die Masse des Bauwerks zu relativieren. Diese Nutzungsvorgaben im Verein mit dem spezifischen Standort führten zu einer Fassadenlösung, die Einheitlichkeit bewußt vermeidet. Unten: Steinverkleidungen in Granit, im Arkadenbereich in schwarzem Labrador; darüber ein durchgehendes, schmales Fensterband, das wie ein dunkler Schlitz wirkt und von dem sich der „schwebende“ Kubus des Bürokomplexes mit seiner Haut aus Glas deutlich absetzt.

Bei dieser Fassade handelt es sich um gebrochen grün unterlegte Glasflächen, die durch Fensterbänder mit vorgeschalteten Glasschuppen zum Schutz gegen Schmutz, Staub und Lärm eine horizontale Gliederung erfahren. Die beiden Wohngeschoße heben sich davon durch stark individualisierte Fensterlösungen, durch Loggien und Terrassen ab.

Man sieht, wie sich Roland Rainer ein Haus im großstädtischen Bereich vorstellt. Und man sieht - vis-à-vis von Secession und Akademie - den Unterschied von 100 Jahren. Es gibt keine Achsen, keine Symmetrie, das Haus ist kein Solitär und auch nicht in sich abgeschlossen. Es nimmt Bezüge auf und verwirklicht einen Lieblingsgedanken Rainers: Es setzt die Grenze zwischen öffentlichem Raum und Bauwerk außer Kraft. Das geschieht Richtung Karlsplatz durch die gedeckte Piazza mit dem U-Bahnabgang, es geschieht durch den Arkadengang um die Ecke zum Getreidemarkt. Und an der Seite zur Akademie, wo die Geschäftspassage für eine direkte Verbindung Richtung Karlsplatz sorgt und der Zugang zur „Kulturebene“ liegt, da geschieht es durch einen - über eine Freitreppe erschlossenen - gedeckten Vorplatz im ersten Obergeschoß. Über diesen Vorbereich geht es, an den Garderoben vorbei und unter der Brückenverbindung zum Kupferstichkabinett durch, in die große, zweigeschoßige Ausstellungshalle. Dort bemerkt man zunächst einige Säulen, die zum Teil statische Notwendigkeit waren, zum Teil auch die Ableitungen des Büro- und Wohnkomplexes enthalten. Und es fällt eine schöne Oberlichtverglasung auf, durch die man jetzt noch den „Hof“ darüber sehen kann; später, wenn hier der Ausstellungsbetrieb aufgenommen ist, wird diese Verglasung abgedeckt.

Der von der Akademieseite bis zum Karlsplatz durchgehende Raum hat imposante Dimensionen. Er ist trotzdem nicht bloß eine Schachtel für die Präsentation von Kunst, denn er hat Nischen und niedrigere Raumteile, es gibt eine Galerie - auf die man über eine transparente Holztreppe kommt -, und vor allem gibt es sorgsam inszenierte Bezüge zur Umgebung: zur Karlskirche, zum Naschmarkt, zur Secession, zur Akademie. Die Glasflächen sind in die massiven Wände minuziös hineinkomponiert, sodaß die verschiedenen Öffnungen für jeden Ausblick maßgeschneidert erscheinen, aber immer noch reichlich Wandfläche für die Präsentation von Bildern vorhanden ist.

Durch eine der Glasflächen hat man einen besonders schönen Blick auf die Secession. Von dort ist sie fast schon zum Angreifen nahe. Und tatsächlich hat Roland Rainer ja früher einmal ein Konzept entwickelt, das den Verkehr, der jetzt zwischen Secession und dem neuen Akademiehaus so reichlich fließt, endgültig verbannt. Statt dessen sollte eine verkehrsfreie Piazza zwischen den beiden Häusern vermitteln. Nun, dieses Konzept wird so bald nicht Wirklichkeit werden, die Fußgängerzone zwischen Akademie und dem neuen Haus wird es hingegen bald. Und man darf annehmen, daß viele, die vom Schillerplatz kommen und Richtung Karlsplatz oder U-Bahn streben, die Möglichkeit der Abkürzung durch die Geschäftspassage zu schätzen wissen.

Das Haus hat 300 Millionen Schilling gekostet, das ist keineswegs besonders viel. Rainer hat sich auch relative Zurückhaltung auferlegt, denn es gibt nur eine sehr begrenzte Anzahl unterschiedlicher, dabei keinesfalls luxuriöser Materialien - Glas (durchsichtig und unterlegt), Stein (Granit und Labrador), Metall (Stahl und Aluminium), Sichtbeton und im Innenausbau wenig Holz.

Das Haus - so will es der Architekt, und so soll es wohl auch sein - artikuliert seinen großstädtischen Anspruch in aller Deutlichkeit. Nur: Was sich heute gelegentlich großstädtisch aufplustert, ist eines, was Roland Rainer darunter versteht, etwas anderes: Lebendigkeit, Offenheit, der Kontrast zwischen Schwere und Leichtigkeit, das gewichtslose Schweben, der Bruch mit der Symmetrie - und daß sich die architektonische Rede nicht am überholten (hermetisch verschlossenen) Solitär festmacht, sondern an der freien und freiwilligen Bezugnahme auf das städtische Umfeld; das könnte man als die Quintessenz dieses Statements von Roland Rainer bezeichnen.

30. März 1996 Spectrum

Der Sieg über das Satteldach

Nobel und unspektakulär steht sie da, die Musterwohnhausanlage von Helmut Christen in St.Pölten - realisiert gegen den ursprünglichen Widerstand der Bauträger. Chronik eines Langzeitprojekts.

Man kann über die niederösterreichischen Bauaktivitäten vieles sagen, aber sicher nicht, daß der Wohnbau ein architektonisch relevantes Thema sei. Die Satteldachwirklichkeit läßt sich nicht wegzaubern. Das hat auch Architekt Helmut Christen vom Wiener „Atelier in der Schönbrunner Straße“ zu spüren bekommen, als es um die Realisierung einer Musterwohnhausanlage in St. Pölten ging. Christen hat den zweistufigen, landesweit offenen Wettbewerb für diese Wohnanlage im Frühsommer 1992 für sich entschieden. Nur war damit noch nichts gesagt: Denn erst danach, im Kampf um die möglichst ungeschmälerte Realisierung, nahm das Leiden für Architekt und Mitarbeiter so richtig seinen Anfang.

Die erste Runde ging an die Bauträger: Ursprünglich waren es vier, weil die Tiefgarage aber einem Parkplatz weichen mußte, reduzierten sich auch der Baugrund und in der Folge die Anzahl der Bauträger - am Ende waren derer nur noch drei. Und alle drei erklärten unisono: Das ist sehr schön, Herr Architekt, was Sie da geplant haben - aber bauen kann man das natürlich nicht.

Was ist es, was man so gar nicht bauen kann? Es ist eine Wohnanlage auf der grünen Wiese, die in ihrer endgültigen Form 147 Wohnungen umfaßt, davon 40 Apartments, in einem städtebaulich als Rückgrat der Anlage ausgebildeten Block, und 107 Wohnungen - zwischen 50 und 90 Quadratmetern. Was die Bauträger am meisten schockierte: Die Häuser haben keine Satteldächer, sondern Flachdächer, außerdem erreicht Christen durch das Herauslösen der Stiegenhäuser aus seinen Wohneinheiten eine lebendige Gliederung.

Christen zielte auf zweierlei: Erstens sollten alle Wohnungen gleichwertig sein; das wurde durch die konsequente Ost-West-Orientierung erreicht. Die Eingangsbereiche und Schlafräume sind stets im Osten gelegen, nach Westen orientieren sich die individuellen Freiräume und die Wohnbereiche. Zweitens sollte es, auch als Gegensatz zur Gleichwertigkeit der Wohnungen, eine Differenzierung in der Bedeutung der Freiflächen im Siedlungskörper geben. Christen macht die Aufschließung sichtbar: wie einer nach Hause kommt, weggeht, den Kinderwagen vor der Tür abstellt. Der Grundgedanke war, daß durch die Darstellung solcher Funktionen in den Gassenräumen der Siedlung Leben und Kommunikation entstehen könnten.

Christen relativierte den reinen architektonischen Raum, wie er zwischen den rhythmisierten Einzelgebäuden besteht, zu einer Art kollektivem Wahrnehmungsraum. Man müßte viel ausführlicher vom Entstehungsprozeß dieser Anlage reden: davon, daß mehr als ein Jahr über Wohnungsgrundrisse und Materialien diskutiert wurde; davon, daß eine eigene Errichtungsgesellschaft gegründet werden mußte, weil klar war, daß die Wohnbauträger, auf sich gestellt, das Projekt zu Fall bringen würden; davon schließlich, daß am Ende der pensionierte Landeshauptmann Siegfried Ludwig zum Repräsentanten des größten Wohnbauträgers mutierte und in dieser Eigenschaft die Realisierung forcierte, indem er ultimativ auf einem Entweder-Oder bestand.

Man glaubt all das kaum, wenn man St. Pöltens Musterwohnhausanlage jetzt betrachtet - sie gibt sich so nobel und unspektakulär, so gar nicht laut oder aufdringlich. Der Hauptzugangssituation in die Anlage ist ein signifikantes, zweigeschoßiges Parkdeck vorgeschoben, das nur durch ein transparentes Flugdach gedeckt ist: Nachdem die Tiefgarage gefallen war, mußten 150 Parkplätze geschaffen werden. Christen: „Die Gefahr war groß, daß das Ganze zum Parkplatz mit Häusern wird.“ Ein Großteil der Autos ist nun wirklich auf einem Parkplatz untergebracht, der kleinere Teil steht im zweigeschoßigen Parkdeck.

Gleich hinter diesem öffnet sich eine der Gassen, die Christen als Wegesystem durch seine Anlage gelegt hat. Sie führt entlang des Rückgrats dieser Siedlung: Es ist der Apartmentblock, der massiv dasteht, nur durch drei Einschnitte gegliedert. Christen hat sich für eine Laubengangerschließung entschieden. Und er hat die Erdgeschoßzone des Apartmentblocks frei gelassen. Im Wettbewerb wurde diese Zone noch als „überdachter Marktplatz“ tituliert; damals wurden für ihre Nutzung eine Sauna, ein Café und ein Kinderhäuschen vorgeschlagen. Nichts davon wurde realisiert, aber die baulichen Vorkehrungen dafür wurden getroffen, sodaß die Mieter einen Entwicklungsspielraum vorfinden, den sie nach Belieben nützen können. Rechter Hand vom Apartmentblock öffnet sich der gedeckte Marktplatz auf einen dreieckigen grünen Platz, der prädestiniert ist als Spielfläche für Kinder.

Der Apartmentblock ist nicht exakt in der Mitte in die Anlage hineingeschoben, sondern asymmetrisch. So ergeben sich links und rechts davon unterschiedlich ausgedehnte Wohnhausformationen, die durch die offenen Stiegenhäuser, die betonten Eingangssituationen und die deutlich erkennbaren Freiflächen, die jeder Wohnung zugeordnet sind, eine spezielle Charakteristik erhalten.

Ursprünglich war jeder Wohnung ein Freibereich zugeordnet, doch dann kam es in Niederösterreich zu einer Änderung der Wohnbauförderung, sodaß die 110-Quadratmeter-Wohnungen, die Christen teilweise vorgesehen hatte, nicht mehr finanzierbar waren. Man teilte die Wohneinheiten jeweils in eine Wohnung mit zirka 70 und eine „Einliegerwohnung“ mit etwa 50 Quadratmetern, wobei letztere keine Freiflächen hat. Wichtig ist, daß die angebotenen Freiflächen auch sinnvoll genutzt werden können. So ein Mietergarten in der Erdgeschoßzone ist zwischen 40 und 50, eine Terrasse 25 bis 30 Quadratmeter groß. Die Mieter sind im Spätherbst oder Winter in die Anlage eingezogen. Viele von ihnen kommen aus Wien oder jedenfalls aus einem herkömmlichen Geschoßwohnungsbau, in dem der Hausmeister für einen schneefreien Gehsteig zu sorgen hat. Die offenen Stiegenhäuser müssen vom Schnee gereinigt werden, aber den Hausmeister, der den Bewohnern diese Arbeit abnehmen würde, gibt es hier nicht. Es ist wirklich wie auf dem Land: Dort schaufelt auch jeder vor seiner eigenen Tür.

Aus architektonischer Sicht vermitteln die Häuser in mehrfacher Hinsicht einen angenehmen Eindruck: Erstens scheinen sie modulartig aufgebaut und nach oben „ausgedünnt“; das legt die Vermutung nahe, die Häuser könnten in Skelettbauweise errichtet sein. Tatsächlich war es ursprünglich so gedacht; doch die Ziegellobby ist hierzulande unschlagbar. So bestehen die Häuser jetzt aus 25 Zentimeter starkem Hohlblockmauerwerk. Ein zweiter Aspekt, der die Häuser angenehm erscheinen läßt, ist die beschränkte Materialvielfalt. Das fängt damit an, daß Christen hauptsächlich „Nichtfarben“ wie Weiß und Grau verwendet hat - außer in den Einschnitten des Apartmentblocks, wo auch Rot und Gelb auftauchen, und bei den Beschriftungen.

Sonst sieht man nicht viel mehr als Holz (an den Fenstern, als Belag auf den Terrassen, als Abgrenzung bei den Vorgärten), Glas und verzinktes Metall. Christens Wohnanlage ist dabei nicht minimalistisch, sie ist auch nicht puristisch. Aber sie bleibt bei der Sache.

Bei einer internen Besprechung mit seinen Mitarbeitern, erzählt Christen, sei man zum Resümee gekommen, daß man sich gut geschlagen habe: An die 95 Prozent der Zielvorstellungen seien verwirklicht worden. Außerdem habe das Büro eine Menge gelernt, zum Beispiel, wie man argumentativ gegen Vorurteile ankämpft.

Als distanzierter Beobachter tut man sich mit solchen Einsichten schwer. Man tut sich überhaupt schwer mit dem Verhalten gewisser Bauträger und fragt sich: Leben die eigentlich auf dem Mond? Wieso kann eine Wohnanlage wie die von Christen geplante zu einem derartigen Langzeitprojekt werden? Warum kann einer allen Ernstes sagen: Das ist ja sehr schön, was Sie da geplant haben, Herr Architekt, aber daß es nicht baubar ist, wissen Sie schon?!

Schauen sich Bauträger eigentlich manchmal Architekturzeitschriften an, informieren sie sich an Ort und Stelle darüber, was anderswo gebaut wird? Es bleibt zu vermuten, daß sie es nicht tun. Sonst wäre ein so absurdes Verhalten gegenüber einer absolut nicht modischen, substantiell auf die Wohnqualität hin entwickelten Architektur schwer vorstellbar. Oder ist es denkbar, daß heute jemand argumentiert, man dürfe Wohnhäuser ohne Satteldach nicht bauen?

So wird es in Wahrheit natürlich nie ausgedrückt, die Argumentationen sind viel subtiler. Trotzdem laufen sie darauf hinaus, daß ein Haus mit Flachdach und offenem Stiegenhaus nicht baubar ist. Christen hat sich mit keiner gängigen Architekturmode, er hat sich nicht mit dem Zeitgeist gemein gemacht. Er hat klar und rigoros die Schwerpunkte der Planung für sich festgelegt. Über sein Prinzip, daß alle Wohnungen gleichwertig sein müssen, könnte man streiten. Andererseits kann man dem Architekten auch wieder folgen, wenn er sagt: Wer in eine solche Wohnanlage zieht, erwartet sich, daß seine Wohnung nicht schlechter ist als jene des Nachbarn. Da ist etwas dran.

Im übrigen: Gar nicht weit entfernt von Helmut Christens Wohnanlage entsteht gerade eine zweite „Musterwohnanlage“ - von den Vorarlberger Architekten Carlo Baumschlager und Dietmar Eberle. Sie wächst in rasantem Tempo vor sich hin. Vielleicht sind - allen gegenteiligen Vermutungen zum Trotz - sogar Bauträger lernfähig?

9. März 1996 Spectrum

Lernen in der schönsten Blüte

Eine Sonnenblume als Schule: Klasse in Blütenblättern, Höfe und Gassen dazwischen. Zvi Hecker hat dieses kleine Wunderwerk in Berlin errichtet. Ein architektonisches Abenteuer von Seltenheitswert.

Peter Cook erscheint es „ungeheuer wohltuend zu sehen, wie alle diese verklemmten Kritiker um die passende Kategorisierung“ des Schaffens von Zvi Hecker bemüht sind. Ihr angestrengtes Fragen, ob diese Architektur nun deutsch, jüdisch, geometrisch, dekonstruktivistisch, soziozentrisch, zersetzend, anarchisch oder vielleicht vom Mars sei, läßt den Briten mit der spitzen Feder verbale Kapriolen schlagen. Und tatsächlich: Die Architektur dieses israelischen Architekten gibt einem einiges aufzulösen.

Es geht um eine simple Schule, die in Wirklichkeit gleich in zweifacher Hinsicht ganz und gar nicht simpel ist. Erstens, weil sie architektonisch etwas so Außergewöhnliches verkörpert, zweitens, weil es sich umeine jüdische Grundschule handelt - die erste, die in Berlin gebaut wurde, seit die Nationalsozialisten die jüdischen Schulen geschlossen haben. Und man kommt nicht umhin, diese spezifische Bedeutung des Baus noch heute zur Kenntnis zu nehmen: Bewacher rundherum, ein hermetisch verriegelter Zugang, fünf Zentimeter dicke, kugelsichere Glasscheiben bei Türen und Fenstern.

Zvi Heckers , am Rande des Grunewalds, auf einem schönen, baumbestandenen Gelände. Schon beim Eingangsbereich grüßt ein abstraktes Signal: „Löcher“ in einer Betonscheibe, die sich schwungvoll um eine Mitte zu bewegen scheinen. Entziffern kann dieses Signal wohl nur, wer um die künstlerischen Obsessionen des Architekten weiß, der in Israel ein Spiralhaus gebaut hat, über eine Wohnanlage in der imaginierten Form von „Berliner Bergen“ nachdenkt und seine Schule als gebaute Transformation einer Sonnenblume bezeichnet.

Ein Haus wie eine Sonnenblume, eine Sonnenblume wie ein verschachtelter Komplex von Baukörpern, durch die sich eine Schlange (die Erschließungsgänge) windet, die an einer Stelle einen Berg berührt - eine kleine, autonome Stadt, gemacht für kleine, neugierige und abenteuerlustige Städter. Hekker sagt zwar von seiner Schule, daß sie nicht groß sei. Aber wer dieses Gebäude kennt, gewinnt den gegenteiligen Eindruck.

Das hängt damit zusammen, daß die verschiedenen Funktionen des Hauses auseinanderdividiert sind, daß sie in der Breite beziehungsweise im Kreis eines zur Straße hin ein wenig abge-blätterten Blütenblattstandes arrangiert scheinen. Zwischen diesen schwungvoll gekrümmten, spitzwinkligen Blütenblättern lassen sich Höfe, Gassen, Schluchten entdecken und völlig neue, gewandelte Bilder der Architektur.

Es sind sechs separate Baukörper, die eine als Platz formulierte Mitte umkreisen und durch einen wild geschlängelten Erschließungsgang miteinander verbunden sind. Die einzelnen Baukörper scheinen auf dieser silbrig glänzenden Schlange - sie hat eine Haut aus Trapezblech -aufgefädelt zu sein, sie dringt in die Körper auf der einen Seite ein und kommt auf der anderen wieder heraus, und so geht es einmal fast rundum.

Das von außen sichtbare Resultat dieses Konzepts ist dramatisch. Vor- und Rücksprünge, Durchdringungen, Überschneidungen bilden sich ab, frappierende Nähe, dann wieder Zwischenraum, der schon reizvoller Raum ist. Hecker hat rohen Beton, Trapezblech, weißen Putz und einiges mehr an den Fassaden kollidieren lassen, immer wieder unterbrochen von den rotbraunen, plastisch ausgebildeten Fenstern und Türen.

Im Haus selbst: Klassenzimmer - mit angeschlossenen Freizeiträumen, weil es sich um eine Ganztagsschule handelt -, von denen keines dem anderen gleicht; ein Veranstaltungssaal - er kann auch als Synagoge dienen - in der Form einer Geige; ein räumlich extrem zugeschnittener Medienraum; ein Turnsaal, der unter Niveau abgesenkt ist und auf einen ebenfalls abgesenkten Freibereich hinausführt; ein Speisesaal mit angrenzender koscherer Küche. Überhaupt ist es eine sehr gut ausgestaltete Schule - eine jüdische Schule, die aber offen ist für Schüler anderer Konfessionen.

Zvi Heckers architektonischer Ansatz ist zweifellos extrem. Hecker ist kein Architekt, der Konfektion auch nur in Erwägung ziehen, auch keiner, der sich mit der Wiederholung einer einmal entwickelten Lösung begnügen würde. Seine Architektur erscheint vor dem Hintergrund des aktuellen Baugeschehens als ein gedankliches, ein künstlerisches Abenteuer, das mit unerhörter Konsequenz vorangetrieben wird. Seine Architektur ist die Ausnahme von der gebauen Regel.

Das Haus ist gewissermaßen eine räumliche Skulptur. Und wenn man es mit Hecker selbst besichtigt, ist er es, der einen auf so manche Ungereimtheit aufmerksam macht: „Das ist ein Fenster zum Studium des Korrosionsprozesses“, sagt er mit trockenem Humor über eine Situation, in der Schlange und Baukörper beinahe kollidieren. Hecker reagiert gelassen, wenn man ihn auf die unglaubliche Qualität des rohen Betons anspricht. Nein, den Preis für Sichtbeton habe man sich nicht geleistet. Aber nicht aus Geiz, sondern weil rasch klar wurde, daß die beauftragte Firma nicht in der Lage war, Sichtbeton in einer Qualität zu liefern, die den entsprechenden Aufpreis gerechtfertigt hätte.

Heckers Entscheidung fiel radikal aus: dann eben nur ganz gewöhnlicher Beton, dessen Oberfläche man allerdings in ihrer ganzen Unvollkommenheit sieht. Er ist wirklich so roh und ungeschönt, daß er Bände spricht. Eine Erzählung handelt davon, daß nicht alles, was heutzutage baulich hochgezogen wird, von Maschinen hergestellt werden kann; hier ist die Rede von menschlicher Handarbeit mit all ihren Unzulänglichkeiten. Tatsächlich geht man stellenweise unter den Betondecken durch wie unter einem tachistischen Kunstwerk, in das sich der Rost der Eisenbewehrung für alle Zeiten eingeschrieben hat. Zvi Hecker: „Architekten tun sich in der Regel schwer damit, Künstler weniger.“

Natürlich ist eine solche Architektur nicht zu verallgemeinern. Hecker ringt um eine Baukunst jenseits modischer Aktualitäten, die getragen ist von subjektiven Obsessionen, dabei aber doch Nutzungsansprüchen genügt. Es braucht Zeit, bis man sich in diesem Bauwerk zurechtfindet, und ein Bewußtsein der Möglichkeiten des Besonderen in der Architektur, um sich generell damit anzufreunden.

Gerade weil es der erste jüdische Bau nach so langer Zeit in Berlin ist, waren alle Beteiligten bereit, ein architektonisches, baukünstlerisches Risiko einzugehen - allerdings nur mit Abstrichen: Hecker mußte überarbeiten, verändern, nicht zuletzt um den rigorosen Baubestimmungen einigermaßen zu entsprechen. Im Martin-Gropius-Bau war kürzlich eine Ausstellung zu sehen, die den Prozeß der Entstehung dieser Schule und die verschiedenen Planungsphasen dokumentierte: Bände von Tagebüchern, in denen die gedanklichen Kreise Heckers um seinen Schulbau verzeichnet sind, verschiedene Modelle, Photographien.

Fast zeitgleich mit der Eröffnung des Hauses ist im Wasmuth Verlag, Tübingen, ein Buch über die Schule erschienen. Es enthält nicht nur Material zur Architektur, sondern gibt auch Aufschluß darüber, welche Bedeutung diesem Gebäude in der deutschen Metropole beigemessen wird. Doch das spannendste Ereignis bleibt die Architektur. In der heutigen Zeit ist es immer aufregend, wenn jemand die Kraft aufbringt, die geltenden Regeln - Kosten, Nutzen, Funktionalität, Effizienz - zu durchbrechen und auf der Seite zu agieren, wo Bauen noch etwas mit echter, authentischer Kunst zu tun hat, wo Bauwerke noch abenteuerliche, nie zuvor gesehene Räume eröffnen und wo es um die außergewöhnliche Erfahrung der Begegnung mit der Kunst des Raumes geht. Man mag sich der Architektur noch so pragmatisch annähern, irgendwo gibt es ihn doch, diesen Qualitätshorizont jenseits des Herkömmlichen.

Wenn es jemandem gelingt, auf dieser anderen Seite zu agieren, dann gilt nichts mehr, was man sonst an Maßstäben anlegt. Merkwürdig und denkwürdig dabei ist, daß auf dieser Ebene die innovative technologische, konstruktive Leistung, die eher meßbar ist, nicht höher rangiert als der individuelle künstlerische Ausdruck, mag dieser noch so traditionell, so handgestrickt realisiert sein. Es ist wie mit dem Bild, der Skulptur und dem medialen, interaktiven Konzept: Letzteres mag ein intellektuelles Spektakel sein - Francis Bacon hat seine Bilder im Vergleich dazu herkömmlich produziert; trotzdem werfen sie einen um. Mit der Architektur von Zvi Hecker ist es nicht anders.

17. Februar 1996 Spectrum

Kautschuk und Sichtkontakt

Wie zeitgemäß darf die Architektur eines Bauwerks der Gemeinde Wien sein? Markus Geiswinklers Kindergarten im Stadterweiterungsgebiet Brünner-Straße-Ost: ein Nachruf auf eine bessere Vergangenheit?

Wie zeitgemäß darf die Architektur eines Bauwerks sein, das im Auftrag der Gemeinde Wien geplant wird? Die Frage stellt sich neuerdings mit unangenehmer Dringlichkeit: im Bereich des Schulbaus, aber auch bei den Kindergärten. Verglasungen? Womöglich geklebt? Leichtbauweise? Vorfertigung? Beton? Oh nein, all das kann, darf und soll in Wien künftig nicht mehr sein. Hier haben Glasscheiben von dicken Rahmen gehalten zu werden und Wände aus Ziegeln gemauert zu sein.

Unter diesen Vorzeichen betrachtet, nimmt sich der gerade fertiggestellte Bauteil eins eines Kindergartens im 21. Bezirk als architektonischer Nachruf auf eine bessere Vergangenheit aus. Geplant wurde das Bauwerk von Markus Geiswinkler. Er zählt zu den wenigen Vertretern einer jüngeren Wiener Architektengeneration, die das Glück haben, gelegentlich zumBauen zu kommen, obwohl sie erfrischend transparente, leichte Architekturvorstellungen haben - und nicht massiv geziegelte. In diesem Sinn ist auch Geiswinklers Mehrzwecksaal im Hof des Bezirksamts von Favoriten sofort aufgefallen.

Genauso verhält es sich nun beim neuen Kindergarten. Dieser gehört zum großen Stadterweiterungsgebiet Brünner-Straße-Ost, liegt aber an der rückwärtigen Kante der Bebauung. Das bedeutet für ein ambitioniertes architektonisches Unternehmen an sich nichts Gutes, denn die neue Wohnbebauung rundherum ist ein baukünstlerischer Schandfleck von Wien. Wettgemacht wird die Misere nur durch die schöne Lage am Marchfeldkanal.

Jedenfalls soll der Kindergarten einmal acht Gruppen- und zwei Bewegungsräume umfassen, aber weil zu Beginn der Planung ein fünf Meter breiter Streifen des vorgesehenen Areals noch nicht im Besitz der Gemeinde Wien war, mußte das Bauwerk so geteilt werden, daß der jetzt bezogene Bauteil gegebenenfalls auch allein stehen könnte.

Von außen und von der Straße aus betrachtet, ist das ebener- Haus von fast strenger Schlichtheit und Modernität. Die Glasflächen sind nicht einmal besonders groß, die Wände aus Beton, nur ein Rundumlauf aus Holzbohlen im Dachbereich könnte einem wie ein materialmäßiger und ästhetischer Bruch des Gesamtbildes erscheinen. In einem verglasten Einschnitt in dieser Südfassade führt eine gewendelte Metallstiege, offenkundig ein Industrieprodukt, zum Dach hinauf, was irgendwie neugierig macht.

Die östliche Ecke des Bau- werks ist besonders formuliert. Hier geht es zum Eingang über einen überdachten Vorplatz hinweg, der einen deutlich ins Gebäude hineinzieht, weil der Kautschukboden, der auch in der großzügigen Erschließungshalle liegt, bis hier heraus verlegt ist. Unter dem Vordach: drei Stützen, von denen die beiden leicht schräg gestellten reine Zugstäbe sind, sodaß nur die senkrechte wirklich „trägt“. An der westlichen Gebäudeecke liegt der Bewegungsraum, der vorläufig, solange der zweite Bauteil nicht realisiert ist, als provisorische Heimstatt der allerkleinsten Kinder dient. Von hier gibt es an der Nordseite, über Rampen, einen direkten Ausgang in den Garten.

Die Nordseite öffnet sich mit ihrer großzügigen Verglasung zum Garten und zum Marchfeldkanal. An zwei Stellen sind überdachte Loggien in diese Fassade eingeschnitten. Geiswinkler hat für die Gruppenräume, die hier nebeneinander angeordnet sind, eine Leimbinderkonstruktion gewählt. Die drückt sich nach außen sichtbar aus, sorgt für einen schönen, geordneten, keinesfalls lauten Rhythmus und macht die Raumabfolge ablesbar. In der warmen Jahreszeit werden diese Gruppenbereiche für die Kinder wundervoll nutzbar sein, im Winter tröstet der Ausblick zum Grünufer des Marchfeldkanals.

In einer Ecke des Gartens steht ein recht spartanisches, ganz und gar nicht niedliches kleines Gebäude: Es wird einmal Gartenund Spielgeräte aufnehmen. Außerdem führt auch hier, an der Gartenseite, vom Dach ein direkter Abgang herunter. Die Geschichte mit dem Dach hat mit dem noch nicht realisierten Bauteil zu tun: Geiswinkler fand enge Platzverhältnisse vor. Aufgrund der vorgegebenen Baufluchtlinien war es ausgeschlossen, die acht Gruppen- und zwei Bewegungsräume mit all den Nebenräumen, die ein Kindergarten braucht, ebenerdig zu planen.

Für die Kinder wäre ein direkter Zugang zum Garten zwar am schönsten, aber es ging nun einmal nicht. Daher wird der zweite Bauteil zweigeschoßig sein. Die benachteiligten Kinder, deren Gruppenräume oben liegen, werden über eine kleine Brücke auf das Dach von Bauteil eins hinüberwechseln können und dort einen befestigten Spielplatz mit Sandkiste und eine richtige Wiese vorfinden.

Der Rundumlauf aus Holzbohlen, den man von der Straße aus sieht, hat mit dieser Lösung zu tun. Die Kinder können vom Obergeschoß von Bauteil zwei hinüber auf ihren eigenen Dachgarten; sie können von dort direkt in den Garten hinunter und über die Wendeltreppe direkt in die große Erschließungshalle bziehungsweise zum Bewegungsraum und wieder in den Garten. Diese geschickte Durchwegung des Hauses ist jetzt schon eine große Qualität; wenn der zweite Bauteil realisiert ist, wird sie für die Kinder ein spannendes Raumerlebnis sein.

Das Konzept dieses Bauwerks besticht durch seine unauffällige, aber irgendwie zwangsläufige Präzision. Die „dienenden“ Bereiche des Hauses sind zur Straße, zur Wohnbebauung, nach Süden orientiert. Dieser Teil ist in Massivbauweise - in Beton - ausgeführt. Die Gruppenräume mit der schönen Leimbinderkonstruktion, die eben diese Durchgängigkeit von innen nach außen möglich macht, schauen nach Norden.

Deshalb ist auch kein Sonnenschutz erforderlich, und der wunderbare Ausblick kommt voll zum Tragen. Und doch - auch eine kleine Besonderheit an diesem Konzept - liegen die Gruppenräume nicht vollständig im Schatten. Im Gegenteil: Betritt man sie an einem sonnigen Tag, ist man von der Lichtstimmung in diesen Räumen beeindruckt - und von den Sonnenstrahlen, die durch schmale Oberlichtbänder ganz oben und an der Südwand hereinfallen.

Kleinigkeiten fallen auf: wie durch die Verglasung des Einschnitts in der Südfassade, wo die Wendeltreppe ist, zusätzlich Licht ins Haus hereingeholt wird; oder wie in der Überdachung der beiden Loggien zum Garten zusätzlich ein Oberlicht plaziert ist. Höchst angenehm macht sich bemerkbar, daß nur wenige verschiedene Materialien in diesem Haus verwendet worden sind. Der graue Kautschukboden zieht sich durch alle Räume, bis hinaus auf den Vorplatz; eine Differenzierung gibt es insofern, als er in den stärker beanspruchten Bereichen, etwa der Erschließungshalle, genoppt und in den Gruppenräumen glatt ist.

Es gibt viel Glas in diesem Haus - übrigens auch solches, das „nur“ geklebt ist. Dadurch kommt eine Vielzahl von Durchblicksmöglichkeiten und Ausblicken hinaus zum Garten zustande, und das Gebäude ist lichtdurchflutet. Selbst in der zentralen Erschließungshalle, von der es links zu den Nebenräumen und rechts zu den Gruppenräumen geht, ist es hell. Das hat auch damit zu tun, daß alle Wände zu dieser Halle Oberlichten haben. Sichtkontakt besteht außerdem zwischen den einzelnen Gruppenräumen. Sie sind durch Leichtbauwände voneinander abgetrennt, aber durch eine auf die kindliche Augenhöhe abgestimmte Verglasung wieder miteinander verbunden.

Natürlich konfrontiert die heutige Pädagogik den Architekten, gerade wenn es um sehr kleine Kinder geht, mit einem scheinbar unumstößlichen Anforderungsprogramm. Für den Nichtpädagogen ist schwer nachvollziehbar, warum zum Beispiel ein Gruppenraum nicht in erster Linie großzügig sein und Raum zum Spielen bieten soll, sondern unbedingt Nischen haben muß. Geiswinkler hat sich diesem Problem gleichzeitig gestellt und gefinkelt entzogen: Er hat einen mobilen, 2,20 mal 2,20 Meter großen und wegen der Belichtung nach oben offenen Container entwickelt, in dem nicht nur verstaut werden kann, was gerade nicht gebraucht wird, sondern der sich auch nach Wunsch verschieben und aufstellen läßt. So entstehen die Nischen von selbst, dem Raum aber ist nichts von seiner Großzügigkeit genommen.

An dieser Stelle wird ein Exkurs unvermeidlich. Er bezieht sich auf das Mobiliar, auf das der Architekt selbstverständlich keinen Einfluß nehmen durfte. Etwas so Absurdes wie die Möblierung dieses Hauses sieht man selten. Auf der einen Seite ein Architekt, der sich bemüht, großzügige Flächen anzubieten, damit sich die Kinder rühren können; auf der anderen Seite Kindergärtnerinnen - oder Magistratsbeamte, wer weiß das schon so genau -, die alles mit Möbeln vollstopfen, sodaß nicht der kleinste durchgehende Freiraum bleibt, weil man überall an Sessel, Tische und Regale stößt.

Es ist unglaublich, wie vollgerammelt dieses Haus ist. Topfpflanzen, Matratdige zen, runde Tische, eckige Tische, halbrunde Tische, Regale an der Wand, freistehende Stellagen, unsägliche, völlig unterschiedlich gemusterte Stoffe und in der großen Halle wahre Ungetüme von Sitzgeräten, die so tun, als wären sie Korbmöbel, in Wirklichkeit aber wahrscheinlich aus nicht wiederverwertbarem Plastik sind.

Das ist eines der Dramen in der heutigen Architektur von Kindergärten und Schulen: daß der Architekt mit einer vernünftigen, schlüssigen Überlegung antritt, aber einer Phalanx von „Fachleuten“ gegenübersteht, die aus einer festgefahrenen Position heraus argumentieren. Geiswinklers Kindergarten hat zweifellos das Prädikat „gute Architektur“ verdient. Der kulturelle Anstoß, der er für die Kinder sein könnte, findet trotzdem nur in abgeschwächter Weise statt. Kindergärtnerinnen wolnen len es niedlich.

27. Januar 1996 Spectrum

Feine Würze fürs Entree

Es geht auch ohne Humus auf dem Dach: der Neubau von Oswald Oberhuber und Margarethe Cufer an der Wienzeile - ein „Künstlerhaus“ der anderen Art.

Wien und seine „Künstler-“ beziehungsweise „Malerhäuser“ - dieses Kapitel sollte eigentlich abgehandelt sein. Die Fassaden schreien es laut heraus: Hier geht es um Kitsch, nicht um Kunst, um Kommerz, nicht um Konzepte. Man nehme eine Wasserpfütze, lege einen Gitterrost darüber, sage Teich dazu - schon ist die Simulation architektonischer Alternativen perfekt.

Neuerdings gibt es ein „Künstlerhaus“ mehr in Wien. Es steht im Wiental und markiert die Ecke Esterh´ azygasse/ Linke Wienzeile; wie die anderen seiner Art verdankt es die Existenz der Zusammenarbeit zwischen einem Architekten - in diesem Fall Margarethe Cufer - und einem Künstler - hier Oswald Oberhuber.

Wer nicht weiß, daß dieses Haus ein „Künstlerhaus“ ist, dem wird es der Anblick der Eckverbauung nicht auf Anhieb suggerieren. Überdies verfügt es weder über einen Kleintierstall noch über einen Teich im Hinterhof, es hat keine Humusschicht auf dem Dach und keine buckligen Fußböden, auch schillert es nicht in allen Farben, und es kommt ganz ohne keramischen Zierat aus. Es ist ein städtisches Haus, mehr will es anscheinend nicht sein.

Die Frage, die man sich im Zusammenhang mit unseren „Künstlerhäusern“ - unabhängig von ihrer künstlerischen Qualität - stellen müßte, läßt sich angesichts all der Bauten von Hundertwasser, Brauer und Kumpf nur schwer unpolemisch formulieren. Wenn wir es trotzdem versuchen, lautet die Frage ungefähr so: Was bringen diese in der Regel überfinanzierten Statements für die Architektur einer Stadt? Anders ausgedrückt: Sieht man von den Autobusladungen von Touristen einmal ab - was läßt sich inhaltlich aus solchen Bauten herausdestillieren, das man verallgemeinern könnte? Ein Kuriosum in die Stadtwelt zu setzen war noch nie ein Problem. Aber etwas zu planen, was nachhaltig wirksame Bewegungen und Veränderungen zur Folge hat, ist nicht so einfach.

Cufer und Oberhuber haben ihr Projekt von vornherein unter grundsätzlich anderen Vorzeichen, aber auch mit einer ganz anderen Strategie realisiert. Beides wurde in diesem Fall in den Medien anerkennend vermerkt: Denn erstens wurde das Projekt zu den ganz normalen finanziellen Konditionen der Wiener Wohnbauförderung errichtet; zweitens ist es keine aufdringliche visuelle Peinlichkeit geworden. Überhaupt zeigt es nach außen nicht überdeutlich vor, welchen Anteil der Künstler an der Planung hatte und welchen der Architekt.

Tatsächlich ist es eine sehr signifikante „Ecklösung“, von der wir hier reden: Allein die verschiedenen Fenster erwecken den Eindruck, als hätte jemand einfach eine Handvoll Fenstergrößen gegen die Fassade geworfen - und dort picken sie jetzt.

Außerdem ist die Ecke besonders formuliert, denn mit ihren Erkern, die in Wirklichkeit ja bloß „Zierglieder“ sind - Cufer/Oberhuber hatten nämlich Erkerverbot (das gibt es wirklich!) -, ist diese Fassade an der richtigen, der einzig möglichen Stelle, und zwar an der abgeschrägten Ecke zum Wiental hin, plastisch durchformuliert. Dabei wurde hoch oben auf dem Dach das Motiv des gründerzeitlichen Eckaufbaus variiert, aber nicht irgendwie und schon gar nicht rückwärtsgewandt oder historisierend, sondern in einer gerade noch erkennbaren, zeitgenössisch transzendierten Interpretation als filigrane - immerhin fünf Meter hohe - Pergola aus Stahl.

An der Seite Esterházygasse sind durch eine großflächige Verglasung die Dreifachparker zu sehen: Das Haus wurde auf einem nur 318 Quadratmeter großen Grundstück errichtet, es umfaßt 16 Wohnungen und 1405 Quadratmeter Nutzfläche, was bedeutet, daß für eine Tiefgarage mit Abfahrtsrampe nicht genügend Platz da war. Die kleine Geste drückt diesen Sachverhalt nach außen nachvollziehbar aus, sie wird so aber auch zu einer Art spielerischen Lektion in Sachen Autofetischismus.

Das Haus ist ganz in „Nichtfarben“ gehalten, zurück bleibt der Eindruck von Weiß und Grau. Damit hebt es sich zwar von seiner abgasgeschwärzten Umgebung ab - immerhin handelt es sich ja um einen Neubau -, aber nicht prinzipiell: Denn Grau war früher einmal die dominierende Farbe der zur Wienzeile hin geschlossenen gründerzeitlichen Umgebung (in die der Zahn der Zeit manche Lücke gebrochen hat). Wenn man nun durchs Eingangstor vorne an der abgeschrägten Ecke eintritt, ist man tatsächlich mit Kunst konfrontiert. Und zwar mit ganz „herkömmlicher“, wie man sie auch in Galerien antrifft: Oberhuber hat eine figurative Drahtplastik gestiftet, eine Art feierliche Würze für ein eigentlich traditionelles Wiener Entree. Vor 100 Jahren hätte man zur Erzielung eines ähnlichen Effekts wahrscheinlich das Kunstmittel des bunten Glasfensters gewählt. Außerdem hängen, fein gerahmt, ein paar Reminiszenzen des ursprünglichen Bestands dieser städtischen Baulücke an der Wand - hier war früher ein Bad - und verweisen darauf, daß der Ort geschichtsträchtig ist.Dieser ein wenig banale Verweis erfährt in der Architektur eine weniger banale Auflösung: Das Thema des kreisrunden Treppenhausturms, das sich aus den aufgehängten Plänen des früheren Baubestands herauslesen läßt, findet sich im Neubau wieder.

Das hat zwar nicht viel zu besagen, es könnte eine mehr zufällige Wahlverwandtschaft sein; wichtig ist, daß hier auch in Zeiten des Lifts das Stiegenhaus als halböffentlicher Bereich und hausinterner Kommunikationsraum ernst genommen wurde.

Das Stiegenhaus endet bei einer Gemeinschaftsterrasse von sehr angenehmem Zuschnitt. Dort gibt es zwar weder Bäume noch Gras, aber Sonnenbädern und Grillfesten dürfte das keinen Abbruch tun. Die Wohnungen sind von der Größe her recht unterschiedlich: Die schönste ist zweigeschoßig und natürlich ganz oben, wo die „Zierglieder“ sind und die Aussicht über die Stadt ein stimmungsvolles Plus darstellt. Aber auch in den Regelgeschoßen sind die Grundrisse wohlüberlegt und erlauben eine von Fall zu Fall unterschiedliche Nutzung der Räume. Es ist also vom Wohnungszuschnitt her nicht zwingend vorgeschrieben, wo jemand sein Wohnzimmer hat.

Voilà, das ist es auch schon, viel mehr hat dieses Haus nicht zu bieten. Kleinigkeiten wären noch erwähnenswert, etwa die kreisrunde Verblechung im Stiegenhaus rund um den Lift oder die Art, wie Glasbausteine das Tageslicht gleichmäßig streuen.

„Am Anfang dieses Projekts stand die Idee einer neuen Form des Zusammenwirkens von Kunst und Architektur“, heißt es in einem gemeinsamen Statement von Cufer und Oberhuber. „Nicht die Dekoration der Fassade eines ansonsten langweiligen Hauses war das Ziel, sondern eine Durchdringung von Kunst und Architektur. Kunst verstanden als eine besondere Sicht der Gesamtproblematik, die in einen Dialog tritt mit der professionellen Kenntnis der Architektur des sozialen Wohnbaus und seiner restriktiven Bedingungen.“

Tatsächlich muß die Konfrontation mit der Wiener Bauordnung für Oberhuber eine Schlüsselerfahrung gewesen sein. Ich erinnere mich, wie er in der Anfangsphase des Projekts - 1993 - immer wieder kopfschüttelnd, manchmal auch wütend darauf zu sprechen kam, wie wenig Spielraum dem Architekten im Dickicht der Vorschriften für seine kreative Arbeit bleibt. Dieser Spielraum ist tatsächlich knapp; durch die finanziellen Vorgaben der Wiener Wohnbauförderung wird die Situation nicht gerade entschärft. Ob Kooperation Künstler-Architekt oder nicht - es ist ein anständiges und sehr städtisches Haus geworden. Es ist nicht unscheinbar, fällt aber nicht über Gebühr auf. Dafür bietet ein Wohnhaus auch gar keinen Anlaß.

Die Oberhubersche Handschrift läßt sich zwar an der Fassade - bei den unterschiedlichen Fenstern und der plastischen Lösung an der Ecke - und oben - beim turmartigen Aufbau - unzweifelhaft erkennen; und es mag durchaus sein, daß in Gesprächen zwischen Künstler und Architekt inhaltliche Schwerpunkte gesetzt wurden, die man in der Planung auch berücksichtigt hat. Insofern ist diese Kooperation offenbar sehr gut verlaufen.

Trotzdem läßt sich auch bei diesem gelungenen Beispiel eines „Künstlerhauses“ kein Hinweis darauf aufspüren, daß die „andere Sichtweise“ des Künstlers zwangsläufig eine „andere“ Wohnhausarchitektur zur Folge hätte. Die Architektur unserer „Künstlerhäuser“ ist und bleibt ganz normal, sie ist einmal besser, wie an der Wienzeile, öfter schlechter. Der Beitrag der Künstler zum Wiener Wohnbau geht über die Aufprägung ihrer Handschrift nicht hinaus. Die kann man mögen oder ablehnen. Sie kann reizvoll sein oder lästig. Mehr steckt nicht dahinter.

6. Januar 1996 Spectrum

In der Zelle des guten Willens

Wieviel Individualraum braucht der Mensch? 2,30 mal 2,80 mal 3 Meter, lautet Anton Schweighofers Antwort, zu sehen in einem Studentenwohnheim in Wien-Favoriten. Zum Leben genug? Eine Nachfrage.

Die Frage ist: Wieviel Individualraum braucht man wirklich? Anton Schweighofers Antwort darauf fiel ziemlich radikal aus. Denn wenn es nach ihm geht, dann kann der räumliche Rucksack, in den jemand sein allerpersönlichstes, intimstes Ich hineinpackt, auch karg bemessen sein, beschränkt auf eine Minimaleinheit mit den Abmessungen 2,30 mal 2,80 Meter Grundfläche und einer Höhe von drei Metern; beschränkt auch auf eine Minimalausstattung, die Tisch und Sessel, Schrank und Stockbett umfaßt, mehr nicht.

Anton Schweighofer hat also im zehnten Wiener Gemeindebezirk ein Studentenheim gebaut. Und wie er mit dieser Aufgabe umgegangen ist, darüber darf man getrost streiten. Denn konventioneller Wohnraum stand ihm dabei offensichtlich nicht vor Augen. Was ihm vorschwebte, war eher eine Modifizierung des Wohngemeinschaftsgedankens, wie er normalerweise nur im Altbau seine praktische Umsetzung erfährt.

Aber fangen wir beim Anfang an: Das Haus wurde auf einem Eckgrundstück in einer Favoritner Wohngegend errichtet. Es steht am Erlachplatz, mit Ausblick auf einen schönen, grünen Parkraum. Daß es sich um kein „gewöhnliches“ Wohnhaus handelt, signalisiert der Bau auf ausgesprochen spektakuläre Weise. Denn er gibt sich „verschleiert“, also gleichzeitig bedeckt und dennoch transparent. Schweighofer hat sein Haus nämlich in Baustahlgitter verpackt. Dieses Baustahlgitter fügt sich nahtlos an die umliegenden Fassaden an und bildet eine fein säuberliche, rechtwinklige Ecke. Das Haus hinter dieser Gitterhaut stellt ein verhältnismäßig normales, wenn auch blaßrosa Putzgesicht zur Schau.

Dazwischengeschoben ist eine Laubengangerschließung, zu deren Sicherung - Schweighofer spricht von „Körperschutz“ im Gegensatz zum Sicht- oder Lärmschutz - das Baustahlgitter dient. Und die Ecke des Baukörpers hinter dem Gitter ist schräg abgeschnitten, sodaß hier ein größerer, frei nutzbaren „Spielraum“ entsteht: ein Treffpunkt? Vielleicht eine Kommunikationsfläche? Darüber läßt sich bei winterlichen Temperaturen noch nicht viel sagen. Halten wir fest: Dieses Haus fällt aus dem Rahmen der umliegenden, überaus heterogenen Bebauung.

Im Inneren, wie gesagt, hat sich Schweighofer eine Neubauvariante des alten Wohngemeinschaftsflairs zum Ziel gesetzt. Das ist nicht einfach - kann es gar nicht sein, wenn man an die Förderungsrichtlinien denkt und daran, daß es bei einem Studentenheim vor allem auch darum geht, daß es preisgünstigen Wohnraum auf Zeit zur Verfügung stellt.

Schweighofer entwickelte also eine individuelle Minimaleinheit in Form einer Koje aus Akustikbetonsteinen, die innen, in der Eremitenzelle, zwar verputzt und weiß gefärbelt, außen aber nackt und roh geblieben sind. Diese Kojen sind auf den jeweiligen Geschoßen zwanglos und unregelmäßig plaziert, sodaß dazwischen viel freie Fläche mit allerhand Winkeln und Ecken übrigblieb.

Ein Gang? Das kann man nicht sagen, denn dann hätte sich der Architekt ja die Laubengangerschließung ersparen können. Außerdem: Für einen Gang ist diese Fläche denn doch zu breit. Nein, hier handelt es sich um jene Neuinterpretation des Gemeinschaftsbereichs, den im Altbau in der Regel das Wohnzimmer und die Küche darstellen. Und tatsächlich sind pro Geschoß jeweils auch gleich mehrere Kücheneinheiten eingebaut, denen jeweils auch mehrere Tische mit Sitzgelegenheiten zugeordnet sind. Das heißt, pro Geschoß wurde die Anzahl der vorhandenen Individualkojen in kleinen Gruppen zusammengefaßt, zu denen immer auch eine solche Küche, eine Naßeinheit und die entsprechende Freifläche gehören. Wo die eine WG aufhört und die nächste anfängt, ist dabei nicht genau auszumachen, Schweighofer hat diese Grenze absichtlich nicht definiert, die Möglichkeit zur räumlichen Teilung ist aber da.

Das Haus umschließt übrigens auch einen kleinen Gartenhof, zu dem auf allen Geschoßen angenehme Loggien orientiert sind. Und im Dachgeschoß gibt es einen sehr gut nutzbaren Gemeinschaftsraum, der allen im Haus zur Verfügung steht. Dort oben wurde das Konzept Schweighofers im Wohnbereich am konsequentesten und daher auch räumlich am interessantesten umgesetzt, weil es von der Wohnebene bis zum Dach praktisch zweigeschoßig durchgeht.

Es ist klar, worauf es dem Architekten bei dieser Arbeit ankam: Er wollte preisgünstige Wohnmöglichkeiten für ein junges Publikum schaffen, ein Raumangebot, das eine mehr unkonventionelle, nicht unbedingt an kleinfamiliären oder gar bourgeoisen Wohnvorstellungen orientierte Nutzung zumindest zuläßt, wenn nicht sogar provoziert. Ein Problem bei diesem Konzept: In einer Wohngemeinschaft tun sich die Leute mehr oder weniger freiwillig zusammen. Und wenn einer auszieht, dann sehen sich die verbliebenen Mitglieder denjenigen genau an, der neu einzieht. Das zweite Problem: Im Altbau sind die Räume wesentlich größer.

Was kann denn so eine Koje wirklich? Sie hat ein Fenster nach draußen, zur Straße, sie hat aber auch eines nach drinnen, zum Gemeinschaftsbereich. Diese Fenster können durch Rollos abgeschottet werden und, denkwürdig genug, sie sind es schon jetzt - und zwar selbst dann, wenn der Bewohner gar nicht drinnen ist. Denn vor die Wahl gestellt, was schwerer wiegt, die Möglichkeit, auch vom Studierplatz aus verfolgen zu können, was draußen geschieht, oder die Unliebsamkeit des ungewollten Einblicks, haben die ersten Bewohner des Hauses ihre Entscheidung auf Anhieb getroffen: gegen den Einblick. Außerdem: So eine Koje ist halt sehr klein, fast unmenschlich klein. Der Tisch steht beim Außenfenster; es gibt Anschlüsse für Telephon, Computer. Aber dieser Komfort täuscht nicht darüber hinweg, daß der Tisch aus seiner Position eigentlich nicht verrückt werden kann, weil das der Minimalzuschnitt des Raumes nicht zuläßt.

Die Koje hat weiße Wände, einen Holzfußboden und an der Wand zum Gemeinschaftsraum einen ein Meter tiefen Einbauschrank, der relativ viel Stauraum bietet. Vor dem Fenster nach drinnen ergibt sich dadurch eine breite Abstellfläche, über dem Fenster ist das Stockbett. Man kann mit Fug und Recht sagen: Noch weniger ginge gar nicht; aber kann man auch sagen: Dieses Wenige ist erträglich?

Das architektonische Konzept ist bestechend, konsequent, rigoros. Und die Atmosphäre auf den einzelnen Wohnetagen hat eine besondere, durchaus rauhe und doch sehr angenehme, freundliche Note: Die Leitungen wurden sichtbar geführt, die Betonsteine der Kojenwände blieben unverputzt, die Betonstützen sind roh; dadurch stellt sich ein durchaus liebenswürdiger Werkstattcharakter ein, alles gibt sich so unprätentiös wie möglich.

Wo Süden ist, da ist der Gartenhof, da sind auch die Loggien. Wo der Platz ist, da sind die Treppen zu den Laubengängen; wo die abgeschnittene Ecke ist, da könnten sich - mit Ausblick auf den Park - spontan Nutzungen entwickeln; und wo die Laubengänge sind, da wird man gesehen und man sieht hinaus, während man geschützt über seinen eigenen, „privaten Gehsteig“ (Schweighofer) zu seinemZimmer geht.

Aber gerade da spießt es sich: Was Schweighofer gebaut hat, das ist eben kein Zimmer. Man muß es Koje nennen - will man nicht bei der Bezeichnung Zelle landen. Und steckt dieses Haus nicht tatsächlich hinter Gittern? Diese letzte Frage ist nicht polemisch gemeint. Etliche der derzeitigen Bewohner tun sich mit der Vergitterung des Lau-benganges schwer. Sie fühlen sich ein wenig wie im Käfig, was so ziemlich das Gegenteil von dem ist, was Schweighofer errei-chen wollte: Er hat Transparenz geplant und für die bauliche Realisierung nach einem preisgünstigen Material gesucht; er hat Signifikanz angestrebt und eine Aussage formulieren wollen, die lesbar macht, daß sein Bau nicht einfach irgendein Wohnhaus ist; diese Intentionen Schweighofers sind architektonisch umgesetzt.

Und doch ist irgendwo Sand in dieser architektonischen Mechanik: Die Reibegeräusche rühren einerseits von der Ahnungslosigkeit der unvorbereiteten Studenten her, für die Gitter keine Schleier und Gitterstäbe kein „Körperschutz“ sind; und sie rühren von der Ahnungslosigkeit des Architekten, für den Studenten aufgeschlossene junge Leute sind, die sich gegen die Konvention wehren und vorurteilslos und risikofreudig ins Abenteuer neuer Lebensformen stürzen. Das ist mitnichten so. Leider.

16. Dezember 1995 Spectrum

Mit Rotstift und Wortbröseln

Kann man über Schulbau nur auf Basis von Kosten-Nutzen-Rechnungen diskutieren? Und ist die „Einheitsschule“ wirklich billiger als individuelle Planung? Anmerkungen zu einer unsachlichen Debatte in Wien.

Nicht zu fassen, welche obskure rhetorische Stilblüten die Sparbudgethysterie in Wahlkampfzeiten hervorbringt. Bei sich selbst fängt zwar keiner an, rigoros den Rotstift anzusetzen, dafür weiß jeder (Politiker) ganz genau, wo der andere (Politiker) Millionenbeträge zum Fenster hinauswirft. Die wortgewaltige Wadelbeißerei spielt sich neuerdings selbst unter Parteigenossen im grellen Licht medialer Öffentlichkeit ab. Wer mit dem Rücken zur Wand kämpft, dem bleibt offenbar keine Wahl. Jeder verbale Untergriff scheint recht.

Grete Laska kontra Hannes Swoboda: die Wiener Vizebürgermeisterin und Stadträtin für Jugend, Familie, Soziales und Sport kontra den Stadtrat für Stadtentwicklung und -planung. Swoboda hat mit dem „Schulbauprogramm 2000“ eine der bemerkenswertesten und langfristig sinnvollsten Initiativen für die Baukultur in der Bundeshauptstadt gesetzt. Laska stellt der Initiative nicht etwa eigene konstruktive Aktivitäten zur Seite, sondern sagt ihr den Kampf an, frei nach dem Motto: von der Architekturschule zurück zur Baumschule. Sie proklamiert die sogenannte Einheitsschule: ein Stück Schule mal – Hausnummer – 25. Offensichtliches Ziel der Proklamation: daß der Name der Vizebürgermeisterin möglichst oft auf den Chronikseiten der Tagespresse genannt wird.

So lange schon werden in Wien Schulen gebaut, aber bis auf diese liebe Frau hat noch niemand eine zündende Idee gehabt, wie sich mir nichts, dir nichts 100 Millionen Schilling einsparen ließen, ohne daß einer (oder mehrere) jener Werte, auf die wir uns bisher etwas zugute gehalten haben, einbrechen würde: die Unterrichtskultur, die Baukultur oder das Kulturbewußtsein der Schüler von heute und somit der Erwachsenen von morgen. In Wahlkampfzeiten interessiert eine solche Argumentationsebene grundsätzlich nicht. Und eine Partei, die so sehr im ungewissen darüber ist, auf welche Werte sie in Zukunft überhaupt setzen will, befindet sich in solcher Zeit naturgemäß erst recht im (kulturellen) Ausnahmezustand.

Arme Architekten! Sie kommen aus dem Staunen nicht heraus. Denn es will ihnen partout nicht eingehen, daß so viel Bauernfängerei kein lautes Rauschen im Blätterwald, kein elektronisches Protestflirren und auch sonst keinerlei massive Abwehrreaktionen zur Folge hat.

W as sie bisher nicht wußten: Wenn gar nichts mehr geht, geht alles. Dann ist kein Trick zu primitiv, kein Bluff zu vordergründig. Vielleicht fällt Otto Normalverbraucher doch darauf herein! Ein Stück Schule mal x ist gleich y minus 100 Millionen Schilling. Diese neue Gleichung möchte man sich aufs Kopfkissen sticken lassen oder zeitgemäßer: als Pauseneinlage der heimischen PC-Software einverleiben. Hat sich wirklich keiner von denen, die einfach gedankenlos nachplappern, was Frau Laska von sich gibt, jemals angeschaut, was das eigentlich für Schulen beziehungsweise Programme sind? Und auf welchen Grundstücken die Schulen gebaut werden?
Wie soll es jemals möglich sein, unter den vielfältigen und differenzierten Realbedingungen dicht verbauter Stadt von heute – und im Hinblick auf die von Quartier zu Quartier völlig unterschiedlichen Anforderungen – einen architektonischen „Prototyp“, um es freundlich zu formulieren, auch nur als gebaute „Kleinserie“ aufzulegen? (Dabei ist die auch nicht unwichtige Frage noch völlig ausgeklammert, ob sich eine „Kleinserie“ überhaupt rechnen würde.)

Arme Architekten! Sosehr sie im Normalfall zu egoistischer Eigenbrötelei neigen – jeder einzelne gegen alle anderen –, so sehr tendieren sie auch dazu, substantiellen Krisen nicht mit wütender Polemik und Empörung zu begegnen, auch nicht mit dem nachhaltigen Hinweis auf den eigenen kulturellen Auftrag (und den der Stadt!), sondern mit sachlicher Argumentation, die sich darum bemüht, politische Stellungskriege zu vermeiden und alles auszublenden, was auch nur den geringsten Verdacht erzeugen könnte, man bewege sich womöglich nicht ausschließlich auf dem Niveau reinen Kosten-Nutzen-Denkens.

Das zeugt natürlich von bodenloser Naivität. Denn es mag wahr sein, daß die Wiener Schulen nicht auf der grünen Wiese gebaut werden, sondern dort, wo man sie braucht – und das ist nun einmal das dicht verbaute städtische Wohngebiet; es mag auch stimmen, daß dort die Grundstücke knapp, die Grundstückspreise gigantisch und die Grundstücksgrößen in der Regel ohnehin zu klein, auf jeden Fall aber vom Zuschnitt her sehr unterschiedlich sind; und ganz sicher stimmt es, daß auf diesen potentiellen Bauplätzen jeweils nicht nur sehr verschiedene Schultypen – Volksschulen, Hauptschulen, Sonderschulen, Berufsschulen –, sondern auch sehr verschiedene Schulgrößen (sechs bis 27 Klassen) gefordert sind. Aber wer will davon in Wahlkampfzeiten etwas wissen?

Frau Laska jedenfalls nicht. Sie tut, als wäre ein Einheitsschultyp von zehn Klassen problemlos auf 20 erweiterbar. Als wäre es gleichgültig, wo welche Himmelsrichtung ist. Und als wäre es mit ein, zwei „Prototypen“ getan, wo sie mit zehn nicht auskommen kann. Was Frau Laska postuliert, entbehrt jeder realen Basis. Im Grunde suggeriert sie mit ihrem Vorschlag zur vermeintlichen Reduzierung der Planungskosten einem fachlich unkundigen Publikum, daß die Architekten ein unbegründet hohes Honorar für ihre Arbeit erhalten, weshalb es gerechtfertigt sei, gerade beim Planungshonorar zuallererst einzusparen.

Sie sagt nicht dazu, daß die bauliche Vervielfältigung eines Prototyps nach wesentlich größeren Grundstücken verlangt, was bei den heutigen Preisen jede mögliche Einsparung bei den Planungskosten – sie betragen fünf bis sechs Prozent der Herstellungskosten und ließen sich durch die „Einheitsschule“ um maximal ein Drittel senken – augenblicklich wieder ad absurdum führt.

Sie sagt auch nicht dazu, daß unter den realen Bedingungen in der Bundeshauptstadt jeder Schulprototyp einen so großen Umplanungsaufwand zur Folge haben muß, daß auch von daher individuelle Planung viel wirtschaftlicher ist als jede „Einheitsschule“. Rätselspiel für den Leser: Warum sagt sie es nicht? Weil sie uns täuschen will? Weil sie es nicht weiß? Weil Wahlkampf ist?

Ginge es sachlich zu, wären die Vorschläge unserer lieben Frau aus dem Rathaus schnell wieder weggefegt worden. Weil die Zeitläufe momentan aber unsachlich, emotional aufgeladen und gar nicht redlich sind, kann Frau Laska ihre kecken Wortbrösel unaufgeräumt herumliegen lassen; am Ende bleiben tatsächlich häßliche akulturelle Flecken auf dem Wiener Schulbauprogramm 2000 zurück. Zu leiden haben darunter jene (Architekten), die jetzt, nach Czech, Lainer, Podrecca, Richter & Co, im Begriff sind, ihre Planungen durchzuboxen. Denen ergeht es schlecht. Zum Teil sogar sehr schlecht.

Es war immer schon ein grundlegender Fehler, wenn sich in einem Disput zwischen zwei Parteien der eine Kontrahent auf das Niveau des anderen (hinunter)begeben hat. Er gibt sein ureigenstes Terrain auf und bewegt sich auf fremdem. Das ist von Nachteil. Genau diesen Fehler machen unsere Architekten, wenn sie gegen die Vorschläge der Frau Laska antreten – auf einem Niveau, in dem zwar Frau Laska heimisch ist, nicht aber ein Architekt, der etwas auf sich und die Baukunst hält.

Was ist das eigentlich für eine Ungeheuerlichkeit, daß wir über Schulbau, der unter dem Vorzeichen architektonischen Anspruchs passiert, plötzlich nur noch auf einer Kosten-Nutzen-Ebene diskutieren? Solche Debatten mögen im sozialen Wohnbau gerechtfertigt sein: Dieser bildet die Hintergrundkulisse jedes städtischen Gefüges und muß für die Bevölkerungsgruppe, für die er geschaffen wird, auch bezahlbar sein. Er muß ein Optimum an Wohnkomfort bieten und trotzdem mit dem Titel Architektur belegbar sein.

Aber selbst in diesem Bereich kann und soll es, was Aufwand und Anspruch betrifft, immer wieder auch Ausnahmen geben: Nur so bringen wir die Dinge voran, nur so ist Entwicklung möglich. Wer hingegen jedes Risiko meidet und auf der Stelle tritt, dem wird schnell und zu Recht das Etikett des Banausen verpaßt. Im Schulbau geht es um etwas anderes. Denn er ist öffentlicher Bau und in jedem Quartier auch ein Zeichen, das über den pragmatischen Nutzen hinausweist.

D amit wird er zu einem Teilstück jenes kulturellen Fortschritts, den es zu verteidigen gilt. Wer sich auf dem Sektor Schulbau in die Schere von reinen Kosten-Nutzen-Rechnungen begibt, gibt grundsätzliche kulturelle Ansprüche preis, die bisher in unseren Breiten verbindlich waren. Vor allem darum geht es. Architekten tun schlecht daran, sich so bereitwillig auf andere Argumentationsebenen zu begeben.

Eine Zukunftsperspektive: Alle Architekten, die jetzt Schulbauten zu planen haben, werden hart kämpfen müssen. Und wenige werden ihre Vorstellungen ohne substantielle Abstriche durchbringen. Frau Laska, sofern es sie in der politischen Zukunft noch gibt, wird ihre „Einheitsschule“ ausprobieren. Und die wird sicher ein Flop. Beamte werden es errechnen und beweisen, der Versuch der „Einheitsschule“ wird sang- und klanglos abgebrochen werden. Zu einem Zeitpunkt an dem kein (medialer) Hahn mehr danach kräht. Unsere liebe Frau im Rathaus kommt mit dem Schrecken davon, der Schwarze Peter bleibt den Architekten.

2. Dezember 1995 Spectrum

Kinderwelt mit Blechvorhang

Kein „Architekturfetisch“ sollte er werden, aber auch kein verkitschtes Zwergerlidyll: Johann Georg Gsteus Kindergarten im Zentrum des Wiener Neubaugebiets „Brünner Straße West“ - ein Haus als Weg und Platz.

Das große Neubaugebiet an der Wiener Brünner Straße, unmittelbar vor Stammersdorf gelegen, also dicht an der Stadtgrenze, geht in rasantem Tempo seiner Fertigstellung entgegen. Aber vor allem wenn man den Blick auf jenen Bauteil lenkt, der sich „Brünner Straße West“ nennt, wird man darüber nicht froh. Denn im Vorüberfahren und aus der Ferne gewinnt man den deprimierenden Eindruck, daß hier Häuser, hauptsächlich Wohnhäuser, einfach abgestellt worden sind. Man könnte es auch die „Abwesenheit“ von Städtebau nennen.

Man muß schon sehr viel näher treten und in der Anlage herumflanieren, um dahinterzukommen, daß es zumindest einen Ort gibt, der als Zentrum, als städtebauliche Mitte, definiert ist. An diesem Platz kreuzen sich zwei Fußwege, die das Areal erschließen – einer davon wird über einen Steg, der hier gebaut werden soll, die beiden durch die unverbaute „grüne“ Mitte des Marchfeldkanals getrennten Bauteile miteinander verbinden. Um diesen Platz sind aber auch jene Bauten organisiert, die gewisse öffentliche Funktionen erfüllen: Otto Häuselmayers Kirche, eine große Schule der Architekten Hübner und Leibetseder – und jetzt auch ein Kindergarten von Johann Georg Gsteu.

Der Kindergarten befindet sich unmittelbar neben der Kirche und gegenüber der Schule, wobei Gsteu auf die städtebaulichen Vorgaben der konkreten Situation mit einer leichten Schrägstellung jenes Baukörpers, der die Verwaltungsräume enthält, reagierte.

Dadurch gelingt es ihm, den urbanen, gepflasterten Platz visuell in seinen Kindergarten hereinzuholen, was der Situation insgesamt guttut. Denn im Unterschied zu den beliebigen, irgendwie kleinlichen Abstandsflächen zwischen der Wohnbebauung im Hintergrund ist die Platzsituation davor nicht nur sehr klar definiert, sondern auch großzügig.

Der Kindergarten ist ein weißer Mauerwerksbau, der dem Platz eine sehr ruhige, sachliche Fassade zukehrt. Hier liegt der niedrigere, leicht schräg gestellte Verwaltungstrakt, hier ist der Eingang, und von hier sieht man auch schon die lange, geschwungene Rampe, die aus dem Obergeschoß einen direkten Austritt in den Garten ermöglicht.

Schließlich – und das ist wichtig: Der Kindergarten ist von einer großen, gegliederten, in der Hauptsache nach Süden zum Marchfeldkanal orientierten Grünfläche umgeben. Nach Süden schaut daher auch die – wenn man so will: spektakuläre – Hauptfassade des Bauwerks. An ihr fällt sofort die ungewöhnliche Lösung mit zwei semitransparenten „Blechvorhängen“ auf, die sich vom Dachbereich bis zum Boden herunterziehen, jeweils abgestützt durch einen blau gestrichenen Träger und mit einer Art „Fensteröffnung“ in der Mitte. Und es fallen drei unterschiedliche Fenstergrößen an dieser Fassade auf, die sich in schöner Regelmäßigkeit wiederholen. Was es damit auf sich hat, ist schnell beschrieben: Hinter dem Blechvorhang – es handelt sich um Aluminiumlochblech – liegt im Obergeschoß jeweils eine große, gedeckte Terrasse, also ein zusätzliches Freiraumangebot. Und hinter den scheinbar willkürlich verwendeten unterschiedlich großen Fenster liegen die Gruppenräume, in denen Gsteu durch Abtrennung verschiedener Nebenräume (etwa Abstellflächen) keine durchgehend gleiche Raumtiefe erzielt.

Das drückt sich auch nach außen sichtbar aus: Wo die Gruppenräume die geringste Raumtiefe haben, ist das kleinste Fenster. Man betritt das Haus an der Nordseite, vom Vorplatz her. Durch die Schrägstellung des Verwaltungstraktes ergeben sich Richtung Westen zwischen Verwaltung und eigentlichem Kindergartentrakt ein kleiner offener Hof und im Osten eine einladende Eingangshalle.

In der Eingangshalle ist man auch zum ersten Mal mit einer Besonderheit des Hauses konfrontiert, die sich ebenfalls aus der Schrägstellung des einen Baukörpers erklärt. Man schaut geradewegs in einen Gang hinein, der konisch schmäler wird. Durch diese Verengung erreicht Gsteu eine spannende perspektivische Tiefenwirkung, die durch ein besonders formuliertes Fenster auch jeweils einen adäquaten Abschluß erhält: Denn der Gang ist zwar zu Ende, aber der Blick kann noch sehr viel weiter schweifen. Noch eine zweite Besonderheit, die Gsteu im ganzen Haus konsequent durchgezogen hat, wird gleich beim Betreten sichtbar: die abgehängten Decken, die überall aus Aluminiumtrapezlochblech bestehen.

Genau wie bei den Stationsgebäuden der U 6 hat der Architekt sich auch hier wieder für das sogenannte Einziehverfahren entschieden, mit dem man die Blechbahnen beliebig, aber sehr exakt biegen kann. Das führt zum Beispiel in den konischen Gängen zu interessanten Detaillösungen, fast zu einer Art Ornamentik, die aber nicht bloßer Dekor, sondern durch die Verarbeitungstechnologie begründet ist.

Überhaupt war die markante Lösung dieser abgehängten Decken kein bloßer Willkürakt: Abgehängte Decken sollten es allein schon deshalb sein, um einen Zugang zu den dahinter geführten Leitungen zu erhalten. Zusätzlich ist die Wahl dieses Materials aber auch als Akustikmaßnahme begründet. Denn das Lochblech, hinter dem sich obendrein noch eine Akustikmatte verbirgt, hat durch seine Oberflächenstruktur ganz ähnliche Eigenschaften wie die herkömmlichen Lochpaneele, die normalerweise in einem solchen Fall verwendet werden. Gsteu sagt ja von seinem Haus, daß es „kein Architekturfetisch“ werden sollte, andererseits aber auch keine verkitschte Zwergerlwelt. Mit dem Hinweis auf den Architekturfetisch meint er wohl, daß es ihm nicht darum ging, ein Architekturstatement in nur eine Richtung abzugeben. Das heißt: Nach einer spektakulären Glasfassade wird man hier genauso vergeblich suchen wie nach irgendeinem demonstrativen konstruktiven Detail – oder was immer es an selbstzweckhaften

Möglichkeiten in der Architektur heute sonst noch gibt. Gsteu hat also absichtsvoll alles vermieden, was sein Bauwerk über die zeitgemäße Lösung hinaus in den Verdacht des Modischen bringen könnte.

Sein Hauptaugenmerk galt wohl eher der sinnvollen, brauchbaren, dabei aber abwechslungsreichen, spannenden räumlichen Organisation. Allein schon die Erschließung durch ein Treppenhaus, in dem Podeste auch zum Aufenthalt auffordern, in dem sich eine Vielzahl von Durch- und Ausblicksmöglichkeiten ergibt, ist angewandter Josef Frank: das Haus als Weg und Platz. In den Gruppenräumen kommt es durch die räumlichen Abtrennungen zu Nischenbildungen, Ecken und Winkeln, ohne daß die großzügigen Räume dadurch beengt oder gar kleinlich würden.

Das wiederum hat damit zu tun, daß die abgetrennten Raumteile oben verglast sind, sodaß immer auch die ganze räumliche Figur spürbar, ablesbar bleibt. In einer Raumecke dieser Gruppenbereiche hat sich Gsteu übrigens an der Decke ein einziges Mal wirklich ein „Ornament“ erlaubt, indem er die Verlegerichtung des Trapezlochblechs wechselt und so mit einer Eigenschaft dieses Materials – es suggeriert eine Richtung und damit auch Tempo, Geschwindigkeit – fast ein wenig spielt.

Zwergerlwelt gaukelt uns dieser Kindergarten jedenfalls keine vor. Und auch keine Bunte-Bildchen-Seligkeit: Das Haus selbst ist weiß; abgesehen von der Aluminiumfarbe des Trapezlochblechs gibt es im Inneren nur die Farbe Blau – etwa bei manchen Lampen oder beim Stiegengeländer –, außen kommen noch grüne Farbtupfer dazu. Gsteu hat die Aufgabe, für Kinder zu bauen, nicht einseitig behandelt, sondern auf angenehme Weise ernst genommen. Daher ist das Resultat auch nicht niedlich oder bieder ausgefallen, sondern vernünftig, funktionell und vor allem intelligent.

Das Angebot, das Betreuern und Kindern mit diesem Haus unterbreitet wird, ist unerhört vielfältig. Und dann kommen zu den Gruppenräumen und den zusätzlichen räumlichen Aufforderungen zum Aufenthalt ja noch die großzügigen, gedeckten Freiflächen im Obergeschoß und natürlich der Garten. Dadurch, daß dieser zum Grünbereich des Marchfeldkanals orientiert und nur durch einen Gitterzaun begrenzt wurde, wirkt er noch größer, als er in Wahrheit ist. Unter der geschwungenen Rampe, die zwar zum Teil geböscht, zum Teil aber auch aufgeständert ist, ergeben sich Schlupfwinkel für die Kinder.

Es gibt ein – allerdings eher unwesentliches – Detail an diesem Haus, über dessen formale Ausbildung man streiten kann: Gsteu hat außen über den Fenstern Jalousiekästen angebracht, an denen das Motiv des gebogenen Trapezblechs wiederholt wird.

Und das heißt: Die Biegung hat nur einen ziemlich kleinen Radius und – bedingt durch die Biegetechnik – entsprechend dichte Druckstellen, die diesen ohnehin schmalen Blechstreifen sehr kleinteilig ornamentieren. Von der Anwendung her ist diese Lösung zweifellos konsequent, formal überzeugen kann sie wohl nicht: Sowohl Material als auch Verarbeitungstechnologie sind für „größere“ Flächen besser geeignet, bei den Jalousiekästen wirken sie ein wenig verspielt. Da hätte es eine simple, eher strenge Vorrichtung auch getan.

Trotzdem: Für die städtische Mitte der gewaltigen Wohnbebauung an der Brünner Straße West hat Gsteu nach Häuselmayer, Hübner und Leibetseder mit seinem Kindergarten einen wichtigen Beitrag geleistet. Denn er hat gezeigt, daß sich Signifikanz in der Architektur nicht nur durch die gewollte formale Lösung, sondern auch durch ein komplexes räumliches Konzept realisieren läßt.

18. November 1995 Spectrum

Fadesse mit Nudelsieb

Nicht einmal empören kann man sich darüber: das Maculan-Haus in der Singerstraße, auf dem „allerletzten“ Bauplatz der Wiener Innenstadt – Architektur zum Vergessen.

Schlechte Architektur verbal anzuprangern – wie einfach das im Grunde ist! Aber die Aufgabe, sich zum neuen Maculan-Haus zu äußern, ist eine schwierige, verzwickte Angelegenheit: Denn soviel gebaute Banalität macht stumm. Und ratlos. Wieder einmal handelt es sich um den allerletzten Bauplatz der Wiener Innenstadt. Er ist rund 650 Quadratmeter groß und an der Ecke Singerstraße/Riemergasse gelegen. Während der jahrzehntelangen Debatten um seine mögliche Verbauung wurde er von der Finanzprokuratur als Parkplatz genutzt; das Grundstück gehörte dem Bund. Dann, eines schönen Tages, wurde es an den Bestbieter, den Wiener Baulöwen Maculan, für sage und schreibe 220.000 Schilling pro Quadratmeter verkauft.

Maculan verbaute nun dieses Grundstück nicht etwa mit einem Bürohaus, wie das an dieser Stelle naheliegend, aber auch herkömmlich wäre. Er stellte auch kein neues Innenstadthotel an diese Ecke. Er dachte sich etwas Spezifisches aus: ein Appartementhotel (77 Appartements) mit drei Geschäften unten und vier Penthauswohnungen oben. Letztere sind noch im Bau und waren lange Zeit Gegenstand grundsätzlicher Überlegungen: Sollte man sie vermieten oder verkaufen? Wären sie verkauft worden, hätte die größte (160 Quadratmeter) und luxuriöseste, mit zwei Terrassen, von denen eine einen wundervollen Blick über Wien bietet, beachtliche 16 Millionen Schilling gekostet. Und sie hätte sofort einen Käufer gefunden.

Aber diese vier Penthauswohnungen sollen vermietet werden. Aus gutem Grund: Die Errichtung dieses Objekts war so teuer, daß es sich selbst bei voller Auslastung nicht rechnet – oder nur so langfristig rechnet, daß es kommerziell nicht interessant genug erscheint. Daher wurde von vornherein, also schon vor Fertigstellung, an den Wiederverkauf gedacht. Und wo ein Investor gesucht wird, da soll es ja bekanntlich der Situation nicht sehr förderlich sein, wenn es schon Teileigentümer gibt.

Nun ist damit noch nichts über die Architektur ausgesagt. Aber ehrlich: Was könnte einem zu einer solchen gebauten Banalität groß einfallen? Dabei muß Maculan mit diesem Hausbau ursprünglich doch eine gewisse Ambition verbunden haben, sonst hätte er sich nicht Ernst Hoffmann als Architekten genommen. Hoffmann ist bestimmt nicht der Architekt, den sich jemand aussucht, der nur schnell und billig bauen will. Aber der Regierungssitzbauer von St. Pölten, der scheint für dieses Objekt nur sehr wenig Zeit aufgebracht zu haben (hoffen wir mit den Niederösterreichern, daß er sie wenigstens in das St. Pöltner Unternehmen investiert hat). Und daher steht jetzt ein Ding da, dessen auffällige Einfallslosigkeit einen schlichtweg mundtot macht.

Was gäbe es in architektonischer Hinsicht über diesen „letzten“ Innenstadtbau zu vermelden? Er hat eine Geschäftszone im Erdgeschoß, die durch eine graue Steinverkleidung von der weißen Putzfassade abgehoben ist. Dann kommt eine gewöhnliche Lochfassade, die durch eine vertikale Reihe von Bullaugenfenstern eine gewisse Differenzierung erhält. Der Differenzierung soll offenbar auch eine vertikale Reihe winzigster Ausblicksbalkone über dem Eingangsbereich dienen. Und in eine schmale Seitengasse an der Rückseite des Hauses schauen französische Fenster. In der Singerstraße schwingt sich im oberen Bereich eine unverständliche Hutkrempe über die Fassade. Das ist es auch schon.

Die Gaupen im ausgebauten Dachgeschoß sind gerade auf einem Haus, das sich doch städtisch geben will, besonders lächerlich; andererseits: Soviel schlimmer als die vielen Gaupen, die es überall sonst in der Wiener Innenstadt gibt, sind sie auch wieder nicht. Und die durch Terrassen wild zerklüftete Dachlandschaft kann man von unten ohnehin nicht sehen.

Das Haus ist als Appartementhotel geführt – das hat für sein Innenleben naturgemäß Folgen: Man betritt zwar eine Art Empfangshalle, ein Foyer, das mit einer Rezeption ausgestattet ist, aber was sonst an infrastrukturellen Einrichtungen zu einem Hotelbetrieb gehört, all das fehlt hier. Von der Rezeption geht es zum Lift und vom Lift direkt zu den Appartements. Diese werden nur mindestens wochenweise vermietet, sind verschieden groß und komplett ausgestattet – bis zum Nudelsieb und zur Schere. Außerdem haben sich die Innenausstatter Mühe gegeben, den Eindruck von Gediegenheit zu vermitteln. Das ist ihnen durch den Einsatz von Wittmann-Polstermöbeln, allerlei Designerkrimskrams und Marmorbäder auch gelungen, allerdings auf einer unvorstellbar trivialen Ebene.

Das Merkwürdige an diesem Haus ist: Man kann sich darüber nicht wirklich empören. Es ist einfach nur fad und nichtssagend. Nun war Ernst Hoffmann auch bisher nicht gerade ein Architekt, dessen Bauten das Architekturgeschehen bewegt oder gar weitergebracht hätten. Aber einen Mindestanspruch an architektonischer Ambition kann man ihnen auch wieder nicht absprechen. Nicht von ungefähr führt Hoffmann ein gutgehendes Architekturbüro und ist bei Wettbewerben recht erfolgreich: Seine Architektur läßt dem Bauherrn die Illusion, etwas „Modernes“ zu bauen, das aber doch nirgends aneckt, nicht ungebührlich auffällt und daher auch keinen schmerzt. Anders ausgedrückt: Hoffmanns architektonisches Kredo ist ein todsicheres kommerzielles Erfolgsrezept.

An diesem Punkt stellen sich dann doch Emotionen ein: Je länger man über dieses fade Eckhaus und seinen Architekten nachdenkt, desto ärgerlicher erscheint die ganze Causa. So ärgerlich, daß man anfängt, sich nach der alten, von der Gewista zuplakatierten Planke zurückzusehnen, denn solange die stand, war dieser „letzte“ Bauplatz der Wiener Innenstadt wenigstens noch ein Hoffnungsgebiet. Irgendwie will es in Wien nicht gelingen, daß von privater Seite etwas gebaut wird, das mehr als durchschnittlich wäre. Nicht, daß es bei den Bauten der Stadt soviel besser wäre – eine gute Initiative wie das Schulbauprogramm 2000, das tatsächlich zu architektonischen Besonderheiten führte, ist ganz schnell wieder zu Ende. Aber bei den privaten Bauherren, auf Seite der Investoren, kommt es nicht einmal zu ansatzweisen Initiativen.

Was sind das auch für Voraussetzungen, wenn man an den konkreten Fall des Maculan-Hauses denkt? Wenn einer einen Bauplatz kauft, von dem er von vornherein weiß, daß er zu teuer ist, was soll dort entstehen? Es kann nur eine austauschbare architektonische Beliebigkeit sein. Denn er ist ja von dem Gedanken beflügelt, das Ding so rasch wie möglich gewinnbringend zu verscherbeln. Unter solchen Umständen läßt sich keine wagemutige architektonische Deklaration realisieren, denn die muß einer schon wirklich wollen. So entstehen Häuser, die eine auf den größtmöglichen gemeinsamen Nenner gebrachte Unkultur charakterisiert.

Mit solchen Häusern ist die Wienerstadt vollgestellt. Man braucht sich nur die neu gebauten Innenstadthotels anzuschauen: Sie übertreffen einander in ihrer Scheußlichkeit. Es gibt auch keinen bemerkenswerten Bürohausbau oder Firmensitz. Die Neubauten sind durch die Bank banal bis erbärmlich. Eine deprimierende Bilanz, vor allem auch, weil höchst ungewiß ist, wann wieder ein „letzter“ Bauplatz zur Verbauung ansteht.

Man muß sich fragen, was im Kopf eines Investors von heute so anders läuft als in den Köpfen der Bauherren von früher. Denn gerade wenn man durch die Wiener Innenstadt geht, wird man laufend mit den gebauten Ambitionen früherer Auftraggeber konfrontiert. Und auch die konnten schließlich rechnen. (Aber ums Rechnen geht es ja in Wahrheit gar nicht.)

Es irritiert im Fall des Maculan-Hauses noch zusätzlich, daß jemand einerseits eine Architekturgalerie betreibt, in der immer wieder ein interessantes Ausstellungsangebot zu sehen ist, und insofern Interesse an Architektur bekundet, und daß dieselbe Person dann andererseits, gar nicht weit entfernt, einen solchen Bau errichtet. Wobei das Ärgernis auch darin besteht, daß es leicht gewesen wäre, etwas wirklich Besonderes zu machen: Gerade in Wien sind die Architekten da, die so etwas können, man muß sie nur beauftragen. Aus anderen Städten weiß man längst, daß bei einem Hotel die architektonische und designerische Besonderheit als kommerzieller Faktor ernst genommen werden muß. Es ist also, abgesehen von allen anderen Aspekten dieses Bauwerks, überhaupt nicht zu verstehen, weshalb die architektonische Strategie hier so kleinlich bemessen wurde.

Nein, es ist genauso wie eingangs postuliert: Beim besten Willen läßt sich gegen dieses Haus keine polemische Attacke reiten. Es bietet keinerlei Anlaß für verbale Ereiferung. Es ist so furchtbar langweilig und uninteressant, daß man seine Existenz nur schulterzuckend zur Kenntnis nehmen und dann ganz schnell wieder vergessen, verdrängen kann.

7. Oktober 1995 Spectrum

Bauten, wie sie im Buch stehen

Architektur- und Designbücher können eine Plage sein: Man möchte sie alle haben. Dabei weiß man doch, daß gerade auf diesem Sektor die Bücherflut des letzten Jahrzehnts auch wenig erfreuliche Nebenwirkungen zeitigte: dicke Bände, teilweise mit unerhörtem graphischen Aufwand gemacht, aber wenig Substantiellem zwischen den Buchdeckeln.

Aus der Produktion dieses Herbsts mag das eklatanteste Beispiel dafür der Band „Television at the Crossroads“ sein – ein Designbuch, das unweigerlich lockt: ein schöner Umschlag und ein edles Vorsatzpapier, nur – es ist wirklich nicht mehr dahinter als ein Seminar mit Studenten, das erstaunlich banale Kreationen zum Thema Fernseher zur Folge hatte. Das können sie gut, die italienischen „Stardesigner“: einen betuchten Sponsor auftreiben und einen vierfarbig schillernden Bluff produzieren, der dann in den Fachbuchhandlungen ganz Mitteleuropas aufliegt. Als Auslagendekoration ist der Band vielleicht gar nicht schlecht.

Stefano Marzano, Alessandro Mendini, Andrea Branzi: „Television at the Crossroads“, 168 S., Ln., S 663 (Academy Group, London).

Wenden wir uns trotzdem zwei seriöseren Produkten zu. Im Einleitungsessay zu „Architecture and Water“ taucht Aaron Betsky tief in die Geschichte des Wassers in der Architektur ein und spürt allen erdenklichen Spielarten dieser Beziehung nach – dem Wasser als einer Art „natürliches“ Artefakt, sei es als Brunnen, Pool oder Spiegelfläche für das „gebaute“ Artefakt, Wasser als klimatische Maßnahme, aber auch als integrierender Bestandteil des architektonischen Environments wie in Venedig oder Holland.

Vieles kennt man, etwa den Wassertempel von Tadao Ando oder den britischen Expo-Pavillon für Sevilla von Nicholas Grimshaw, das Stretto-Haus von Steven Holl oder das Solana-Projekt von Ricardo Legorreta. Außerdem ist es ein wenig ärgerlich, wenn in einer Fachpublikation Bauten und Projekte teilweise so fragmentarisch dargestellt sind, daß man bestenfalls einen flüchtigen Eindruck gewinnt. Andererseits ist die Auswahl so international, daß man dem Buch einen gewissen Informationsgehalt nicht absprechen kann.

„Architecture and Water – Architectural Design No. 113“, 120 S., brosch., S 308 (Academy Group, London).

Schwieriger ist es mit dem Band „The Power of Architecture“. Denn über den Zusammenhang zwischen politischer Macht und Architektur gibt es längst eine Reihe von Untersuchungen: die russische Revolution und deren Architektur, Mussolini und die italienischen Futuristen, Hitler und Albert Speer. Kein Zweifel: Architektur vermag Macht auszudrücken und unter Umständen zu befördern. Trotzdem macht es einem der vorliegende Band nicht leicht, weil so viele Aspekte des Themas angesprochen sind. Natürlich ist die Hongkong-und- Shanghai-Bank des Norman Foster ein Machtsymbol, und auch die „Grands Projets“ des François Mitterrand und die Projekte zum Berliner Reichstag-Wettbewerb drücken Macht aus; und wer in der Architekturszene wüßte nicht, daß auch in einer Persönlichkeit wie Philippe Johnson, in dessen Leben und Werk, Macht zum Ausdruck kommt. Aber ist es nicht doch ein wenig gewollt, Johnson im selben Atemzug mit der – übrigens äußerst bemerkenswerten – Gefängnisarchitektur eines Remy Butler in Brest, Frankreich, abzuhandeln?

„The Power of Architecture – Architectural Design Profile 114“, 120 S., geb., S 680 (Academy Group, London).

Ein besonders interessanter Bildband ist die große, repräsentative Dokumentation eines der spektakulärsten Bauten in der Seine-Metropole, der „Bibliothèque nationale de France“ von Dominique Perrault. Diese Bibliothek schafft Raum für 17 Millionen Bücher und 3600 Leseplätze. Auch die Architektur ist eindrucksvoll: Vier hohe, jeweils einen rechten Winkel bildende Türme – sie gleichen aufgeschlagenen Büchern – umschließen eine riesige Platzfläche.

Perrault war erst 36 Jahre alt, als er 1989 den Wettbewerb für die Bibliothek gewann, weshalb auch Zweifel laut wurden, ob er eine derartige Aufgabe überhaupt würde lösen können. Aber er konnte: Fünf Jahre später war der Bau fertiggestellt.

Das Buch dokumentiert alle Stadien der Entstehung des Projekts, wobei die Baustellenphotos vielleicht sogar am aufregendsten sind, obwohl andererseits die vier Türme in ihrer Einfachheit und Ruppigkeit, eine Kraft demonstrieren, der man sich schwer entziehen kann. Perrault selbst sieht seinen Bau als „minimalistisches“ Kunstwerk. In einem in dem Band wiedergegebenen Gespräch sagt Perrault ganz unverhohlen und für einen Franzosen eigentlich überraschend, daß ihn Le Corbusier nie so fasziniert habe wie etwa Louis Kahn oder Mies van der Rohe. Tatsächlich scheint diese Architektur aus einem Stoff gemacht, dessen städtebauliche Kraft und atmosphärische Wirkung sich aus anderen Quellen nährt als den französischen Klassikern der Moderne.

„Bibliothèque nationale de France 1989-1995 – Dominique Perrault, architecte“, 232 S., Ln., S 1077 (Birkhäuser Verlag, Basel).

Zu den Usancen der Architekturverlage zählt, daß sie manchmal interessante Ausstellungskataloge als Hardcoverausgaben herausbringen. Auf zwei sei hier verwiesen: Bei Prestel ist der Katalog „The Architecture of Bruce Goff 1904-1982“ erschienen, der ursprünglich zur großen Goff-Retrospektive des Art Institute of Chicago herausgekommen ist, bei Ernst & Sohn der Katalog zur vielgerühmten Taut-Ausstellung des Sezon-Museums, Tokio – unter dem Titel „Bruno Taut: Natur und Phantasie 1880 bis 1938“. Goff war eine der faszinierendsten Gestalten der amerikanischen Architekturszene, eine Dreifachbegabung – Maler, Komponist und Architekt – und ein Besessener, dessen Vorstellungen von einer „absoluten Architektur“ zu denkwürdigen Bauten führten. Auch Taut war ein Multitalent: Dieser Katalog enthält viele bisher unbekannte Arbeiten – Entwürfe für das Theater, für Gebrauchsgegenstände und Siedlungen.

Pauline Saliga, Mary Woolever (Hrsg.): „The Architecture of Bruce Goff 1904-1982 – Design for the Continuous Present“, 120 S., Ln., S 609 (Prestel Verlag, München).

Manfred Speidel (Hrsg.): „Bruno Taut – Natur und Phantasie 1880 bis 1938“, 344 S. geb., S 764 (Verlag Ernst & Sohn, Berlin).

Eines der schönsten Bücher dieses Herbsts ist „Das moderne Haus“. Was John Welsh hier vorlegt, ist mehr als bloß eine Aneinanderreihung von Häusern. Der Versuch einer thematischen Gliederung in „ideale Villa“, „konstruktive Lösungen“, „organische Häuser“ und „Kompromisse in der Stadt“ ist zwar ebenso anerkennenswert wie der Versuch, die historischen Entwicklungslinien dieser verschiedenen Themenkreise nachzuzeichnen. In Wirklichkeit aber frappiert vor allem die Konzentration und Konsistenz dieser so unterschiedlichen architektonischen Statements.

Ein wenig nachdenklich mag einen stimmen, daß Österreich, das sich auf seine Einfamilienhausarchitektur soviel zugute hält, mit keinem einzigen Beispiel vorkommt. Andererseits – die breit gefächerte Internationalität des Bandes entschädigt dafür. Überrascht es jemanden, daß die beiden außergewöhnlichsten Häuser – die „Zero-Kosmologie“ in Sichtbeton von Masaharu Takasaki und das „Kubistische Haus“ aus Glas von Shinichi Ogawa – in Japan stehen? Auch die leuchtend farbige kalifornische Kulissenarchitektur „The Monument“ von Joshua Schweitzer oder die australischen Bauten „St. Andrew Haus“ von Nonda Katsalides und das „Haus Cowes“ von Barry und Denton Corker Marshall fallen aus dem Rahmen üblicher Einfamilienhausarchitektur und verdichten sich zu spannenden Aussagen.

John Welsh: „Das moderne Haus“, 240 S., geb., S 998 (Verlag Ernst & Sohn, Berlin).

Bleibt noch ein letzter, ein wenig abseitiger Buchtip für jene, die der Auseinandersetzung mit Baukunst der herkömmlichen Lesart müde sind: „Thomas Bernhards Häuser“ beschert den Freunden von Literatur und Baukunst gleichermaßen Freude – und die Möglichkeit zur stimmungsvollen Gedankenreise durch einen ganz anderen architektonischen Kontinent.

Wieland Schmied, Erika Schmied: „Thomas Bernhards Häuser“, 160 S., geb., S 680 (Residenz Verlag, Salzburg) .

1. Oktober 1995 newroom

Architektur und Kunst

Architektur im 20. Jahrhundert: Österreich

Im Jahr 1977 fand die erste einer geplanten Reihe von Veranstaltungen am Linzer Donauufer statt: „Forum Metall“. Aus diesem Anlaß wurden 13 internationale und österreichische Künstler und Architekten eingeladen, Beiträge für diesen spezifischen Standort am Fluß zu erarbeiten; die ortsansässige Stahlindustrie wollte sich aktiv an deren Verwirklichung beteiligen. Bei dieser Gelegenheit erblickte unter anderem die Linzer „Nike“ das Licht der Welt: eine Kreation von Haus-Rucker-Co, die vom Dach des rechten der beiden symmetrischen, unter Hitler errichteten Brückenkopfgebäude, die den Hauptplatz an seiner Nordseite fassen, weit in den Straßenraum hinausragte. In dem Haus ist sinnigerweise die Linzer Kunsthochschule untergebracht. Was lag da näher, als mit der „Nike von Samothrake“ ein Stück klassisches, antikes Griechenland in die Gegenwart herüberzuholen.

Sicher ist: Ein solches Konzept wäre damals wohl niemand anderem in Österreich eingefallen. Und ebenso sicher ist, daß es auch niemand pointierter, schärfer hätte umsetzen können als eben die Haus-Rucker-Co. Sie hat praktisch ein fotografisches - graubraun eloxiertes - Abbild der antiken Nike auf 7,5 Meter vergrößert und in Form zweier spiegelbildlich verkehrter, aus silbrig schimmernden Aluminiumtafeln zusammengesetzter Paneele auf einem sieben Meter langen, schräg nach oben weisenden Stahlgitterträger montiert. Soweit, so signifikant.

Lassen wir offen, was in dieser Arbeit inhaltlich alles angesprochen ist. Worum es hier in erster Linie geht, ist die öffentliche/mediale Reaktion. Die Linzer Nike wurde schnell zum Stein des Anstoßes. Eine gewisse, nämlich die breite Öffentlichkeit - geschürt von den konservativen Medien - zeigte sich empört. Lautstarker Tenor: „Die Nike muß weg.“

Natürlich stand auch damals schon dieser breiten eine qualifizierte Öffentlichkeit gegenüber. Und die versuchte nach Kräften, sich ebenfalls bemerkbar zu machen. Speziell Heinz Baumüller (heute: Werkstatt Kollerschlag) organisierte in einer fast schon zukunftweisenden Aktion - dergleichen gab es seither öfters - Protestschreiben von Künstlern und Kunstvermittlern internationalen Ranges. Aber im Endeffekt hat alles nichts genützt. Ein Volksfest war’s und gleichzeitig ein Trauerspiel: Am 22. November 1979, knapp vor Mitternacht, wurde die Linzer Nike demontiert. Und in der Folge, auch das nicht untypisch für den österreichischen Kulturklimapegel, wurde sie exportiert: Nach Frankfurt, ans Museumsufer, wo sie vor dem Deutschen Architektur-Museum ein Zeichen setzen sollte, was ihr aber auch dort nicht vergönnt war.

So könnte man das Geschehen rund um die Linzer Nike unter die Eckdaten der schier unendlichen Geschichte jener glücklosen Beziehung zwischen Architektur und Kunst einreihen, wie sie sich in der österreichischen Nachkriegszeit so facettenreich entwickelt hat.
Das war vor und zwischen den Kriegen noch anders. Architektur, die etwas auf sich hielt, schmückte sich oft und gern mit Kunst. Eines der schönsten Beispiele für diese selbstverständliche Beziehung steht in der Wiener Innenstadt und stammt von Joz?e Plec?nik: Es ist das sogenannte Zacherl-Haus, errichtet 1903-1905, dessen graue Granitfassade in der Zone des Dachgesimses in einer Reihe riesiger Atlanten des Bildhauers Franz Metzner ihren monumentalen Abschluß findet. (Der Erzengel Michael, der heute die Fassade schmückt und nach einem Entwurf Plec?niks von dessen Freund Ferdinand Andri zunächst in Holz geschnitzt wurde, später in Kupfer getrieben, wurde erst 1909 angebracht.)

Ein anderes hervorragendes Beispiel für das Zusammenwirken von Architektur und Kunst befindet sich auf dem Gelände des psychiatrischen Krankenhauses in Wien und stammt von Otto Wagner. Es ist seine Kirche „Am Steinhof“, errichtet 1905-1907. Die Kirche ist gewissermaßen als secessionistisches Gesamtkunstwerk angelegt: Kolo Moser entwarf die Glasfenster, Rudolf Jettmar und Leopold Forstner fertigten die Altarmosaiken aus Email, Glas, Keramik und Marmor, die Heiligenstatuen auf den beiden Türmen stammen von Richard Luksch und die Engel der Eingangszone sind von Othmar Schimkowitz. (Letzterer schuf übrigens auch die vier Meter hohen Aluminiumgüsse der Engelsfiguren auf Wagners Postsparkasse, 1903-06, 1910-12.)

Architektur ohne Kunst war bei öffentlichen und bei Repräsentationsbauten praktisch undenkbar. Und in der Zwischenkriegszeit, als die Sozialdemokratie im „Roten Wien“ ihr gewaltiges Wohnbauprogramm realisierte, hielt die Kunst dann sogar in den neuen „Arbeiterpalästen“ Einzug. Bemerkenswert daran ist aber nicht einmal so sehr die Tatsache, daß es überhaupt Kunst gab; viel bemerkenswerter ist nämlich, welche Art von Kunst das war - eine letztlich höchst konservative, die selbst vor dem guten, alten Putto nicht zurückschreckte - siehe dazu: Otto Prutschers Lorens-Hof von 1927, wo an der Gebäudeecke über dem Erdgeschoßbereich ein Putto des Bildhauers Rudolf Schmidt überrascht; Skulpturengruppen, wie jene von Leopold Hohl über dem Eingang zum Gall-Hof von Heinrich Schopper und Alfred Chalusch, 1924, mit dem sinnreichen Titel „Kraft und Fruchtbarkeit“ waren nicht selten; und auf „Zierbrunnen“ stieß man in jedem größeren Hof. Da kam der künstlerischen Qualität der Plastiken eines Anton Hanak, etwa über dem Eingangsportal zum Klose-Hof von Josef Hoffmann (1924), schon eher der Rang einer Ausnahme zu.

Dieses Manko sollte die „Kunst am Bau“ im wesentlichen auch noch zumindest die ersten drei Nachkriegsjahrzehnte hindurch charakterisieren. Die sattsam bekannte „Eisbären-Zeit“, die vor jedem größeren Gemeindebau eine Tierplastik zur Folge hatte - bei kleineren tat es auch nur ein Mosaik -, währte noch bis in die siebziger Jahre hinein. Und zumindest im Wohnbaubereich der Bundeshauptstadt wurde sie auch dann nicht etwa durch Besseres abgelöst, sondern genau genommen durch (fast) gar nichts. Mit anderen Worten: Aus dem kommunalen Wohnbau hat sich die Kunst heute weitestgehend verabschiedet, sie wurde praktisch ersatzlos gestrichen.

Das ist beim Bundeshochbau nicht der Fall: Da gibt es das berüchtigte Kunst-Prozent und seit Mitte der achtziger Jahre auch einen Beirat „Kunst und Bau“, der über Verfahrensweise (Direktauftrag, geladener Wettbewerb, offener Wettbewerb) und Vergabe entscheidet. Das heißt: Schulen und Universitäten, Kasernen und Ämter werden seither mit Kunst ausgestattet, auch wenn es dabei nicht immer ganz reibungslos zugeht. Wenn nämlich ein Bau - wie etwa der Neubau der Technischen Universität in Wien - teurer ist als geplant, dann wird die Gefahr akut, daß sich automatisch das Kunst-Prozent verflüchtigt, zumindest aber empfindlich reduziert.

Doch die eigentliche Gretchenfrage in bezug auf das Thema „Kunst und/am Bau“ tut sich jenseits solcher Verfahrens- und Finanzierungsfragen auf: Sie ist inhaltlicher Natur und hat - siehe Einleitung - bis heute mit dem krassen Informationsdefizit zu tun, das sich zwischen der breiten und einer qualifizierteren Öffentlichkeit kluftartig auftut; sie hat mit dem entfremdeten Verhältnis zwischen Architekten und Künstlern zu tun und damit, daß Künstler von ihrer Ausbildung her auf die spezifischen Bedingungen einer Kunst im architektonischen oder stadträumlichen Kontext nicht vorbereitet sind; last not least betrifft sie sicher auch das aktuelle Anforderungsprofil und die geltende Durchführungspraxis, die beide weit hinter den tatsächlichen Entwicklungen im Kunstbereich hinterherhinken. Die verordnete Usance will nämlich nach wie vor, daß Kunstwerke fest mit dem Bau verbunden und daß sie pflegeleicht bzw. nach Möglichkeit wartungsfrei sein müssen. Da kann es schon vorkommen, daß eine minimalistische Stahlskulptur, die für die Rasenfläche vor einer Schule in Oberösterreich realisiert wurde, nicht an der knappen Million Schilling Kosten, sondern am Veto des Schulwarts scheitert, dem es zu umständlich ist, um das Objekt herumzumähen.

In der Steiermark, die als einziges österreichisches Bundesland ein eigenes Kunst-am-Bau-Büro unterhält und in diesem Bereich relativ konsequent und engagiert tätig ist, gibt es schon eine deutlich größere Bandbreite an Möglichkeiten. Sogar die Niederösterreicher und die Salzburger halten sich auf ihre „Kunst am Bau/Kunst im öffentlichen Raum“ immerhin soviel zugute, daß sie sie in umfangreichen Bänden publizieren. Das wird auf Bundesebene vielleicht auch noch einmal der Fall sein, aber was Wien selbst anbelangt, sollte man ein solches Vorhaben getrost noch eine Weile vertagen. Nur als Beispiel: Bei der „künstlerischen Ausschmückung“ des riesigen Komplexes des Allgemeinen Krankenhauses etwa scheute man nicht davor zurück, Einheitsgrößen von Rahmen zu verwenden, für die Künstler dann eine passende Bildspende abliefern durften.

Aber Wien ist ja überhaupt ein eigenes - „anderes“ (Anm.: „Wien ist anders“ - heimischer Werbeslogan der Zilk-Ära) - Kapitel: Es hat seinen Friedensreich Hundertwasser, seinen Arik Brauer und seinen Karl Hodina (für Nicht-Wiener: ein Heurigensänger, der auch malt) und verfügt damit, nach dem Willen seines ehemaligen Bürgermeisters Helmut Zilk, über eine sehr individuell-symbiotische Lesart von Künstler-Architektur, die sich nach Wohnhäusern und Fernheizwerk inzwischen auch entlang der Autobahnen (Raststätten) ausbreitet und selbst vor Kirchen (Ernst Fuchs in der Steiermark) nicht halt macht. Diese ungebremste Karnevalisierung von Stadt und Land grassiert mittlerweile mit der Vehemenz einer seuchenartigen Immunschwäche und ist an Perfidie kaum noch zu überbieten: Denn alle diese Malerarchitekten - sie bauen natürlich zu Sonderkonditionen, die keinem Architekten je zugestanden würden - treten mit dem Anspruch auf, als könnten sie - wenn schon nicht die Kunst, so wenigstens das Bauen besser...

Dabei, und das muß einem doch zu denken geben, hat Österreich in den sechziger und siebziger Jahren eine wirklich spannende Hochblüte architektonisch/künstlerischer Konzepte erlebt. Das fing schon seinerzeit mit Hans Hollein und Walter Pichler an, die ja ein gutes Stück Weg gemeinsam gegangen sind und beide scharf an der Grenze zwischen Kunst und Architektur agierten - „Architektur“ war schließlich auch der Titel einer Gemeinschaftsausstellung der beiden in der Wiener „Galerie nächst St. Stephan“. Nicht von ungefähr entwirft Walter Pichler heute im burgenländischen St. Martin Häuser für seine Skulpturen und baut an seinem eigenen „ruralen“ Gesamtkunstwerk. Und nicht von ungefähr schuf Hollein noch Jahre nach Fertigstellung des Museums Abteiberg in Mönchengladbach mit der „Turnstunde“ (1984) eine Installation ganz und gar künstlerischer Provenienz.

In diesem Zusammenhang wäre auch noch ein anderer Vertreter dieser Künstler-Architekten-Generation zu nennen, der Österreich allerdings bald nach seinen ersten Bauerfahrungen - Mitte der sechziger Jahre - verlassen und dann, in New York, auf das Bauen jahrzehntelang verzichtet hat: Raimund Abraham. Ist es Architektur, was sein Bleistift auf dem Papier realisiert - er würde sagen, ja. Aber man kann sicher darüber diskutieren, wieweit diese Architektur nicht auch oder vor allem Kunst ist.

Zu einer geradezu hektischen Aktivitätsfülle im Berührungsbereich Architektur und Kunst kam es aber dann Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre, als die Architektengruppen wie Pop-Bands aus dem Boden schossen - Haus-Rucker-Co, Coop Himmelblau, Salz der Erde, Zünd up etc. - und das amüsierte Publikum mit pneumatischen Wohnräumen, die irgendwo aus den Fenstern hingen (Haus-Rucker-Co), vergnüglichen „Riesenbillards“ (Haus-Rucker-Co) und „Stadtfußbällen“ (Coop Himmelblau) unterhielten und möglicherweise auch provozierten. Das kreative Potential dieser Jahre war kaum noch zu überbieten und strahlte weit über die Landesgrenzen aus.

Dagegen hat sich im Kunstbereich im engen Sinn zur gleichen Zeit viel weniger getan, das über den Galerie- und Museumskontext hinaus öffentlich wirksam und sichtbar geworden wäre. Die vermutlich beste und signifikanteste Arbeit eines Künstlers im Architekturkontext stammt von dem Vorarlberger Gottfried Bechtold; sie wurde aber nicht in Österreich realisiert: Es ist sein „Betonporsche“ aus dem Jahr 1971, der seither auf dem Parkplatz der Universität Konstanz für Aufsehen sorgt und im übrigen 1996 sein 25jähriges Jubiläum feiert. Gottfried Bechtold aus Vorarlberg, Richard Kriesche aus Graz, Waltraud Cooper aus Linz - das sind schon einige der wichtigsten Künstler, die die Arbeit im architektonischen Kontext bzw. auch im öffentlichen Raum zu ihrem Anliegen gemacht haben. Sie mußten ziemlich lange durchhalten, bis sie größere Konzepte umsetzen konnten, und dabei kämpferische Strategien entwickeln, die weit über den Rahmen üblicher Durchsetzungsmuster hinausgehen.

Aber letztlich waren sie doch erfolgreich: Waltraud Cooper konnte in einem der neueren Grazer Universitätsbauten eine ihrer medialen Licht-Ton-Arbeiten realisieren und hat später auch den Wettbewerb für die wichtigste künstlerische Arbeit im Austria Center Vienna für sich entschieden - übrigens eine jener zahlreichen Gelegenheiten, bei denen man sich fragen muß, inwieweit die künstlerische Ambition zum Tragen kommen kann, wenn die architektonische derartig ausläßt.

Gottfried Bechtold hat im vergangenen Jahr im Kontext eines Schulbaus von Ernst Giselbrecht in Kaindorf/Steiermark eine der bemerkenswertesten und signifikantesten „Kunst und Bau“-Arbeiten seit Jahren realisiert: Einen weithin sichtbaren, hohen Leuchtturm, spitz wie eine Nadel, eine filigrane technische Skulptur, die sich auch auf dem Boden breit macht, bis ins Gebäudeinnere fortsetzt und dort, proportional zur schulischen Betriebsamkeit, für differenzierte Lichtsituationen sorgt. Das heißt, wenn die Schule geschlossen ist, strahlt der Leuchtturm am stärksten, ist die Schule in Betrieb, wird das äußere Licht quasi nach innen gesogen. Außerdem haben die Schüler über einen Terminal die Möglichkeit zu spontanen, zeitlich begrenzten Eingriffen (eine Möglichkeit, die allerdings mehr theoretisch existiert, weil sich der neue Schuldirektor mit der Arbeit von Bechtold nach wie vor nicht angefreundet hat und daher den Terminal gern unter Verschluß hält).

Die Probleme im Umgang mit „verordneter“ Kunst am Bau sind, wie man an solchen Beispielen sehen kann, noch lange nicht ausgeräumt. Alle Vorstöße in unbekanntes, unerprobtes Terrain müssen daher vorläufig punktuell bleiben. Das liegt teilweise durchaus auch am System:
Da werden Aufträge - zum Beispiel für Amtsgebäude - vergeben, kaum weiß man, wie; und dann wird ein sorgfältiges, minutiös durchgespieltes Verfahren in die Wege geleitet, um das bestmögliche Kunstkonzept zu erlangen. Daß architektonische Belanglosigkeit und forcierter zeitgenössischer Kunstanspruch nicht in Deckung zu bringen sind, sollte - oder könnte - man zumindest wissen.

Im architektonischen Kontext ist zwar heute längst auch eine jüngere und sehr professionelle Künstlergeneration am Werk, die in den letzten Jahren eine ganze Reihe interessanter Arbeiten realisiert hat. Aber die wirklich bedeutsamen Schöpfungen, in denen sich Kunst und Architektur vorsichtig berühren, verdanken sich nach wie vor öfter anderen, nicht-verordneten Umständen und Initiativen und sind schon von daher - aber nicht nur deswegen - singulär. Die Kraft, die Günther Domenigs „Steinhaus“ am Ossiacher See innewohnt, wird kein Nur-Architekt und kein Nur-Künstler seiner Arbeit so schnell einhauchen können: Eine solche Haus gewordene Skulptur - oder ist es umgekehrt? - verdankt sich nicht einfach einem Baukünstler im herkömmlichen Sinn, sie braucht den Künstler-Architekten. (A propos Künstler-Architekt: Daß sich Günther Domenig auch gerne als Objektkünstler versucht, hat er u.a. 1983 mit seinem Vogel „Nix-Nuz-Nix“ bewiesen. Das Objekt wurde ursprünglich für eine Bank entworfen und später von Domenig zurückgekauft.)

Ganz anders angelegt, aber von vergleichbarer Konzentration ist auch Cornelius Koligs „work in progress“, „Das Paradies“ im Kärntner Gailtal: Es hat 1980 mit der sogenannten Roten Grube begonnen und wurde im Lauf der Jahre zu einer architektonisch und konzeptionell komplexen Anlage, die sich immer weiter ausdehnt und verändert. Vom Aufbau her könnte man einen basilikalen Grundriß - zwei Türme, kapellenartige Zubauten - konstatieren, der aber durch die einfachen Materialien - unverputzte Hohlblocksteine, Sichtbeton, unbehandeltes Holz, Aluminium - aufgebrochen, ambivalent wird.

Geradezu konträr ist die Haltung eines Adolf Krischanitz. Er baut nicht etwa an seinem eigenen Gesamtkunstwerk, aber er arbeitet mit Künstlern seiner eigenen Wahl zusammen, wenn es um die Farbkonzepte seiner Bauten geht. Von den Einfamilienhäusern bis zu den Reihenhäusern in der Wiener Pilotengasse hat diese maßgeschneiderten farbigen Kleider zumeist Oskar Putz entworfen, zuletzt, beim Kindergarten „Neue Welt Schule“, stammte das Farbkonzept von dem in Wien lebenden Schweizer Künstler Helmut Federle. Es hat diese letzte Auffassung sicher nichts mit den Projekten eines Günther Domenig oder eines Cornelius Kolig zu tun - sie ist aber bemerkenswert, weil sie gewissermaßen eine deklariert zeitgenössische Lesart der tradierten Allianz zwischen Architekt und Künstler darstellt, wie sie früher einmal die Wiener Moderne so sehr geprägt hat.
Picasso is watching us: Robert Adrian X, seit langem in Wien lebender Kanadier, hat eine gigantische Vergrößerung von „Picassos Auge“ so auf einem Gebäude angebracht, daß jeder, der die Reichsbrücke Richtung Innenstadt überquert, in den Sog dieses suggestiven Blicks gerät. Bild gewordene Allmachtsphantasie eines Künstlers? Oder Ikone - aber wovon und für wen?

Vielleicht ist es dem österreichischen Biennale-Kommissär Peter Weibel im Sommer 1995 am besten gelungen, die neuen - medialen - Schnittstellen zwischen Architektur und Kunst sichtbar zu machen: „Mit dem Wandel des Bildes und seinem Wandern von der Malerei zu den Medien hat sich auch die Schnittstelle zwischen Kunst und Architektur gewandelt: von der Malerei zu den Medien. Die dreidimensionale und die zweidimensionale Kunst ändern sich mit ihren Trägermedien, mit ihrer Technologie (...) Daher bilden die Medien heute die dominante Schnittstelle zwischen Architektur und Kunst, zwischen Baukunst und Bildkunst. Die technische Transformation des Bildes hat also auch die Gleichung zwischen Kunst und Architektur transformiert“ (Weibel).

In diesem Sinn war Österreichs Biennale-Pavillon in Venedig - mit seiner spektakulären Überformung des Hoffmann-Baus durch Coop Himmelblau und seinem nicht weniger spektakulären, flirrenden, weil medial vermittelten Bildinhalt (von Peter Kogler, Richard Kriesche, Constanze Ruhm, Peter Sandbichler, Eva Schlegel und Ruth Schnell) ein zukunftweisendes Statement für die von Peter Weibel apostrophierte „neue Gleichung zwischen Kunst und Architektur“.

2. September 1995 Spectrum

Ohne Schlagobers

Franz E. Kneissls Bauten schlagen einen herben Ton an. Die rüde Demonstration architektonischer Pragmatik hat fast schon den Charakter eines Manifests.

In der Arbeit von Franz E. Kneissl gibt es schon seit langem ein durchgehendes Thema: Man könnte es die Abwesenheit der Architektur nennen. Das fing mit den frühen Mehrzweckhallen des damaligen Teams Appel, Kneissl, Prochazka an und setzt sich nahtlos und noch schärfer in den beiden jüngsten kleinen Arbeiten von Kneissl fort. Sowohl der Umbau des „Literarischen Quartiers“ in der Alten Schmiede in Wien als auch der temporäre Pavillon des „Architektur Zentrums Wien“ im Museumsquartier liefern Beispiele für den Gestaltungsunwillen dieses Architekten. Man muß sie gesehen haben.

Kneissl hat den neuen Pavillon unmittelbar vor das „Architektur Zentrum“ in einen Hof des Museumsquartiers gebaut, also nicht mitten hinein, sondern in eine Ecke. Damit wird gleich klargestellt, daß es sich nicht um ein solitäres Bauwerk handelt, sondern um eines, das als vorübergehende Erweiterung der Ausstellungsräume des AZW dient. Während des großen Architekturfestivals „80 Tage Wien“, das uns diesen Herbst mit seinem dichten Programm außer Atem bringen wird, kann sich der Ausstellungsbesucher dort einen aktuellen Programmüberblick verschaffen, seinen Kaffee trinken, Bücher kaufen und überhaupt an Veranstaltungen aller Art – vom Diavortrag bis zur Diskussionsrunde – teilnehmen.

Der Pavillon ist eine schlichte Stahl-Glas-Konstruktion, ein Quader mit Trapezblecheindeckung und asphaltiertem Fußboden. An der südlichen, dem Hof zugewandten Längsseite hat er einen Sonnenschutz. Als Verdunkelung bei Diavorträgen, die am Tag stattfinden, dürfte diese Jalousie aber nicht ausreichen: Da werden die Scheiben mit Folie beklebt. Außerdem ist der Pavillon beheizbar (eine Gasheizung, die die warme Luft von der Decke in den Raum bläst).

Der Pavillon steht auf einem ganz simplen Fundament. Es wurde aus dem Asphalt des Hofes ein Rechteck ausgeschnitten, eine Betonplatte eingefügt und darüber wieder asphaltiert. Auf diesem Fundament ist der Pavillon festgeschraubt – das heißt, er kann jederzeit demontiert und zerlegt werden und bekommt später, lange nach Ende der „80 Tage Wien“, auch tatsächlich einen neuen Aufstellungsort: im Bereich des neugestalteten Wiener Gürtels, wo es offenbar Bedarf für eine solche kleine Halle gibt.

Kneissl hat die beiden Eingänge in seinen Pavillon an die dem Hof abgekehrte Längsseite verlegt. Das ist auf den ersten Blick eine überraschende Maßnahme, weil der Ankommende dadurch vor einer zwar transparenten, aber hermetisch abgeschlossenen Box steht. Die einladende Geste weit geöffneter Türen hat sich der Architekt aber versagt, weil es ihm darum ging, die Störung des Hofes durch diesen Einbau so gering wie möglich zu halten – daher auch kein Terrassencafé, das dann mit Tischen und Stühlen über die Platzfläche des Hofes wuchert.

Die einzige Raumausstattung, die er seinem Pavillon mitgegeben hat – Tische und Stühle waren vorhanden –, besteht aus zwei tiefen Regalen, die jeweils an den Schmalseiten des Hauses direkt an die Glashaut geschoben sind. Sie sind so dimensioniert, daß man dort von der Tonanlage bis zum Diaprojektor alles mögliche plazieren und obendrein vorübergehend nicht gebrauchtes Mobiliar darin verstauen kann.

Kneissls Pavillon ist ein bemerkenswertes Gebilde. Man schaut ihn an und gewinnt den Eindruck, daß man ihn schon viele Male gesehen hat. Ihm fehlt einfach jegliche Besonderheit. Ihm fehlt das raffinierte, das delikate Detail. Ihm fehlt die individuelle architektonische Geste. Und letztlich drückt er nicht einmal die Ambition des Architekten aus, wenigstens die Konstruktion soweit zu minimieren, daß eben wirklich nur ein Hauch von Stahl und Glas dasteht. Diese rüde Demonstration architektonischer Pragmatik hat fast schon Manifestcharakter. Und der Titel dieses Manifests müßte eigentlich lauten: arme Architektur.

Auch der Umbau des „Literarischen Quartiers“ läßt sich unter diesem Vorzeichen betrachten. Der Veranstaltungssaal dieser Institution liegt ja, von der Straße aus unsichtbar, in einem Hinterhof der Wiener Innenstadt und war früher, vor Kneissls Intervention, zwar nicht reizlos, aber doch arg beengt. Von den räumlichen Voraussetzungen her – knappe 120 Quadratmeter Veranstaltungsraum und ein Vorraum – war dem Architekten ein denkbar enges Limit gesetzt. Viel konnte er hier von vornherein nicht machen; die Schwierigkeit war, das wenige so zu tun, daß die Beengtheit der Situation funktionell und atmosphärisch relativiert wird.

Kneissl schuf einen ganz neuen und sehr puren, aber transparenten Eingangsbereich mit Windfang und erreichte durch eine Reihe kleiner Maßnahmen, daß der Vorraum als Gelenk zwischen außen und innen, als Durchgangszone, aber auch als Aufenthaltsraum besser funktioniert. Gleich links vom Eingang ist in einer Nische ein Tisch plaziert, auf dem Bücher verkauft werden können; hier geht es dann weiter zu den Garderoben; gegenüber: Informationswände für Plakate und Programme, darunter schmale Stehpulte.

Der Zugang zum Veranstaltungssaal ist als Schiebewand formuliert, die man ganz öffnen kann, sodaß bei großem Publikumsandrang die Leute auch draußen im Vorraum stehen können und doch noch etwas sehen und hören. Die Sitzreihen laufen – entlang der Wände – rundherum. Kneissl hat drei Sitzreihen übereinandergestaffelt, eine offene Tribüne, durch die man bis zur Wand durchsieht: Das war ein wichtiger Kunstgriff, denn ein geschlossener, kastenartiger Tribüneneinbau hätte den Raum verkleinert.

Die Tribünenkonstruktion selbst ist eine „Maßanfertigung“ aus Stahl, die Sitzflächen sind ein Fertigprodukt aus gepreßten, an der Vorderkante leicht gebogenen Sperrholzpaneelen. Daß Stufen eingeschnitten werden mußten, wiewohl keiner sie benutzt, fällt ebenso unter die behördlich verordneten Zwänge wie die Haltegriffe, die angeblich der Sicherheit dienen; auch die Fluchttüre zählt dazu, die jetzt – ein Kuriosum eigentlich – in die Schiebewand integriert ist und mit dieser weggeschoben werden kann. Was zwischen den Zeilen dieser knappen Schilderung lesbar werden sollte: Genau wie der Pavillon des „Architektur Zentrums Wien“ ist dieser Umbau durch – man kann es kaum anders benennen – den Verzicht auf jegliche Art von verselbständigtem architektonischen Gestaltungswillen charakterisiert.

Beim Pavillon, der ja ein Neubau und nicht ein maßgeschneiderter Umbau in alter Substanz ist, tritt die Armut dieser Architektur naturgemäß noch viel eklatanter in Erscheinung. Kneissl hat die Konstruktion der Halle nicht selbst entwickelt: Es handelt sich vielmehr um ein Fertigprodukt, eine preiswerte Industriehalle, die man „nach Maß“ bestellen kann; sie könnte genausogut eine Haut aus Trapezblech haben und würde sich dann nicht wesentlich von den vielen Industriehallen unterscheiden, wie sie in den Betriebsbaugebieten an der städtischen Peripherie zu Dutzenden herumstehen.

Diese Entscheidung für ein Industrieprodukt hat dabei in bezug auf die Delikatesse des Bauwerks weitreichende Folgen. Denn die Konstruktion ist so ausgelegt, daß damit Spannweiten bis zu 35 Metern bewältigt werden können. Das heißt: Bei geringeren Spannweiten sind gewisse Konstruktionsteile zwangsläufig überdimensioniert. Auch die Dimensionierung des gesamten Bauwerks ist letztlich nicht nur Resultat einer Überlagerung von architektonischen Maßnahmen und funktionellen Vorgaben, sondern auch von sehr pragmatischen Preis-Leistungs-Überlegungen.

Die Entscheidung für Glas läßt sich begründen: Es ist ein gut wärmedämmendes Material, sorgt für natürliche Belichtung im Pavillon selbst und entmaterialisiert den Einbau soweit, daß die Hofsituation nicht beeinträchtigt wird. Aber Glas in großen Paneelen ist teuer. Wenn man eine bestimmte Größe überschreitet, vervielfachen sich die Glaspreise explosionsartig. Kneissl hat die ursprüngliche Überlegung, den Pavillon zehn mal 20 Meter zu machen, bedenkenlos modifiziert: Er nahm den größten Scheibenzuschnitt, der noch in die Niedrigpreiskategorie fällt, als „Modul“ – zwei mal drei Meter – und kam so auf Abmessungen von neun mal 18 Meter.

In der heutigen Architektur gibt es das Schlagwort vom Minimalismus. Aber dieser Minimalismus ist ein artifizielles Konstrukt, das in Bauten resultiert, die wie Bilder funktionieren. Eine solche Stilisierung würde sich Kneissl niemals durchgehen lassen. Seine Haltung ist viel härter. Und seine Bauten funktionieren, sie sind benutzbar, aber da ihnen das „Schlagobers“ (Kneissl) fehlt, schlagen sie einen herben Ton an. Zweifellos, Kneissls arme Architektur ist gewöhnungsbedürftig.

26. August 1995 Spectrum

An einem Bächlein helle

Reduziert – und doch nicht monoton: das Schulgebäude von Ines und Reinhold Bösch in Koblach, Vorarlberg. Mit einem Energiekonzept, das Zukunft hat. Ein Schulversuch.

Schon die Baustelle war spektakulär. Denn als die Realisierung des Schulgebäudes der Architekten Ines und Reinhold Bösch auf der grünen Wiese im Zentrum von Koblach in Angriff genommen wurde, gab es zunächst nichts zu sehen als die 20 jeweils zehn Meter hohen, betonierten Pfeiler, die jetzt das Rückgrat des Hauses bilden – ein Stonehenge der neuzeitlichen Art.

Diese Sichtbetonpfeiler haben die Installationen und Lüftungsführungen aufgenommen, gemeinsam mit den Sichtbetonträgern bilden sie die primäre Tragstruktur des Hauses. Der Klassentrakt, der insgesamt drei Ebenen umfaßt, besteht im wesentlichen aus drei aufeinandergestapelten, 90 Meter langen Hallen, die nach den Vorgaben der Schulbehörde und unter Ausnutzung des Konstruktionsrhythmus der Fertigteildecken (nicht aus Beton, der Akustik wegen) in die verschiedenen Klassenzimmer und Nebenräume unterteilt sind. Alle Trennwände sind dabei nichttragende Gipsständerwände, sodaß Nutzungsänderungen jederzeit ohne großen Aufwand berücksichtigt werden können.

Aber fangen wir außen an. Denn der mehrteilige Gebäudekomplex von Ines und Reinhold Bösch mit Klassentrakt und Dreifachturnsaal, mit einem eigenen kleinen Verwaltungsbau und einer öffentlichen Bücherei steht zwar auf einem großen, langgestreckten und durch den Lauf eines Baches romantisch grünen Grundstück – aber eben doch mitten im „Ländle“. Und was das vom Maßstab der umliegenden Bebauung her bedeutet, weiß man: Einfamilienhäuser überall. Es hätte also auch sehr schiefgehen können, eine so große Schule dazwischen hineinzubauen (wiewohl es manchmal auch gut tut, einen etwas massiveren städtebaulichen Akzent in einer so orientierungslosen Gegend zu haben).

Ines und Reinhold Bösch haben sich um Vermittlung bemüht. Erstens haben sie das Gebäude so geschickt auf dem Grundstück plaziert, daß keine unbenützbaren Restflächen entstanden sind; zweitens haben sie vor dem Eingangsbereich einen großen, eigentlich urbanen Vorplatz geschaffen; drittens blieb noch genug Raum für großzügige Sportanlagen im Freien; und last not least kommen nur die Schmalseiten des Komplexes der kleinteiligen Wohnbebauung nahe.

Die Situierung des Gebäudekomplexes ist wesentlich durch den geschwungenen Bachverlauf bestimmt und durch die Nord-Süd-Orientierung des Hauses. Eines der Kriterien im Gutachterverfahren von 1990 war nämlich ein wirtschaftliches und umweltfreundliches Energiekonzept. Die Architekten haben sich daher für passive Sonnenenergienutzung entschieden, alle Klassen ausnahmslos nach Süden orientiert und den Turnsaal nach Norden. Im Norden liegt auch der große Vorplatz mit Parkplätzen, Fahrradabstellraum und Haupteingang. Ein zweiter Zugang führt von der Bushaltestelle im Osten über eine kleine Brücke am Verwaltungsgebäude vorbei.

Dieser Zugangsbereich ist durch die skulpturale, ein wenig spitz zulaufende Durchbildung des Verwaltungsbaus mit der Bücherei und der separat erschlossenen Schulwartwohnung sehr deutlich und einladend formuliert. Überdies fallen auf den beiden Wegen hin zum Eingang zwei kleine Besonderheiten auf: Einmal – von der Haltestelle kommend – die sehr minimierte Brücke, deren Tragkonstruktion das Geländer bildet, während man auf dem Steg über hängende Holzbohlen geht. Die zweite Besonderheit sind lange, offene Sitztribünen in der Nähe des Eingangs, die auf Vorplatz und Parkplatz schauen und unter denen die Fahrradständer verborgen sind; übrigens ein durchaus spannender Raum, wenn durch die Schlitze zwischen den Stufen das Sonnenlicht in schmalen Streifen einfällt. Und man kann sich gut vorstellen, daß die Schüler in der warmen Jahreszeit von dieser Aufenthaltsmöglichkeit gern Gebrauch machen.

Die Architekten versichern, daß sie keine minimalistische Blackbox bauen wollten. Wenn man vor den 90 Meter langen, betont flächigen und geometrisierten, nur auf der Addition gleicher Teile basierenden Hauptfassaden steht, kommen einem daran Zweifel. Denn wovon sonst sollte man sprechen als von einem rigorosen Verzicht auf das nichtbegründete Detail und in diesem Sinn eben doch einer Minimalisierung? Wichtig ist vor allem, daß trotz solcher Reduktion keine Monotonie aufkommt; und die etwas schiefe, zum Bach ausgreifende Stellung des kleineren Verwaltungsbaus – in Ziegelmauerwerk und Ortbeton ausgeführt – gibt der Anlage jenen leichten Dreh, der eine spannende Situation entstehen läßt.

Man wird wie selbstverständlich hineingeführt in das Haus und erlebt auf dem Weg zu den Klassenzimmern differenzierte Raumschichten. Das ist offensichtlich eines der Themen der Architekten gewesen, da sie zunächst eine innenräumliche Situation schaffen, in der man „gleichzeitig innen und außen“ ist. Erster wichtiger Raumeindruck: ein verglastes Foyer, das sich durch das Öffnen einer Schiebewand mit dem angrenzenden Musikraum verbinden läßt und bei Veranstaltungen auch mit Speisesaal und Küche. Spektakulärstes innenräumliches Erlebnis: Die glasgedeckte Zwischenzone, die sich rund um die Turnhalle und von Eingang zu Eingang entwickelt und aus den drei Geschoßen des Hauses eine Raumeinheit macht.

Der Trick dieser dreigeschoßigen Erschließungszone, die den Turnsaal durch eine 45 Meter lange und sechs Meter hohe Glaswand optisch einbezieht, liegt darin, daß sie sich durch einen Luftraum von den Klassen absetzt, daß sie eine gewisse Distanz hält zum eigentlichen Unterrichtsraum. In den gelangt man über gläserne Brücken – nicht durchsichtig, nur durchscheinend –, was das Betreten des Klassenzimmers sicher zur bewußten und besonderen Handlung werden läßt.

Wichtig auch, daß es architektonisch in einer Schule nicht bloß dekorativ, sondern konsequent und substantiell zugeht. Und das ist hier ganz sicher der Fall: Die Schüler sind durch die Konsequenz der Architektur, die die konstruktive Struktur als Gestaltungsmittel einsetzt, einfach aufgefordert, über die Logik und Intelligenz des Bauwerks nachzudenken.

Das räumliche und konstruktive Gerippe der Schule beruht auf einem Modul von 4,2 Metern, das in den verschiedensten Unterteilungen und Vervielfachungen den Zuschnitt fast aller Räume bis hin zu den konstruktiven Bauteilen ergibt. Die Pfeilerstruktur mit ihren 2,80 Metern Breite ist außerdem durch Verglasungen geschlossen, sodaß ein ganz neues Bild von Unterricht entsteht: Das Klassenzimmer ist nicht die isolierte Zelle, in die keiner hineinschauen soll oder darf, sondern sie wird zum integralen Organ des lebendigen Organismus Schule.

Ines und Reinhold Bösch haben beim Turnsaal etwas eigenwillige Vorstellungen realisiert. Denn die Architekten sind der Ansicht, da man sich dort wohler und sicherer fühlt, wenn die Wände senkrecht und Boden und Decke parallel und waagrecht sind. Richters bemerkenswerter Turnsaal mit seiner schrägen Verglasung paßt insofern nicht ganz in ihr Konzept, ebensowenig der Turnsaal von Fellerer und Vendl in Graz.

Bei ihrem eigenen Bau ergab sich daraus aber ein konstruktives Problem, denn sie mußten einen speziellen Stegträger entwickeln, der zwischen der Vier-Grad-Neigung des Schuldaches und der 24-Grad-Neigung über Foyer und Gang vermittelt. Das haben die Architekten mit Hilfe eines speziellen Holzleimbinders erreicht, der in eine minimierte Stahlkonstruktion und in das Glasdach überleitet, sodaß sie ihr eigenes Kriterium einer bodenparallelen Unterkante der Konstruktion erreicht haben.

Energiebewußt wurde unter allen Fundamenten und den Boden berührenden Bauteilen und auch bei den Wänden für eine verstärkte Wärmedämmung gesorgt. Luftkollektoren sorgen für eine Erwärmung der Frischluft, und Wärmeüberschuß wird über Wasserspeicher weiterverwendet, ebenso die warme Klassenabluft.
Man darf vermuten, daß dieses ausgetüftelte Energiekonzept nicht das Hauptanliegen der Architekten war. Es wird aber sicher in Zukunft noch an Bedeutung gewinnen. Für den Augenblick sind die Intelligenz und der Einfallsreichtum der architektonischen Lösung und auch die unvoreingenommene inhaltliche Auseinandersetzung von Ines und Reinhold Bösch mit dem Thema Schule überzeugend genug.

29. Juli 1995 Spectrum

Atemlos am Rand der Stadt

Es gibt Wohnanlagen, an denen beeindruckt vor allem die Statistik. Beispiel Wien-Süßenbrunn: Auf mehr als einem Kilometer Länge 900 Wohnungen, an denen elf Architekten und Teams geplant haben. Das Ergebnis: viel Architektur zum Wegschauen.

Es gibt Wohnanlagen, an denen beeindruckt zunächst und vor allem die Statistik. Wenn so eine Stadtrandsiedlung schon einmal von sich behaupten kann, daß sie allein an Länge mehr als einen Kilometer aufzuweisen hat, das ist doch was! Auch der Flächenverbrauch kann sich sehen lassen: immerhin 17 Hektar. Und der Anzahl der Wohnungen – rund 900 – entspricht in diesem Fall nicht nur die zahlreich gerade Einzug haltende Bewohnerschaft – es sind an die 2600 Menschen –, nein, „östlich der Süßenbrunner Straße“ waren auch gleich sieben „Bauherren“ (sprich: Bauträger, Genossenschaften) am Werk und nicht weniger als elf Architekten und Teams.

Und diese Statistik läßt sich, ganz ohne alle Ironie, noch fortsetzen. Otto Häuselmayer wurde im Sommer 1991 beauftragt, ein städtebauliches Leitprojekt und einen Strukturplan zu entwickeln, der die Grundlagen für eine Änderung des Flächenwidmungs- und Bebauungsplanes liefern sollte; im Herbst 1991 waren schon alle beteiligten Architekten fleißig am Entwerfen; im Wiener Gemeinderat ging der Beschluß des Flächenwidmungs- und Bebauungsplanes im Frühjahr 1992 über die Bühne; im Sommer und Herbst desselben Jahres waren alle behördlichen Einreichverfahren abgewickelt; Anfang 1993 wurde mit der Realisierung begonnen; jetzt schreiben wir Sommer 1995, und die Wohnanlage ist bewohnt.

Derart zügig wurde selten etwas dieser Größenordnung aus der grünen Wiese der Wiener Peripherie gestampft. Und das kann wiederum nur heißen: Wenn bloß die richtigen Leute in der Wiener Stadtpolitik etwas Bestimmtes wollen, dann kommt es blitzartig zustande.

„Östlich der Süßenbrunner Straße“: Das ist nicht weit von Wiens großer Mülldeponie, die Gegend ist also keine Sensation. Die neue Wohnanlage schließt an ein recht wild und sehr heterogen gewachsenes Siedlungsgebiet an, das sich bis zum Badeteich von Hirschstetten erstreckt. Dieser einzigen „Besonderheit“ weit und breit, diesem immerhin so etwas wie Identität stiftenden Merkpunkt in der Landschaft trägt das städtebauliche Leitprojekt von Häuselmayer Rechnung. Die „Mitte“ seiner Anlage ist aus der tatsächlichen Mitte asymmetrisch verrückt, wodurch eine direkte Verbindung zum Teich entsteht.

Diese Mitte kann sich übrigens sehen lassen: Sie ist um eine „harte“, städtische Platzfläche organisiert, auf der temporär auch ein Markt abgehalten werden soll, und um einen Grünbereich – einen „Stadtpark“, wie es in den frühen Projektbeschreibungen etwas dramatisch heißt. Rund um diese Freiflächen sind nicht nur kleine Geschäfte und Gastronomie angesiedelt, sondern auch eine Schule des „Ateliers 4“ und ein Kindergarten von Melicher/Schwalm-Theiss mit Gressenbauer – womit auch schon die meisten architektonischen Highlights dieser Anlage genannt sind. Damit sind wir bei jenem gravierenden Problem, das vielen größeren Wiener Wohnanlagen der letzten Jahre gemeinsam ist. Es steckt oft (nicht immer, siehe Brünner Straße) echte Ambition im Städtebau, in der überlegten Differenzierung zwischen öffentlichen und halböffentlichen Bereichen, in der Definition von Freiflächen und Höfen. Es wird an eine Bereicherung des Wohnkomforts durch kleine Gärten, Terrassen, Balkone, Loggien gedacht. Es herrscht Ruhe, weil Fußläufigkeit die Regel ist, sodaß auch von daher der Wohnwert stimmt. Aber es ist und bleibt schier unbegreiflich, wieso es immer die falschen Architekten sind, die die dicksten Aufträge an Land ziehen.

Dabei hat Häuselmayer sein städtebauliches Konzept für diesen Ort, der ja kein Ort im engen Sinn, sondern bloß Gegend war, maßgeschneidert. Die Anlage ist links und rechts eines viereinhalb Meter breiten Fuß- und Radwegs entwickelt, der sich mit mildem Schwung über das Areal schlängelt. Entlang der Süßenbrunner Straße blocken massive Riegel das dahinter liegende Wohngebiet wie ein Schutzwall ab.

Die Bebauungsstruktur selbst ist innerhalb eines sinnvollen, fußläufigen Erschließungsnetzes abwechslungsreich gestaltet. Die gesamte Bebauung ist dreigeschoßig gehalten – es gibt also keine Lifte – und gerade so dicht, daß sie sich eindeutig als urbanes Wohngebiet ausweist und doch noch soviel Privatheit auch in Freiräumen bietet, wie man für ein angenehmes Wohnen an der Peripherie beanspruchen kann.

Häuselmayer ist natürlich weder als Städtebauer noch als Architekt jemand, der das riskante, womöglich innovative, jedenfalls auffällige Statement sucht. Das mag nicht jedermanns Sache sein. Aber wenn man Wohnbau als den durchgehenden Hintergrundprospekt der Bühne Stadt betrachtet – das schließt einzelne Akzente keineswegs aus –, von dem sich öffentliche oder sonstwie speziell bedeutsame Gebäude abheben, dann kommt gerade seinen Arbeiten eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu.

Das demonstriert er mit seinen eigenen Wohnhäusern „östlich der Süßenbrunner Straße“ (ingesamt 70 Wohnungen) souverän. Sicher, er erlaubt sich keinen zeitgeistigen Schnörkel und kein modisches Aperçu. Die Häuser sind sehr schlicht, sehr zurückhaltend, dabei auf eine ernsthafte Weise modern.

Die interne Erschließung eines Wohnhauses – jenes Bereiches, in dem immerhin noch so etwas wie Gemeinschaft stattfinden mag – hat Häuselmayer zur hohen Kunst entfaltet. Last, not least: In diesen Häusern, die wirklich zum Besten gehören, was sich „östlich der Süßenbrunner Straße“ aufspüren läßt, wurde auch bei den Grundrissen nicht geschludert. Und das ist sicher mehr, als sich von vielen anderen Wohnbauten dieser Anlage sagen läßt.

Es ist keine Übertreibung: Was hier an Architekturderivaten versammelt ist, das kann einem den Atem rauben. Nichts gegen die ein wenig skandinavisch angehauchten „Solarhäuser“ von Rudolf Guttmann. Nichts auch gegen die Wohnbauten und den Kindergarten von Melicher/Schwalm-Theiss mit Gressenbauer – einem im Wohnbau schon sehr erprobten Team. Dann gibt es, wie gesagt, noch die Schule des „Ateliers 4“. Beim – gewaltigen! – Rest dieser Wohnanlage aber würde man am liebsten wegschauen.

Rhetorisch gefragt: Wie geht das zu? Immerhin wurden diese Wohnbauten von einem Fachgremium abgesegnet, dem unter anderen die Architekten Hufnagl und Wimmer und die Stadträte Swoboda und Edlinger angehörten. Andererseits: Ein junger, sehr ambitionierter Architekt hat mir einmal erzählt, er habe bei der Stadt Wien angefragt, ob es nicht einen kleinen Wohnbau, eine Baulücke für ihn gebe. Der betreffende Magistratsbeamte habe darauf sinngemäß geantwortet: Jetzt habe er – Hausnummer – 30 Architekten beigebracht, wie man für die Stadt Wien baue. Einem 31. bringe er es nicht mehr bei. Wie es zugeht? Offenbar gerade so.

17. Juni 1995 Spectrum

Wo der Strom mit Freuden fließt

Ein Raum – eigentlich mehr ein Saal, eine Halle – ohne Außenbezug, ganz künstlich belichtet: An Wänden, Boden und Decke die Farben Ultramarin und Kobaltblau, nur die gelb gestrichene Kranbahn zeichnet quasi über die volle Länge eine Art Leuchtspur hinein, in der Mitte die eindrucksvollen Maschinen einer 110-Kilovolt-Schaltanlage. Architektur, so die Architekten Marie-Claude Bétrix und Eraldo Consolascio, die unabhängig von Wetter und Tageszeit existiert, mit dem Einschalten des Kunstlichts erscheint und mit dem Ausschalten verschwindet.

Das neue Umspannwerk der Salzburger Elektrizitätswerke liegt auf einer großen Industrieparzelle inmitten der Stadt, an der Salzach. Seinerzeit, im Jahr 1956, als dort ein Heizkraftwerk errichtet wurde, hagelte es Proteste. Denn längst hatte das städtische Wachstum der Stadt den früher einmal peripheren Standort überwuchert. In innerstädtischer Lage sieht man derartiges aber nicht gern: Heizkraftwerk, Umspannwerk, Entschwefelungsanlage – und was da sonst noch alles zusammenkommt.

1987 wurden die Schweizer Architekten Bétrix und Consolascio hier ein erstes Mal aktiv, als sie die neue Entschwefelungsanlage planten. Jetzt folgte das Umspannwerk Mitte. Das dringend erneuerungsbedürftige Heizkraftwerk müßte und sollte eigentlich der nächste Bauabschnitt sein. Hier an der Salzach ist also die „fortschreitende ästhetische Reparatur eines Unortes“ (Friedrich Achleitner) angesagt.

Und ästhetisch hat das neue Umspannwerk allerhand zu bieten. Man glaubt es kaum, ist doch ein Umspannwerk ein Gebäude, das nicht in erster Linie für Menschen, sondern für Maschinen gemacht ist. Aber das hat die Architekten anscheinend nicht tangiert, wenn man davon absieht, daß sie die Schaltanlagenräume – wohl auch aus Sicherheitsgründen – im Kern des Hauses plaziert haben, also ohne Außenzugänge und Tageslicht.

Neben den Technikräumen enthält das Haus zur Straße hin ein Geschäftslokal, das einstweilen noch ungenutzt ist und von dem man sich wünschen würde, daß es keiner kommerziellen, sondern einer kulturellen Nutzung zugute kommt (geradezu ideale Räume für eine Galerie!); es enthält Werkstätten; es enthält Büroflächen; es enthält eine kleine Wohnung für den jeweils am Wochenende diensttuenden Ingenieur; und es hat zwei Dachgärten.

Fangen wir oben, bei den Dachgärten an: Des Esseintes, der Held von Joris-Karl Huysmans' Roman „A Rebours“, hätte seine Freude daran, denn so künstlich wie hier ist Natur selten. Kleine Pflänzchen in zwei verschiedenen Farbtönen – silbrig und grün – formieren sich zu einer Art aufgerollter Streifentapete, ganz systematisch in Reih und Glied, mehr einem abstrakten Bild verwandt als einem Dachgarten.

Oder fangen wir unten an, bei der Treppe: Sie bildet das Herzstück des Gebäudes und ist als eine Art begehbare Skulptur, als ein räumliches Kunstwerk formuliert, in den Farben des Rohbetons und in einem schrillen Safrangelb. Der Verlauf dieser Treppe kennt keine Geometrie, und nach oben zu wird sie nicht perspektivisch schmäler, sondern breiter.

Wenn es in diesem Haus ein unübertreffliches architektonisches Spektakel gibt, dann ist es diese Treppe. Ein Haus – gedacht als ein Körper mit Schichten: So teilt sich das architektonische Konzept nach außen mit. In diesem Fall wurde der Körper dabei relativ kompakt und geschlossen formuliert, wobei sich an der Hauptfassade eine dunkle Schicht vor eine helle schiebt und diese Fassade in schmalen Streifen wie aufgeschnitten wirkt.

Dort sitzen die Glasflächen, große Schiebefenster, von denen die Architekten sagen, daß es irreführend wäre, sie als Bandfenster zu bezeichnen. Drei statische Elemente – Quadersäule, Würfel, Pendelstütze – treten nur für den Spezialisten sichtbar in Erscheinung, weil sie bis zur Unkenntlichkeit – fast bis zum Kunstwerk – umgedeutet sind.

Bétrix und Consolascio hatten bei diesem Haus, das sie unter Mitarbeit von Eric Maier planten, eine Art Heimvorteil: Seit dem Bau der Entschwefelungsanlage erfreuen sie sich ganz offensichtlich des uneingeschränkten Vertrauens ihres Bauherrn. Und das muß dazu beigetragen haben, daß sie eben nicht einfach nur ein Haus planen durften, sondern daß sie sehr viel mehr tun konnten, auch bis hin zum kleinsten Detail der Ausstattung. Das führt beim Rundgang durch das Gebäude zu einer unerhörten Erlebnisdichte noch im verstecktesten Winkel, und es schafft eine räumliche Atmosphäre der erlesensten Art.

Wer hier arbeitet, den kann man nur unverhohlen beneiden, weil es solchen ästhetischen Luxus heute einfach ganz, ganz selten gibt. Dabei hat das Gebäude eine sehr rigorose, bis zum Äußersten getriebene Logik. Diese hat mit seiner Lage auf dem Grundstück zu tun sowie mit dem Raumprogramm, das sich in genau bezeichneten Schichten entwickelt; und sie setzt sich fort bis in die verwendeten Materialien und bis hin zu den Oberflächen.

Was zum Beispiel letztere betrifft, war es das erklärte Ziel der Architekten, die nachträgliche „dekorative“ Oberflächenbehandlung so weit wie möglich zu vermeiden. Das heißt, die Beschaffenheit der Oberflächen sollte sich dem Herstellungsprozeß selbst verdanken.

So wurden etwa an einem Teil der Fassade vor dem endgültigen Abbinden die Betonfeinanteile an der Wandoberfläche entfernt. Das geschah mit Hilfe eines farblosen Hydrophobierungsmittels, das aber durch die erhöhte Kapillarität der Wand den Beton dunkel färbte. – Bei der Raumbehandlung gingen die Architekten von zwei Extremen aus: Von den völlig abgekapselten Technikräumen im Gebäudeinneren, die jeweils in eine einzige Farbe getaucht sind; und vom tageslichtdurchfluteten Bürogeschoß, in dem Sichtbeton und Akazienholz das Bild beherrschen und Innen- und Außenraum kunstvoll miteinander verschränkt sind.

Zwischen diesen beiden extremen Polen wickelt sich ein „geschichtetes“, formal differenziertes Raumprogramm ab. Man muß natürlich schon Fundamentalist sein, um überhaupt eine solche Qualität – auch Ausführungsqualität – zu erzielen. Aber das ist bei Bétrix/Consolascio ganz offenkundig der Fall. Oder hat man je von einem anderen Architekturbüro gehört, das wie dieses den Handwerkern Eins-zu-eins-Pläne von jeder einzelnen Tür vorlegt?

Die „ästhetische Reparatur“ eines Unortes: In Angriff genommen wurde sie noch unter Voggenhuber, als der Gestaltungsbeirat ein Gutachterverfahren für die Entschwefelungsanlage verlangte. Die Salzburger Stadtwerke waren damals nicht gerade begeistert. Aber wie gesagt, das hat sich seither dramatisch geändert. Bétrix/Consolascio haben nicht nur das neue Umspannwerk gebaut. Sie arbeiten bereits an der Planung des neuen Heizkraftwerks als nächster Stufe der baulichen Verbesserung dieser städtischen Industrieparzelle an der Salzach. Im Norden von Salzburg wird außerdem gerade ein ganz „besonderes“ Fernheizwerk dieses Architektenehepaares fertig.

Man kann wahrscheinlich ohne Übertreibung sagen, daß mit diesen Bauten von Bétrix/Consolascio eine neue Dimension im Industriebau Einzug gehalten hat. Sie betrifft die formalen Qualitäten dieser Gebäude, sie betrifft aber auch die konzeptuelle Folgerichtigkeit, die sich darin ausdrückt. Denn Industriebauten sind heute nur zu oft bloße Hüllen für Technik, für Maschinen. Menschen halten sich darin bestenfalls temporär auf. Und das hat üblicherweise die Auffassung zur Folge, daß man sie architektonisch vernachlässigen darf.

Der gedankliche Ansatz von Bétrix/Consolascio verläuft umgekehrt: Die Technikräume sind das, worum es im neuen Salzburger Umspannwerk Mitte im wesentlichen geht. Und dieser Bedeutung trägt die Architektur Rechnung. Das tut sie zwar ohne Prahlerei und Verschwendung, aber mit einer selbstverständlichen Ernsthaftigkeit und einer eben auch ästhetischen Erlesenheit, die ihresgleichen suchen. Und daran werden sich andere orientieren müssen, wenn sie im Industriebau architektonische Maßstäbe setzen wollen.

Publikationen

2008

Hermann & Valentiny and Partners
Codes

Seit 25 Jahren führen Hubert Hermann und François Valentiny ihre Büros in Wien und Luxemburg. Was sie verbindet, ist eine gemeinsame Haltung, die sie über die Jahre im verbalen und entwerferischen Gedankenaustausch präzisieren. Was sie trennt ist der Standort: Hier die Großstadt Wien, dort das kleine,
Autor: Liesbeth Waechter-Böhm
Verlag: Birkhäuser Verlag

2005

T-Center St. Marx, Wien / Vienna

Das spektakuläre T-Center Wien wurde von den Architekten Günther Domenig, Hermann Eisenköck und Herfried Peyker entworfen und gebaut. Das kürzlich fertiggestellte Projekt beherbergt auf einer Nutzfläche von 119000 m² Büros für 3000 Angestellte. Der Bau ist eine ungewöhnlich proportionierte, liegende
Autor: Liesbeth Waechter-Böhm, Günther Domenig, Hermann Eisenköck, Herfried Peyker
Verlag: Birkhäuser Verlag

2005

Wilhelm Holzbauer
Holzbauer und Partner / Holzbauer und Irresberger

Wilhelm Holzbauer zählt zu den bedeutendsten österreichischen Architekten und Architekturlehrern der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Seine architektonische Haltung leitet sich von der Moderne ab, ist aber auch in einen großen geschichtlichen Entwicklungszusammenhang eingebettet. Er versteht es mit
Hrsg: Liesbeth Waechter-Böhm
Verlag: SpringerWienNewYork

2004

Nehrer + Medek
30 Jahre Architektur im Kontext

Ein Buch, das fällig ist. Denn es stellt die Arbeit eines Büros vor, das unbeirrt von allen kurzlebigen Trends langlebige architektonische Lösungen präsentiert. Nehrer + Medek gelten als „die Schulbauer“ schlechthin; auf diesem Gebiet haben sie – vor allem auf der Basis von Wettbewerben – Hervorragendes
Autor: Liesbeth Waechter-Böhm
Verlag: Verlag Anton Pustet

2003

Baumschlager & Eberle
Bauten und Projekte / Buildings and Projects 1996 - 2002

Der aktuelle Werkbericht aus dem erfolgreichen Vorarlberger Architekturbüro. Seit den Anfängen in den achtziger Jahren ist der Name B&E zum Markenzeichen für äußerst intelligente, ökonomische und ökologische Lösungen geworden, die immer auch durch ihre dauerhafte formale Qualität bestechen. Den Dimensionssprung
Autor: Liesbeth Waechter-Böhm
Verlag: SpringerWienNewYork