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Urbanologen und Datensammler
Neue Zürcher Zeitung

Neuere Tendenzen im Städtebau

1. November 2002 - Gabriele Reiterer
Kaum ein Phänomen greift in seiner Differenziertheit und Komplexität derart über die Grenzen der Disziplinen hinweg und berührt direkt die Lebenszusammenhänge des Individuums wie die Stadt, ihre Entstehung und ihre Planung. Die Versuche, der Urbanität analytisch zu Leibe zu rücken, sind alt. Besonders der sogenannt wissenschaftliche Zugang zur Stadt hat im 20. Jahrhundert die moderne Bewegung stark beschäftigt, vor allem in den Niederlanden. Die empirischen Stadtanalysen, die Cornelis van Eesteren und Van Lohuizen ab den zwanziger und dreissiger Jahren durchführten, gelten als wichtige interdisziplinäre städtebauliche Beiträge und begründeten eine Tradition forschungsorientierter Auseinandersetzung, die sich bis in die Gegenwart auswirkt. So ist die architektonische Debatte in den Niederlanden weniger eng gefasst und weniger objektbezogen, dafür stärker in den Kontext der städtebaulichen Rahmenbedingungen eingebunden als anderswo. Die Faszination liegt dabei in der Synthese von Pragmatismus und Utopie und der daraus entstehenden produktiven Spannung.

Eine wichtige Tendenz der gegenwärtigen Städtebaudebatte nähert sich der Stadt über den forschungsbegleitenden Entwurf. Theorie und Praxis setzen dabei vor allem auf die rationalisierende Erfassung von Daten, auf deren Akkumulation und Verarbeitung. Winy Maas von MVRDV, einer der prominenten Vertreter dieser Richtung, spricht in diesem Zusammenhang von «Datascapes», mit Hilfe deren wichtige, auch verborgene Schwerpunkte städtebaulicher Fragen enthüllt werden sollen. Diese Form der Forschung und des Umgangs mit Daten generiert schliesslich Strukturen, die zur Grundlage computergenerierter Entwurfsmodelle werden.

Der Systemgedanke im Städtebau, wie er hier vorliegt, kennzeichnet eine grundsätzliche Position, die in anderer Form auch im 19. und 20. Jahrhundert immer wieder auftauchte. Ihm liegt der Anspruch zugrunde, ein heterogenes System bzw. ein komplexes Gefüge ganzheitlich zu erfassen. Dabei erweisen sich die angewendeten Prinzipien allerdings meist als diffus und die beigezogenen Modelle oft als reichlich inkonsistent. Der heute forcierte digitale Umgang mit urbanen Phänomenen, dem in letzter Konsequenz auch der Entwurf überantwortet wird, bietet zwar ein gewisses Potenzial, das vor allem in der Erfassung verschiedener Fakten liegt. Aber der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit von applikablen Systemen hat auch seine Gültigkeitsgrenzen. Diese beginnen genau dort, wo die Materialisierbarkeit und die rationale Erfassbarkeit enden und die Unberechenbarkeit des Phänomens Stadt einsetzt. Hier stellt sich auch die Frage, ob auf dieser abstrakten, vermeintlich wissenschaftlichen Ebene tatsächlich - wie versprochen - Strategien erkannt und Lösungen zur Bewältigung hoch differenzierter urbaner Situationen gefunden werden können. Die Überantwortung von Verantwortung an ein systemisches Prinzip klammert implizit gewisse wichtige Momente der Stadt aus.

Genau diese Unberechenbarkeit und die Bedeutsamkeit immaterieller Ebenen, die ein rational nicht erfassbares Moment im Städtebau darstellen, haben immer wieder andere Wissenschaften formuliert. Der Soziologie und in jüngerer Zeit vor allem den Kulturwissenschaften sind wichtige Beiträge zum Phänomen Urbanität zu verdanken. Die klassische französische Soziologie, vor allem Maurice Halbwachs, stellte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Bedeutung der Stadt und ihrer vertrauten Typologien für den Menschen fest. In seinem Werk über «das kollektive Gedächtnis» behandelt Halbwachs die Bedeutung der räumlichen Bilder im kollektiven Gedächtnis und die immateriellen Aspekte der Stadt im Sinne eines «vertrauten Dekors». Der Satz «Der Ort hat das Gepräge der Gruppe erhalten und umgekehrt» beschreibt das dialektische Prinzip des Menschen mit seinem gebauten Umraum und erkennt die Bedeutungsebenen der «lautlosen kulturellen Bestandteile» der Stadt an.

In jüngster Zeit hat der Soziologe Ulrich Beck mit der These der Individualisierung allerdings eine wesentliche gesellschaftliche Veränderung geortet. Deren Auswirkungen im Urbanismus bedeuten, dass die Stadt «nun nicht mehr identisch ist mit der räumlichen Manifestation einer Gemeinschaft, die eine klare - vorzugsweise hierarchische - Struktur besitzt». Diese Ansicht vertritt zumindest der holländische Architekturtheoretiker Bart Lootsma, der sich mit dem wichtigen Thema der Individualisierung und ihren Konsequenzen im städtebaulichen und architektonischen Kontext befasst. Demnach lässt die Gestalt und Struktur der Stadt keine Rückschlüsse mehr auf die «Struktur einer Gesellschaft» zu. Deshalb schlägt er vor, das Wort Stadt durch den Begriff «urbanisiertes Gebiet» zu ersetzen. Ist damit die Bedeutungs- und Identifikationsebene der Stadt und ihrer Bewohner obsolet geworden? Lootsma nennt die Individualisierung ein «implizites, heimliches Movens des architektonischen Diskurses». Dabei bedingen sich Individualisierung und Globalisierung wechselseitig. Für die Stadt bedeute diese Entwicklung die Auflösung traditioneller urbaner Typologien und das Ende der wechselwirksamen Beziehung der physischen Stadtgestalt und gesellschaftlichen Struktur.

Bedauerlicherweise wird Städtebau noch immer vielerorts allzu eng gesehen. Wenige Ausbildungsstätten entsprechen in ihrem Lehrangebot der heterogensten aller «wissenschaftlichen» und planerischen Disziplinen. Ein grosses Desideratum der Stadtforschung wäre ein stärkerer Zusammenschluss verschiedener Wissenschaftszweige. Die Zukunft liegt hier ganz klar in interdisziplinären Arbeitsgemeinschaften, denn noch immer driften die Disziplinen auseinander. Dabei wären synergetische Ansätze mehr denn je gefragt. Das sensible, komplexe Thema Stadt verlangt nach ebensolchen vielfältigen Auseinandersetzungen. Denn dieses «dreidimensionale Artefakt», wie André Corboz das Phänomen Stadt genannt hat, birgt viel. «Cities have emotions», hat Raoul Bunschoten geschrieben. Städtebauliche Forschung speist sich im Idealfall aus interdisziplinärem Denken und pragmatischem Handeln, Mut zur Utopie - und Poetik.

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