Bauwerk

Sigmund Freud Museum
Hermann Czech, ARTEC Architekten, Walter Angonese - Wien (A) - 2020
Sigmund Freud Museum, Foto: Hertha Hurnaus
Sigmund Freud Museum, Foto: Hertha Hurnaus
20. Dezember 2022 - Az W
Berggasse 19 ist ein vielschichtiger Ort. Weltberühmt als Adresse, an der die Psychoanalyse entstand: Hier ordinierte Sigmund Freud fast 50 Jahre lang, hier verfasste er „Die Traumdeutung“ und seine weiteren epochemachenden Schriften. Hier wohnte er mit seiner Frau Martha, den sechs Kindern und weiteren Haushaltsmitgliedern. Hier führte ab 1923 auch seine Tochter Anna Freud ihre psychoanalytische Praxis.
Der Vorgängerbau, ein einstöckiges Vorstadt-Hofhaus, war das Wohn- und Ordinationshaus Viktor Adlers gewesen, ebenfalls Arzt und Gründer der sozialdemokratischen Partei Österreichs.
Hier befanden sich von 1939 bis 1942 „Sammelwohnungen“, von denen aus Jüdinnen und Juden in Vernichtungslager deportiert wurden. Fast alle Bewohner:innen des Hauses Berggasse 19 wurden vom nationalsozialistischen Regime vertrieben oder ermordet. Sigmund Freud emigrierte 1938 mit seiner Familie nach London. Vier seiner Schwestern fielen dem Holocaust zum Opfer.
Mit Unterstützung von Anna Freud entstand 1971 in den ehemaligen Wiener Ordinationsräumen ihres Vaters ein Museum und Zentrum für die Erforschung der Psychoanalyse.
Der Mehrfach-Bedeutung des Ortes Berggasse 19 hat sich das Sigmund Freud Museum auch immer gewidmet. „Freuds verschwundene Nachbarn“ lautete eine seiner bedeutenden Ausstellungen.

In den 1990er Jahren erweiterte und adaptierte Wolfgang Tschapeller das Museum durch prägnante Eingriffe. Unter der Direktion von Monika Pessler, die das Haus seit 2014 leitet, stand erneut eine Erweiterung an. Die Besucherzahlen waren stark gewachsen, mittlerweile zieht das Sigmund Freud Museum jährlich 110.000 Besucher:innen an. Den Wettbewerb zur Erweiterung und Neugestaltung gewann 2017 die Arbeitsgemeinschaft von Walter Angonese, ARTEC Architekten und Hermann Czech.
Nachdem die Stadt Wien 2006 das gesamte Haus erworben und in die Sigmund Freud Privatstiftung eingebracht hatte, konnten die Museumsflächen durch den Umbau beinahe verdoppelt werden. Die Ausstellungsflächen umfassen nun sämtliche Räume der Ordination und der Privatwohnung Freuds im Mezzanin. Dazu kommen die Räume von Freuds erster Ordination, die bis 1908 im Hochparterre lag. Hier ist nun die zeitgenössische Konzeptkunst-Sammlung des Sigmund Freud Museums zu sehen.
Im ersten Stock befinden sich die Bibliothek, eine der weltweit bedeutendsten Bibliotheken zur Psychoanalyse, Lesesaal und Archiv. Im Erdgeschoß entstand ein neues Foyer mit Café und Shop. Ebenfalls neu ist die Stiege, die nun alle Museumsgeschoße zu einem Rundgang verbindet.

Ausstellungskonzept und Display

Monika Pessler und Daniela Finzi kuratierten die neue Dauerausstellung, die unterschiedliche Stränge verfolgt – von der Geschichte der Psychoanalyse über das Leben von Freud und seiner Familie bis zur Geschichte des Hauses.
Das Ausstellungsdisplay mit den eigens entworfenen Vitrinen stammt vom Atelier Czech / Hermann Czech und Gerhard Flora. (Siehe dazu auch den Erläuterungstext der Architekten auf nextroom).
Wesentlicher Ansatzpunkt der Neugestaltung war, die Aura des realen Ortes herauszuschälen, jedoch von jeglicher Rekonstruktion abzusehen. Die Leerstelle, die durch Freuds Flucht vor den Nationalsozialisten entstanden war – die Einrichtung befindet sich im Emigrationsort London – solle, so das kuratorische Konzept, erkennbar bleiben.
Von der originalen Einrichtung war, durch Anna Freud, nur die des Wartezimmers und ein Teil von Freuds Antikensammlung in das Wiener Museum gekommen.
Dafür hat das Museum zuletzt grafisch hochwertige Originalausgaben von Freuds Schriften in unterschiedlichen Übersetzungen gesammelt.
Die Leere der Wände und die Leichtigkeit des Ausstellungsdesigns stehen im Kontrast zu Freuds eigener Einrichtungsweise mit orientalischen Teppichen und Decken, dunkelfarbigen Wänden und dicht an dicht gehängten Bildern und lassen Imaginationsspielraum.
Der Besucherzugang wird trotz der neuen Stiege weiterhin über das gründerzeitliche Stiegenhaus geführt. Denn als in seiner Ausstattung original erhaltener Ort, der von Freud und seiner Familie täglich genutzt wurde, wo Kolleginnen und Patienten ein und aus gingen, besitzt er in hohem Maß die Aura des tatsächlich hier Gewesenen.

Erdgeschoß und Straßenraum

Das 1889 errichtete Haus Berggasse 19, ein fünfgeschossiger, etwas schwerfälliger Bau, ist architektonische „Standardware“ der Hochgründerzeit. Das Haus wurde im Zuge des Umbaus saniert. Über die Neugestaltung der Erdgeschoßzone teilt sich seine inhaltliche Bedeutung nun verstärkt nach außen, zur Stadt hin mit.
Bereits seit 2002 führt das Museum dort, wo sich bis 1938 die koschere Fleischerei Siegmund Kornmehl befand, einen Schauraum für zeitgenössische Kunst; ein Ausstellungsfenster für den Straßenraum mit wechselnden Installationen, die sich auch akuten politischen Themen widmen.
Nun öffnen sich auch die übrigen drei Fensterachsen des neuen Foyers mit bodentiefen, breiten verglasten Öffnungen zur Straße. Der Raum wurde in seiner ganzen Höhe und mit seiner Kappendecke freigelegt. Diese erhielt eine leuchtend rote Färbelung. Im Foyer fließen auf zwanglose Weise Kaffeehaus, Ticketkassa und (Buch)Geschäft ineinander. Auch der Ausstellungbereich wurde mit dem Foyer räumlich verschränkt: Die neue Stiege setzt sich in Form einer Galerie als Ausstellungsfläche in das Foyer fort.
Das Haustor Berggasse 19 steht offen und gibt den Blick und auch den Zugang frei in den Innenhof mit den Kastanien- und Lindenbäumen, die ihrerseits den Ausblick aus Freuds Wohnung und Ordination prägten. Tschapellers installative Fluchttreppe kann als Sichtpodest erstiegen werden und sie setzt das Museum quasi in den Hofraum fort.
Das Museumscafé ist ein kommunikatives Lokal in bester Czech’scher Manier. Mit einem breiten Schanigarten und einer Markise greift es in den Stadtraum aus. Dieser Stadtraum, das urbane Viertel rund um Berggasse / Porzellangasse verdankt seine großstädtische Substanz maßgeblich jener Kultur, für die Freud steht und die Wien für kurze Zeit zur Metropole machte. (Text: Maria Welzig)

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Architekturzentrum Wien

Ansprechpartner:in für diese Seite: Maria Welzigwelzig[at]azw.at

Akteure

Architektur

Bauherrschaft
Sigmund Freud Privatstiftung

Tragwerksplanung

Fotografie