Zeitschrift

tec21 2006|37
Nomadische Architektur
tec21 2006|37
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG
Heimat für Nomaden?

«Während der weitaus grössten Zeitspanne seines Daseins ist der Mensch ein zwar wohnendes, aber nicht ein beheimatetes Wesen gewesen. Jetzt, da sich die Anzeichen häufen, dass wir dabei sind, die zehntausend Jahre des sesshaften Neolithikums hinter uns zu lassen, ist die Überlegung, wie relativ kurz die sesshafte Zeitspanne war, belehrend. Die sogenannten Werte, die wir dabei sind, mit der Sesshaftigkeit aufzugeben, also etwa den Besitz, die Zweitrangigkeit der Frau, die Arbeitsteilung und die Heimat, erweisen sich dann nämlich nicht als ewige Werte, sondern als Funktionen des Ackerbaus und der Viehzucht. Das mühselige Auftauchen aus der Agrikultur und ihren industriellen Atavaren in die noch unkartographierten Gegenden der Nachindustrie und Nachgeschichte (...) wird durch derartige Überlegungen leichter. Wir, die ungezählten Millionen von Migranten (seien wir Fremdarbeiter, Vertriebene, Flüchtlinge oder [...] pendelnde Intellektuelle), erkennen uns dann nicht als Aussenseiter, sondern als Vorposten der Zukunft. Die Vietnamesen in Kalifornien, die Türken in Deutschland, die Palästinenser in den Golfstaaten und die russischen Wissenschaftler in Harvard erscheinen dann nicht als bemitleidenswerte Opfer, denen man helfen sollte, die verlorene Heimat zurückzugewinnen, sondern als Modelle, denen man, bei ausreichendem Wagemut, folgen sollte. Allerdings können sich derartige Gedanken nur die Vertriebenen, die Migranten, nicht aber die Vertreiber, die Zurückgebliebenen erlauben. Denn die Migration ist zwar eine schöpferische Tätigkeit, aber sie ist auch ein Leiden. Wie ja bekannterweise das Tun aus dem Leiden emportaucht (‹Wer nie sein Brot in Tränen ass... ).»[1]

In den letzten 30 Jahren sind fünf Prozent der Menschheit zum Nomadentum zurückgekehrt: Arbeitsmigranten und politische Flüchtlinge, aber auch mit mobilen Kommunikationsmitteln ausgerüstete «virtuell» Nicht-Sesshafte. In 30 Jahren werden mindestens zehn Prozent der Menschheit zu den neuen Nomaden gehören.[2] Es sind die real dem Unterwegssein «anheim»gefallenen Flüchtlinge und Obdachlosen, die in Übergangsheimen und Hilfswerk-Zelten hausen, ebenso wie die virtuell nomadisierenden Angestellten, die sporadisch in einem Grossraumbüro auftauchen und sich ihren Arbeitsplatz an einem Caddy jedes Mal neu einrichten, und die Manager, die «jetsetten». Zahlreich sind die Versuche, mobile Heimstätten für Obdachlose zu entwickeln, temperaturresistente, ephemere Behausungen für Flüchtlinge zu schaffen und Grossstadtnomaden mit transportablen Infrastrukturen auszurüsten.
«Die Heimat ist zwar kein ewiger Wert (...), aber wer sie verliert, der leidet. Er ist nämlich mit vielen Fasern an seine Heimat gebunden (...). Wenn die Fasern zerreissen oder zerrissen werden, dann erlebt er dies als einen schmerzhaften chirurgischen Eingriff in sein Intimstes», schreibt Flusser weiter. Unter diesem Blickwinkel können architektonische Konzepte für zeitgenössische Nomaden wohl immer nur Prothesen sein...

Rahel Hartmann Schweizer

Anmerkungen
[1] Vilem Flusser: Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit, in: Bodenlos. Eine philosophische Autobiographie. Bollmann Verlag, Düsseldorf, Bensheim, 1992, S. 247–264; oder in: Migration, Walther König, Köln, 2003, S. 12–37.
[2] Peggy Thöny: Integration des «Virtuellen» in den privaten Lebensraum. Studienrichtung Industrial Design, Universität für Gestaltung in A-Linz, Nov. 2001, S. 72.

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