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Der Stoff, aus dem die Häuser sind
Die Architekturbiennale Venedig überrascht mit einer Konjunktur des Textilen. Von Gerhard Mack
6. Oktober 2002 - Gerhard Mack
Das Entwerfen von Kleiderläden für renommierte Labels gehört derzeit zu den Lieblingsbeschäftigungen von Architekten: Wie lassen sich Konsum, Zeitgeist und Shopdesign zur stimulierenden Erfahrungswelt verbinden? Sowohl Architektur wie auch Bekleidung sind Hüllen für den Körper, zwischen beiden Disziplinen liegt also eine innere Verwandtschaft vor - so wird dabei gerne skeptischen Zeitgenossen gegenüber argumentiert.
Bei der Architekturbiennale von Venedig, die Kurator Deyan Sudjic mit einem drögen Overkill von Modellen, Fotos und Plänen einer aktuellen Bestandesaufnahme gewidmet hat, deutet eine ganze Reihe von Projekten auf ein neues textiles Paradigma hin, das bis zur Ebene der Konstruktion vordringt.
Vorherrschend ist dabei die Idee des Stoffbandes. Die Architekten der Expo-Wolke in Yverdon, Elizabeth Diller und Ricardo Scofidio, legen es ihren Entwürfen für das Eyebeam-Medienzentrum in Manhattans Trendviertel West Chelsea und für ein neues Museum für zeitgenössische Kunst in Boston zugrunde. Es lässt sich ohne Schwierigkeiten übereinander schlingen und mal dicker, mal dünner ausgestalten. So können Stockwerke übereinander geschichtet werden und ineinander gleiten, es entstehen unterschiedliche Raumhöhen, und die Infrastruktur lässt sich für schnelle Reparaturen in separaten Schichten unterbringen, die sich wie ein zweites Band ans Ganze anschmiegen.
Tuchbahnen und Kissen
Eine Variation dieses Verfahrens kommt bei den niederländischen Architekten von MVRDV um Winy Maas zum Einsatz, wenn in Eindhoven eine Zentralbibliothek für Brabant als aufsteigende Spirale aus mehr oder weniger dicken Stockwerksschichten mit unterschiedlich steil geneigten Böden gedacht ist. UN Studios van Berkel & Bos haben bereits vor ein paar Jahren international Furore gemacht mit einem Privathaus, das nach dem Prinzip der Möbius-Schlaufe entworfen ist, Räume und Gebäudefunktionen also auf einem Endlosband anordnet. Beton ist dazu ein äusserst williges Material.
In der Hauptausstellung in Venedig findet sich dieses Schlaufen-Prinzip im Projekt für das neue Automuseum, das die Niederländer für Mercedes-Benz in Stuttgart bauen: ein Turm, dessen Lagen Oben und Unten, Innen und Aussen, positive und negative Volumen wechseln lassen wie zwei ineinander geschlungene Tuchbahnen.
Neben dem Band wird das Kissen wiederholt zum Formprinzip. Eric Owen Moss legt für seinen Entwurf einer Erweiterung des Mariinski-Kulturzentrums in St. Petersburg mehrere Kissen übereinander, drückt sie ein und verbindet sie zu einer frei schwebenden expressiven Form. Coop Himmelb(l)au schlagen BMW für ihr neues Präsentationscenter in München eine Szenerie vor, die von einem riesigen Dach überspannt ist, das den Prinzipien eines Kissenbezugs folgt, mal flach und dünn, dann wieder so weit aufgeblasen ist, dass es zum eigenen Stockwerk wird; ein Prinzip, das Herzog & de Meuron bereits bei einem privaten Wohnhaus für Kunstsammler in Kalifornien realisieren.
Diese Begeisterung fürs Textile ist in der Architektur der Moderne keineswegs neu. Louis Henry Sullivan hat bei den Hochhausbauten, die er mit Dankmar Adler im Chicago der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts gebaut hat, die neuen Stahlskelette mit reich ornamentierten Fassaden verkleidet, die im Unterschied zur traditionellen Mauer der eigentlichen Tragekonstruktion vorgehängt waren.
Mies van der Rohe hat dieses Konzept der «curtain wall» mit seinem New Yorker Seagram-Bürohochhaus 1958 zur Perfektion geführt, die Corporate Architecture der letzten zwanzig Jahre hat es bis zur Spiegelfassade überdreht. Und der Japaner Shigeru Ban hat damit auf originelle Weise gespielt: In einem dicht bebauten Wohnviertel Tokios hat er ein Wohnhaus erstellt, dessen äussere Fassade aus einem riesigen Segel besteht, das sich je nach Bedarf öffnen oder schliessen lässt und den privaten Raum in den öffentlichen überführt.
Historisch ist diese Entwicklung durch die Theorie einer textilen Architektur unterfüttert, die Gottfried Semper in der Mitte des 19. Jahrhunderts formuliert hatte.
Und das Stadtbild?
So trendbewusst die neue textile Faszination in Venedig daherkommt, so problematisch erscheint sie bisweilen unter urbanistischem Aspekt. Während das Eyebeam-Center und das neue Bostoner Museum von Diller und Scofidio der unmittelbaren Umgebung Impulse geben, setzen sich andere textile Projekte als Solitäre von ihrer Umgebung ab. Das gilt sowohl für die Kissen des St. Petersburger Kulturzentrums von Eric Owen Moss, das wie ein futuristischer Findling in die neoklassizistische Umgebung gefallen zu sein scheint, wie auch für die Erweiterung des Kunsthauses Graz durch Spacelab Cook/Fournier in Form eines Raumschiffs à la Sesamstrasse.
In beiden Fällen verweigern Massstäblichkeit, Material und Form den Dialog mit dem Vorhandenen und rücken das textile Entwurfsprinzip in die Nähe der neokonstruktivistischen Architektur eines Libeskind oder einer Zaha Hadid sowie der Blop-Architektur von Tom Kovac. Sie alle überraschen und amüsieren mit der Geste: «Hoppla, hier komm ich», um hinterher der Ernüchterung einer Katerstimmung Raum zu geben. Inwieweit die Architektur des Textilen gleichwohl unserem visuellen Zeitalter entspricht, wird sich erst noch erweisen müssen.
Bei der Architekturbiennale von Venedig, die Kurator Deyan Sudjic mit einem drögen Overkill von Modellen, Fotos und Plänen einer aktuellen Bestandesaufnahme gewidmet hat, deutet eine ganze Reihe von Projekten auf ein neues textiles Paradigma hin, das bis zur Ebene der Konstruktion vordringt.
Vorherrschend ist dabei die Idee des Stoffbandes. Die Architekten der Expo-Wolke in Yverdon, Elizabeth Diller und Ricardo Scofidio, legen es ihren Entwürfen für das Eyebeam-Medienzentrum in Manhattans Trendviertel West Chelsea und für ein neues Museum für zeitgenössische Kunst in Boston zugrunde. Es lässt sich ohne Schwierigkeiten übereinander schlingen und mal dicker, mal dünner ausgestalten. So können Stockwerke übereinander geschichtet werden und ineinander gleiten, es entstehen unterschiedliche Raumhöhen, und die Infrastruktur lässt sich für schnelle Reparaturen in separaten Schichten unterbringen, die sich wie ein zweites Band ans Ganze anschmiegen.
Tuchbahnen und Kissen
Eine Variation dieses Verfahrens kommt bei den niederländischen Architekten von MVRDV um Winy Maas zum Einsatz, wenn in Eindhoven eine Zentralbibliothek für Brabant als aufsteigende Spirale aus mehr oder weniger dicken Stockwerksschichten mit unterschiedlich steil geneigten Böden gedacht ist. UN Studios van Berkel & Bos haben bereits vor ein paar Jahren international Furore gemacht mit einem Privathaus, das nach dem Prinzip der Möbius-Schlaufe entworfen ist, Räume und Gebäudefunktionen also auf einem Endlosband anordnet. Beton ist dazu ein äusserst williges Material.
In der Hauptausstellung in Venedig findet sich dieses Schlaufen-Prinzip im Projekt für das neue Automuseum, das die Niederländer für Mercedes-Benz in Stuttgart bauen: ein Turm, dessen Lagen Oben und Unten, Innen und Aussen, positive und negative Volumen wechseln lassen wie zwei ineinander geschlungene Tuchbahnen.
Neben dem Band wird das Kissen wiederholt zum Formprinzip. Eric Owen Moss legt für seinen Entwurf einer Erweiterung des Mariinski-Kulturzentrums in St. Petersburg mehrere Kissen übereinander, drückt sie ein und verbindet sie zu einer frei schwebenden expressiven Form. Coop Himmelb(l)au schlagen BMW für ihr neues Präsentationscenter in München eine Szenerie vor, die von einem riesigen Dach überspannt ist, das den Prinzipien eines Kissenbezugs folgt, mal flach und dünn, dann wieder so weit aufgeblasen ist, dass es zum eigenen Stockwerk wird; ein Prinzip, das Herzog & de Meuron bereits bei einem privaten Wohnhaus für Kunstsammler in Kalifornien realisieren.
Diese Begeisterung fürs Textile ist in der Architektur der Moderne keineswegs neu. Louis Henry Sullivan hat bei den Hochhausbauten, die er mit Dankmar Adler im Chicago der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts gebaut hat, die neuen Stahlskelette mit reich ornamentierten Fassaden verkleidet, die im Unterschied zur traditionellen Mauer der eigentlichen Tragekonstruktion vorgehängt waren.
Mies van der Rohe hat dieses Konzept der «curtain wall» mit seinem New Yorker Seagram-Bürohochhaus 1958 zur Perfektion geführt, die Corporate Architecture der letzten zwanzig Jahre hat es bis zur Spiegelfassade überdreht. Und der Japaner Shigeru Ban hat damit auf originelle Weise gespielt: In einem dicht bebauten Wohnviertel Tokios hat er ein Wohnhaus erstellt, dessen äussere Fassade aus einem riesigen Segel besteht, das sich je nach Bedarf öffnen oder schliessen lässt und den privaten Raum in den öffentlichen überführt.
Historisch ist diese Entwicklung durch die Theorie einer textilen Architektur unterfüttert, die Gottfried Semper in der Mitte des 19. Jahrhunderts formuliert hatte.
Und das Stadtbild?
So trendbewusst die neue textile Faszination in Venedig daherkommt, so problematisch erscheint sie bisweilen unter urbanistischem Aspekt. Während das Eyebeam-Center und das neue Bostoner Museum von Diller und Scofidio der unmittelbaren Umgebung Impulse geben, setzen sich andere textile Projekte als Solitäre von ihrer Umgebung ab. Das gilt sowohl für die Kissen des St. Petersburger Kulturzentrums von Eric Owen Moss, das wie ein futuristischer Findling in die neoklassizistische Umgebung gefallen zu sein scheint, wie auch für die Erweiterung des Kunsthauses Graz durch Spacelab Cook/Fournier in Form eines Raumschiffs à la Sesamstrasse.
In beiden Fällen verweigern Massstäblichkeit, Material und Form den Dialog mit dem Vorhandenen und rücken das textile Entwurfsprinzip in die Nähe der neokonstruktivistischen Architektur eines Libeskind oder einer Zaha Hadid sowie der Blop-Architektur von Tom Kovac. Sie alle überraschen und amüsieren mit der Geste: «Hoppla, hier komm ich», um hinterher der Ernüchterung einer Katerstimmung Raum zu geben. Inwieweit die Architektur des Textilen gleichwohl unserem visuellen Zeitalter entspricht, wird sich erst noch erweisen müssen.
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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