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Abschied von der Glätte
Spectrum

Ein Großteil des heutigen Architekturschaffens zeichnet sich durch glatte, harte Oberflächen aus, die sich gegen sinnliche Annäherung spreizen. Sie wollen vor allem sich selber zeigen, aber nicht angegriffen werden. Glauben ihre Entwerfer, sie könnten sie unangreifbar machen?

16. September 2007 - Walter Zschokke
Seit einiger Zeit taucht bei der Anpreisung von Bauten oft der Begriff „Kristall“ auf. Das Bedeutungsfeld dieses Begriffs wird mit den Eigenschaften hart, transparent, klar, strahlend, rein, geometrisch und geordnet bis in die Molekularstruktur aufgespannt. Mit dem Schlagwort Kristall wird die Vorstellung eines Idealzustands aufgerufen, die sich auf das bezeichnete Objekt übertragen soll. Wie immer in solchen Fällen gibt es einige befriedigende und zahlreiche schlechte Beispiele. Das Kristallhafte, das einen idealen Zustand beansprucht, wird bereits durch kleine Unregelmäßigkeiten verunreinigt, ganz zu schweigen von Mängeln oder Fehlern. Der Kristall – in der Architektur – ist ideomorph, herrisch und duldet keine Konkurrenz. Wer nach ihm greift, muss sich seinen Gesetzen unterwerfen und hat meistens schon verloren. Daher gibt es so viele missglückte „Kristalle“, die das hehre Wort abnützen.

Der Kristall ist eitel, will zeigen, dass er allseitig ideal ist und kennt keine Rückseite, überall ist vorn. Was das für ein Gebäude bedeutet, lässt sich vielleicht am Problem erahnen, wo und wie man denn in einen Kristall hineingelangt, ohne den idealen Ausdruck zu stören und damit zugleich zu zerstören. Das Ganze erinnert ein wenig an die Schwierigkeiten, die sich ein Architekt einhandelt, wenn er einen Zentralbau entwerfen will, wie ein Blick in die Architekturgeschichte belegt. Nur wenige sind geglückt, die meisten weisen da oder dort Anzeichen auf, wie mühsam es war, die Ansprüche des Typs und jene der Nutzung in Einklang zu bringen, dass die idealtypische Konkurrenzierung leider doch nicht ganz gelang, weil eine Treppe, ein Zugang, ein wichtiger Ort im Gebäude oder eine Toilette das Idealbild stört. Nicht anders verhält es sich beim Gebäudetyp „Kristall“. Es reicht nicht, ihm den klingenden Namen umzuhängen, die Aufgabe ist entwerferisch und in der Baudurchführung zu lösen, sonst wird es peinlich.

Nun gut, dann eben kein idealer Kristall, aber ein wenig Kristall, besser „kristallin“, müsste doch erlaubt sein. Exakt diese Praxis breitet sich seit Jahren aus. Die Oberflächen sind glatter, härter und spiegelnder geworden. Glas, Metall, polierter Stein bestimmen außen und innen die neuen Gebäude. Glätte bedeutet Abkehr vom haptischen Charakter der Materialien. Sie sollen nicht „begriffen“ werden, nur gezeigt und gesehen. Gesehen, wie auf den auf Hochglanz gedruckten Abbildungen. Die primäre Erfahrung ist nicht mehr das Material selbst, sondern dessen Abbild. Dieses Bild soll vom Objekt wiederholt werden. Daher nicht berühren. Weil die Teile meistens kalt sind und ihrer Glätte die Feinstruktur fehlt, lässt sich vom Griff nicht mehr auf das Material schließen. So könnten wir auf den Tastsinn verzichten und dicke Fäustlinge anziehen.

Die glatten Oberflächen spiegeln das Licht, es wird vervielfacht und blendet bald einmal. Macht nichts, dann wird eben alles andere schwarz. Kristallin blendend – nicht bloß weiß – und schwarz. Keine Graustufen, das wäre peinlich kompromisslerisch. Aber: Warum ohne Not auf das breite Feld der Zwischentöne verzichten, etwa weil es Arbeit bedeuten könnte – interessante, inhaltlich bereichernde Arbeit, Forschung sogar?

Die glatten und harten Oberflächen bergen ein weiteres Problem: Da sie schallhart sind, ist der Nachhall lang und die Raumakustik schlecht. Die Sprachverständlichkeit sinkt, die Menschen müssen lauter reden, der Schallpegel steigt und so weiter und so fort. Wer kennt nicht die Lokale, in denen das eigene Wort nicht mehr verstanden wird, geschweige jenes des Gesprächspartners, der -partnerin. Macht nichts, denn sie telefonieren sowieso die halbe Zeit.

Kann es sein, dass das gestalterische Prinzip des Kristallinen in den Händen von Halbgebildeten – denn Architekten, die sich von den historischen Erfahrungen ihres ureigensten Handwerks abgekoppelt haben, sind halbgebildet –, dass dieses Prinzip, oberflächlich umgesetzt, sich nur mehr an gleichsam fühllose, blinde und taube Menschen richtet, denen es reicht, wenn sie das Bild sehen und abnicken können: „erkannt“, ohne zu merken, dass ihnen das Wesen von Architektur vorenthalten bleibt? Zum Kosmos der Architektur werden sie so nicht vorstoßen. Die blendenden Oberflächen behindern eine klare Sicht, dahinter gibt es kein Dahinter, das mit Architektur etwas zu tun hätte.

Klassizität als Stand einer Architekturentwicklung ist nicht zuletzt dann erreicht, wenn der Ausdruck eines Bauwerks das Gemachtsein vergessen lässt. Wo die Qualitäten der Formen, Proportionen und Oberflächen jenen Grad erreichen, der das Wesen des Werks in den Vordergrund bringt. Damit aber der profane Charakter eines Materials vergessen werden kann, muss es Hinweise auf diesen Charakter, zumindest eine Erinnerung an seine Materializität geben. Diese Erinnerung verblasst jedoch zusehends wegen der Verbreitung überglatter Materialien und durch das Überhandnehmen von Bildern glatter, wesenloser Oberflächen, wie sie nicht zuletzt von der Werbung geliebt werden.

In solchen Zeiten der Übersättigung mit gedankenlosen, sich selbst reproduzierenden Nachahmungen kam es im Verlauf der Geschichte und kommt es auch heute zu gegenklassischen Bewegungen, die, zuerst tastend und kaum bemerkt, etwas anderes suchen und versuchen. Zu nennen sind etwa die architektonischen Forschungen von Rüdiger Lainer zum Ornament und zur „Tiefe der Oberfläche“, die Arbeit an der expressiven Plastizität von Bauwerken und ihrer materialen Kraft durch Marie-Therese Harnoncourt und Ernst J. Fuchs, aber auch die primären Erfahrungen, die Architekturstudentinnen und -studenten der TU Wien, der Kunstuniversität Linz und anderer beim Bauen in Südafrika oder Bangladesch mit ortstypischen Materialien machen konnten. Die Spannweite solcher Erfahrungen sollte breit sein: etwa vom samtigen Anfühlen einer zweimal täglich feucht abgewischten Oberfläche eines feinporigen Naturholztisches bis zu jener Tatsache reichen, wie leicht man sich an splittrigem Holz einen Schiefer einzieht.

Wissen gehört auch dazu. Kulturgeschichtliche Kenntnisse, die den Bedeutungshintergrund von Materialien anreichern und verdichten, helfen zu unterscheiden, ob bei einer Filialkirche Stein aus dem gleichen Bruch verwendet wird, der dem Bau des Stephansdoms diente, oder ob der Stein in eine Bar kommt. Dafür ist Forschungsarbeit zu leisten, weil nicht nur alte Muster kopiert werden sollten oder weil die historischen Traditionen verschüttet sind, aber zugleich heutigen Ansprüchen nicht mehr genügen würden. Handwerkskunst und praxisbezogene Ingenieurwissenschaft sind dabei wichtiger als formalistische Experimente. Allerdings kann das heute der einzelne Architekt nicht allein bewältigen. Er braucht Partner, die ihr Metier beherrschen, was für den Architekten ebenso gilt. Dabei ist weniger wichtig zu wissen, was man meint zu können, weil sich das schnell ändern kann. Entscheidender ist zu wissen, was man nicht kann, damit die Zusammenarbeit mit den entsprechenden Fachleuten frühzeitig einsetzt. Andernfalls muss man sich hinterher mit dem Glätten der Oberflächen begnügen.

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