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4. August 2000 Neue Zürcher Zeitung

Informelles Stadtdesign

Die Weltkonferenz zur globalen Verstädterung, «Urban 21»

Das Fachgespräch über Stadtentwicklung wird heute global geführt. «Urban 21», die Anfang Juli in Berlin veranstaltete Weltkonferenz über die Zukunft der Städte, wollte als Folgeveranstaltung von «Rio» und von «Habitat II» in Istanbul nicht nur eine Diskussion über Stadtentwicklung auslösen, sondern auch die Basis legen für kommende Entscheide der Uno, die mithelfen könnten, die Urbanisierung in erfolgversprechende Bahnen zu lenken.

Im Städtebau gilt wieder: «Small is beautiful.» Der Mensch rückt erneut ins Zentrum. Partizipation und Hilfe zur Selbsthilfe feiern ein Come- back. Anfang Juli konnte man an der «Urban 21» in Berlin zuweilen den Eindruck bekommen, in einer Veranstaltung der späten siebziger Jahre zu sitzen. Doch je länger die Referenten sprachen, zum Beispiel Kofi Annan, Gerhard Schröder, Tommy T. B. Koh aus Singapur oder Richard Rogers, umso klarer wurde, wie sehr sich der Weltkongress «Urban 21» von der Stadterneuerungskampagne des Europarates (1980-82) unterschied. Thema war nicht mehr nur die europäische Stadt, sondern alle Stadttypen dieser Welt. Sie wurden in Berlin in drei Kategorien eingeteilt: die Städte des Hyperwachstums, die dynamischen Städte mit ihrem frappanten Nebeneinander von Hütten- und Villenquartieren sowie die reifen Städte mit viel alter Bausubstanz und wenig jungen Menschen. Das Wort Stadt (city) wurde an der Konferenz für alle ihre Erscheinungsformen verwendet - für Kernstädte mit Agglomerationen, für Metropolen, Städtenetze oder urbane Landschaften - und oft als Überbegriff für «das Urbane» schlechthin.

Heute liegen die Schwerpunkte der Stadtentwicklungsdiskussion anders als vor 25 Jahren. Selbst der Architekt Richard Rogers zählte «good design» nur unter anderen Punkten auf, als er festhielt, was ihm an der Stadt wichtig sei: Dichte, Vielfalt der Aktivitäten, gute Verbindungen, Ökologie, ökonomische Kraft, gute Verwaltung und soziale Integration. Die ästhetischen Aspekte und die Schönheit der Stadt werden im Schlusspapier, der «Berliner Erklärung zur Zukunft der Städte», fast verschämt erwähnt, und der pathetische Ausruf eines Teilnehmers am Podium der Weltverbände der Architekten und Planer, die Architekten müssten wieder die Führung übernehmen, verhallte im eher schwach besetzten Saal. Der Begriff «informell» hingegen hatte Konjunktur. Neben der informellen Ökonomie und den «informal settlements», also den Slums oder Spontansiedlungen, muss man heute wohl auch von einem informellen Stadtdesign sprechen. Stehen doch dem bewussten Gestaltungswillen komplexe Sachzwänge entgegen, die als «hidden designers» wirken. An der Konferenz hat denn auch kaum jemand die Stadtgestalt als wesentlichen Faktor der Stadtentwicklung abgehandelt.

Armut und Migration
«Urban 21» gab Gelegenheit, nach den wichtigsten Kräften zu fragen, die das Gesicht urbaner Landschaften prägen. Dabei kristallisierten sich Armut, Umweltfragen und politische Reformen als Schwerpunkte heraus. Armut und die damit verbundene Migration vom Land in die Ballungsräume führten in vielen Teilen der Welt zur Entstehung weitläufiger Slums. Das Zerstören der Spontansiedlungen und das Vertreiben oder Umsiedeln der Bewohner in Hochhäuser brachten keine befriedigenden Resultate, sondern führten zur einer Überlastung der nicht zerstörten informellen Siedlungen und zu «vertikalen Slums». In den siebziger Jahren war noch die Rede vom Architekten, der den Slumbewohnern helfen sollte, ihre armseligen Behausungen wenn nicht «schön», so doch menschenwürdig zu gestalten. Davon hört man heute kaum mehr etwas. Vielmehr sollen nun die Behausungen und Infrastrukturen der Slums legalisiert und von den Bewohnern selber verbessert werden.

Dazu braucht es mehr als eine Parzellierung der spontanen Quartiere und ein paar Kurse für die Bewohner. Legalisieren sei ein erster Schritt, hiess es in Berlin, dann müsse aber den Bewohnern geholfen werden, Initiativen zu ergreifen, um ihre Häuser und die Umgebung gesund und lebenswert zu gestalten. Nötig ist finanzielle, technische und rechtliche Soforthilfe, und diese wiederum ist nur nachhaltig, wenn zugleich auf nationaler Ebene auch mittel- und langfristige Massnahmen eingeleitet werden, wie das Eindämmen der Bevölkerungsexplosion und die dazu notwendige Schulung der Frauen, die Ermöglichung eines bescheidenen Verdienstes, die Aufklärung über Wasserqualität und Hygiene oder das Initiieren von Organisationsstrukturen in Nachbarschaften und Quartieren, die später als Basis für die lokale Demokratie dienen können. Es gibt nicht genügend Geld und Fachkräfte für den Bau von Strassen, Wasserleitungen, Regenauffangbecken und Grünanlagen, aber auch für die Förderung von lokaler Kultur, Schulung und sozialer Infrastruktur in den informellen Siedlungen.

Umweltprobleme
Die katastrophale Luftverschmutzung ist ein weiterer «hidden designer». Sie kann nur verringert werden durch abgasfreie, öffentliche Verkehrsmittel und den Verzicht auf weiträumige Überbauungen, die einzig durch individuelle Verkehrsmittel erschlossen werden können. Schienengebundene Verkehrsmittel und polyzentrische Stadtstrukturen mit sehr dichten Kernen nahe den grossen Haltestellen senken nicht nur die Luftbelastung. Sie prägen auch das Erscheinungsbild, indem sie kompaktere Stadtstrukturen fördern, die Zersiedelung vermindern und damit eine klarere Trennung zwischen Stadt und Land erreichen. Die Klage über Verkehrslärm führt zur Forderung nach mehr «human powered mobility», also nach mehr Fortbewegung zu Fuss und per Fahrrad. Diese verlangt nach kurzen Distanzen und führt damit indirekt zur Durchmischung der Nutzungen Wohnen, Arbeiten, Erholen und Bilden. Eine funktional durchmischte Stadt bietet ein bunteres Bild als städtebauliche Monostrukturen. An der Pressekonferenz wurde denn auch die Frage gestellt, warum der Gedanke einer Gegencharta zur «Charta von Athen», die 1933 das Trennen der Funktionen propagierte, fallengelassen worden sei. Als Antwort wurde auf die «Berliner Erklärung» verwiesen.

Das grösste Stadtgebilde der Welt ist mit 27 Millionen Einwohnern Tokio, gefolgt von drei Städten mit etwas mehr als 16 Millionen Menschen: Mexico City, São Paulo und New York. Städte dieser Grössenordnung könnten nicht mehr von einer Zentralregierung aus gesteuert werden, wurde in Berlin gesagt, eine Dezentralisierung und eine Verlagerung der Kompetenzen in die Gemeinden sei unabdingbar. Davon verspricht man sich realitätsbezogenere politische Entscheide, mehr Verantwortung im lokalen Bereich und - unter anderem - eine bessere soziale Integration. Die soziale Zweiteilung der Gesellschaft ist am Erscheinungsbild von Städten wie Caracas gut ablesbar. Das krasse Nebeneinander der bewachten, zum Teil ummauerten Siedlungen der Reichen und der informellen Siedlungen der Armen gibt anschaulich Auskunft über die soziale Situation. Eine ökonomische Verbesserung, insbesondere die Integration der informellen in die herkömmliche Wirtschaft, wäre eine Voraussetzung, um das der soziale und geographische Auseinanderfallen Gesellschaft zu korrigieren.

Die Regionalisierung wurde an der Konferenz auch als Mittel propagiert, um von einer Architektur der internationalen und interkontinentalen Langeweile wegzukommen - nicht im Sinne eines neuen Heimatstils, sondern um aus lokalen Gegebenheiten neue Lebens- und Stadtformen zu entwickeln. Erwähnt wurden die drei Elemente, die viele afrikanische Städte prägen: die ursprüngliche Lebens- und Bauweise, das koloniale Erbe und die Einflüsse, die heute durch den Tourismus, den kulturellen Austausch und die Investoren nach Afrika getragen werden. Dieses Zusammenstossen von verschiedenen kulturellen Elementen sollte nicht zu einer Banalisierung führen, sondern für innovative Lösungen genutzt werden.

Die Städte werden von unterschiedlichen Situationen bestimmt und müssen deshalb verschiedene Massnahmen entwickeln. Sie können deshalb, wie die Erfahrung zeigt, kaum direkt voneinander lernen. Als mögliche Vorgehensweise wurde in Berlin immer wieder die «best practices» erwähnt: die Schilderung gelungener Beispiele in Teilbereichen, handle es sich nun um Interventionen in einem Quartier, um wirtschaftliche Massnahmen oder um Infrastrukturverbesserungen in einem Slumgebiet. Immer sind es Entscheidungen, die viele Lebensbereiche betreffen. Wohl deshalb sind sie theoretisch beschrieben allenfalls für Fachleute verständlich, nicht aber für Bewohner, Behörden und Investoren. Die Konferenz hat, wie erwähnt, eine Erklärung verabschiedet. Es handelt sich weder um ein Fachdokument wie die «Charta von Athen» noch um eine Erklärung von Regierungen. An der Konferenz nahmen neben Politikern auch Vertreter von Nichtregierungsorganisationen sowie Architekten und Planer teil. Das Papier ist zwar nicht verbindlich, gibt aber Auskunft über Inhalte und Stand der globalen Diskussion zur Urbanisierung auf unserem Planeten. Ähnliches gilt für die schlanke Broschüre des «Weltberichts zur Zukunft der Städte, ‹Urban 21›».

Ursula Rellstab

[ Weltbericht zur Zukunft der Städte, «Urban 21». Ausgearbeitet von der Weltkommission Urban 21. Hrsg. Peter Hall und Ulrich Pfeiffer. Erhältlich beim Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, Bonn. ]

4. Juni 1999 Neue Zürcher Zeitung

Gebaute Umwelt

Die Metropolisierung und ihre Folgen

Die Städte in der Schweiz und anderswo umgeben sich mit Agglomerationen und bilden gemeindeübergreifende Stadtlandschaften. Das verändert sowohl das Erscheinungsbild unserer Umwelt als auch das Leben, das wir darin führen. Wissenschafter stellen fest: es besteht die Gefahr des Auseinanderdriftens - städtebaulich wie sozial.


Chancen und Risiken

Schon vor rund fünfzig Jahren wurde die Metropolenbildung in den USA diskutiert, seit zehn Jahren ist sie auch in Europa ein Thema. Meistens sind es Architekten und Planer, die sich mit dieser Entwicklung befassen, neuerdings - im Zusammenhang mit kommunalen und kantonalen Grenzen, die nicht mehr der gebauten Umwelt entsprechen - auch die Politiker. Erwähnt sei der Vorstoss von Nationalrat Philippe Pidoux, die Kantone Genf und Waadt zusammenzulegen, oder an die geplanten oder realisierten Gemeindefusionen in verschiedenen Kantonen. Der Stadtsoziologe Michel Bassand vom Institut de recherche sur l'environnement construit (IREC) der ETH Lausanne geht noch einen Schritt weiter und untersucht die Zusammenhänge zwischen der Gestalt der metropolisierten Städte und deren sozialer Entwicklung. Er benützt dazu vorab Beispiele aus der Schweiz und aus Frankreich. Metropolen und die Metropolenbildung findet Bassand weder gut noch schlecht. Im Zeitalter der Globalisierung bedeuten Metropolen eine Standortchance, gleichzeitig bergen sie soziale Risiken.

Die «grands ensembles» in Frankreich mit ihren 800 bis 1000 Wohnungen sind für Bassand so etwas wie ein Signal für die Metropolenbildung. Die soziale Segregation wird in diesen HLM (Habitation à loyer modéré) besonders deutlich. Die in einer Zeit der Wohnungsnot und der bautechnischen Innovation gebauten Scheiben- und Turmbauten mussten billigen Wohnraum anbieten. Das setzte einen preisgünstigen Standort voraus; Autobahn-, Bahn- und Industrienähe boten sich an. Ausserdem wurden Infrastrukturkosten gespart und deshalb Schulen, Läden und Nahverkehr vernachlässigt. Bewohner, die es sich leisten konnten, zogen an einen besseren Ort. Die HLM weisen keine homogene Bewohnerschaft auf. Die meisten möchten ausziehen, nur ein kleines Segment von erstaunlicherweise gutverdienenden Bewohnern lebt aus eigenem Antrieb in dem HLM. Es sind hochmobile Leute, die ihre Freunde und Vergnügen anderswo aufsuchen und selten Verantwortung übernehmen für ihre nächste Umgebung. Die Segregation innerhalb der HLM hat viele Ursachen: hohe Arbeitslosigkeit, monotone Bauweise, ungünstige Lage, Bewohner aus verschiedenen Kulturen.

Bassand geht noch weiter und untersucht Wohnungen, Nachbarschaften und Quartiere. In unserer Zeit der Mobilität und Globalisierung findet er diese kleinen Einheiten besonders wichtig. Sie sind wesentliche Elemente der Städte und Metropolen. Er verlangt Offenheit: Das Sichabschotten in der Familie, im Mehrfamilienhaus oder im Quartier sei schlecht, weil es einer Ghettoisierung Vorschub leiste und nicht zulasse, gemeinsam etwas zu einer Verbesserung beizutragen, zum Beispiel, sich gemeinsam mit den lokalen Behörden um das Wohnumfeld zu kümmern. Bassand glaubt nicht, wie andere Autoren, an ein Verschwinden des Quartiers, da es als Brücke zwischen den Bewohnern und der Stadt, der Grossagglomeration oder der Metropole nach wie vor eine Funktion habe. Bassand misst dem öffentlichen Raum viel Gewicht bei: der Organisation und der Gestalt der Strassen, Plätze, Höfe und Pärke einerseits und den Treffpunkten unter Dach, den Bahnhöfen, den Quartierhäusern, allen Einrichtungen für Kultur und Sport, anderseits. Sie ermöglichen nicht nur Begegnungen, sie gliedern und gestalten auch den städtischen Raum. Vor allem im öffentlichen Raum erfahren die Bewohner ihr Quartier, ihre Stadt, ihre Metropole und identifizieren sich damit oder eben nicht. Hier sind die Planer und Architekten angesprochen, welche den Raum zwischen den Bauten schlecht bearbeiteten, ihn zum Restraum degradierten.


Die Bedeutung der «Netze»

Es ist weniger die Ballung von Menschen, welche sich in einer Metropole negativ auswirkt, als vielmehr eine unerwünschte Morphologie und eine risikoreiche sozialräumliche Gliederung. «Netze» können das Auseinanderdriften einer Metropole vermeiden. Ein gut organisierter öffentlicher Raum ist eines der wichtigsten Netze. Hinzu kommt das Verkehrsnetz, das die Menschen- und Güterströme lenkt und die einzelnen Teile einer Metropole oder der Metropolen unter sich räumlich und zeitlich zusammenschweisst. Das Telekommunikationsnetz funktioniert lokal, aber auch weltweit, während sich die Netze von Trinkwasser, Abwasser und Elektrizität direkt auf die Versorgung der Stadtlandschaften auswirken. Damit wirft Bassand die Frage auf, wie die nachindustrielle Gesellschaft, die «société informationnelle et programmée», in Zukunft nicht nur die baulichen und sozialen Strukturen ihrer Stadtlandschaften, sondern auch ihren Föderalismus organisiert, um das zu erreichen, was wir uns eigentlich vorgenommen haben: eine nachhaltige Entwicklung unserer natürlichen, sozialen und gebauten Umwelt.

[ Michel Bassand: Métropolisation et inégalités sociales. Presses polytechniques et universitaires romandes, Lausanne 1998. 264 S., Fr. 49.50. ]

5. Februar 1999 Neue Zürcher Zeitung

Kühnes städtisches Versatzstück

Neuer Stadtraum dank einer Geleiseüberbauung in Genf

Seit 1987 fahren die Intercityzüge bis zum Flughafen Genf Cointrin. Um die Lärmimmissionen auf die umliegenden Wohnquartiere zu vermindern, beschlossen die Behörden, die Geleise zu überdachen. Nach dem Abschluss der Arbeiten im Jahre 1994 begann man die 825 Meter lange Betonnarbe zu bebauen. Die gelungene Intervention dürfte ähnliche Diskussionen in anderen Städten beflügeln: in Zürich etwa jene um die Rosengartenstrasse.

Tagsüber fuhren die Züge, nachts wurde gebaut: Mit Argusaugen verfolgten die Quartierbewohner, wie die bis zu 35 Meter langen und 40 Tonnen schweren Betonbalken durch die Quartierstrassen balanciert und bei Scheinwerferlicht per Krahn quer über den Bahneinschnitt gelegt wurden. Den Baulärm nahmen die Bewohner in Kauf, denn im Gegenzug verhallte der Bahnlärm Meter um Meter unter einem Betondeckel.

Nach der Überdachung der Wettbewerb

In den achtziger Jahren waren in Genf verschiedene Studien zur Überdachung der Gleisanlagen durchgeführt worden. Schliesslich wurde der Baukredit von 70 Millionen Franken für den Tunnel gesprochen (Stadt Genf: 53 Millionen, Kanton Genf: 15 Millionen, SBB: rund 2 Millionen). Das war selbst im Boomjahr 1988 kein Pappenstiel. Dafür gewann die Stadt rund 20 000 Quadratmeter Land, auf dem sie dereinst, wie die Politiker hofften, 14 500 Quadratmeter Bruttogeschossfläche für lukrative «activités» vermieten wollte. Daraus ist nichts geworden: Denn «die Überdachung wurde in der Hochkonjunktur bewilligt und wird heute, in einer Zeit der Armut, überbaut». Visionen für dieses ungewöhnliche Grundstück von 825 Metern Länge und rund 25 Metern Breite gab es erstaunlicherweise nicht. Erst ein paar Tage nachdem der erste Betonbalken über den Graben gelegt worden war, im Mai 1992, wurde der öffentliche Projektwettbewerb abgeschlossen. Ihn gewannen die jungen Architekten Pierre Bonnet, Pierre Bosson und Alain Vaucher aus Carouge.

Als 1858 die Bahnlinie gebaut wurde, bestanden die Quartiere Saint-Jean und Charmilles noch nicht. In der damals noch idyllischen Landschaft standen Villen und dazugehörige Bauernhöfe. Das Gebiet nördlich und südlich der Geleise wurde, ein paar Grünräume ausgenommen, um 1900 und dann vor allem in den zwanziger und sechziger Jahren mit meist sieben- und achtstöckigen Wohnburgen überbaut. Wegen des Gleiseinschnitts entwickelte jedes der Quartiere seine eigene Identität. Charmilles bekam ein grosses Shopping-Center. «Es waren nicht die Planer, es war die Migros, welche bestimmte, wo das Quartierzentrum stehen sollte», meinte ein Bewohner. Die nun mit einem Betondeckel geschlossene Schneise wird also kaum zum Quartierzentrum aufsteigen, obschon sie zentral zwischen den Quartieren liegt und die Gebäude, die bereits stehen oder gebaut werden sollen, Publikum anlocken werden. Bei diesen handelt es sich um ein Quartierhaus, eine Bibliothek, «Familienateliers» und professionelle Ateliers, Bauten für Kinderkrippen und verschiedene Sozialdienste, eine riesige Dachkonstruktion für den Markt sowie einen Aussenraum zum Flanieren. Die geplante Post hingegen wurde anderswo errichtet, und für die Brasserie fanden sich keine Investoren.

Die beteiligten Behörden und Architekten vertraten zwei unterschiedliche städtebauliche Ideologien. Die einen waren der Ansicht, «die Geleiseüberbauung solle die beiden Quartiere zusammenschweissen und so den Eingriff des letzten Jahrhunderts verwischen». Die anderen wollten, dass «die Geschichte ablesbar bleibe». Diese Ansicht setzte sich schliesslich durch. Sie erhielt Sukkurs durch einen Sachzwang: Die Geleise konnten nicht abgesenkt werden, weil das Terrain sonst für die Bahn zu steil geworden wäre. Dadurch liess es sich nicht verhindern, dass das Tunneldach höher zu liegen kam als das Niveau der angrenzenden Quartierstrassen. Auch das Fehlen von Vorstellungen für die Zukunft der «couverture» generierte einen Sachzwang: die gewählte Konstruktion der Überdachung erlaubt nur leichte Bauten. Häuser der Dimension, wie wir sie in den angrenzenden Quartieren fast ausschliesslich finden, wären hier nicht möglich.

Heute stehen 70 Prozent der Bauten, der Rest wird im Frühjahr in Angriff genommen. Der Aussenraum ist weit gediehen und soll im März bepflanzt sein. Die Übergänge von der Gleisüberdachung zum Umraum sind noch nicht ganz fertiggestellt. Keine der neuen Bauten ist höher als drei Stockwerke, und alle Fassaden sind aus ungehobeltem Lärchenholz, das sich heute - je nach Behandlung - bald gelblich, bald orange gibt. In wenigen Jahren aber wird es grau sein und sich dannzumal mindestens farblich der Umgebung anpassen. Gleichwohl fragt man sich, warum in dieser ausgesprochen städtischen und steinernen Umgebung ausgerechnet mit Holz gebaut wurde. Bonnet, Bosson und Vaucher, als Preisträger verantwortlich nicht nur für die städtebauliche Lösung, sondern auch für das architektonische Grundkonzept, beispielsweise für Volumen und Fassadenverkleidung, suchten nach einem leichten Material, um zu dokumentieren, dass hier leicht gebaut werden musste. Ausserdem inspirierten sie sich an den Holzbauten, etwa den Güterschuppen, wie wir sie in der Nähe von alten Bahnhöfen finden. Den Vorwurf, unkritisch dem ökologischen Modetrend Holz gefolgt zu sein, weisen die Architekten zurück. Im Zusammenhang mit dem Ziel, «Geschichte nicht zu vertuschen», verweisen sie auf das Grün des ehemaligen Bahneinschnittes und auf den Wunsch der Bewohner nach etwas Natur.

Warum sie diesen Wunsch bei den Fassaden einzulösen versuchten, ihn aber bei der Aussenraumgestaltung kaum berücksichtigten, fragt man sich beim Spaziergang über die Betonplatte zwischen den Bauten. Genf habe eine Tradition, seine Trottoirs mit länglichen Betonplatten zu belegen. Ein Augenschein im Zentrum bestätigt dies hier und dort. Und doch: es macht einen Unterschied, ob Trottoirs so bedeckt sind oder eine doch zuweilen 25 Meter breite Fläche. Es gibt allerdings Unterbrüche und Einschnitte in dieser hellgrauen Platte. Da sind nicht nur die Bauten, sondern auch die ehemaligen Brücken zu nennen, die dank der Überdachung zu Strassen avancierten. Da wären auch die rechteckigen Ausschnitte und jenes 1200 Quadratmeter grosse Dreieck, das sich der sanften Kurve des nunmehr unterirdischen Gleiskörpers anschmiegt, zu erwähnen. Diese sind mit Bäumen bepflanzt worden.

Halle und Quartierhaus

Am Ostende der Platte, dort, wo die Brasserie hätte gebaut werden sollen, könnte - so eine der kursierenden Ideen - bereits im Frühling ein kleiner Wald aus Riesenbambus stehen. Alle diese Teile des Aussenraumes geben sich städtisch. Die Holzhäuser stehen also keineswegs auf einer ländlichen Enklave. An einer Stelle allerdings soll die Natur sich entfalten dürfen: am Westende der Stadtschneise, dort, wo sich der Blick in Richtung Jura öffnet, wird - vorbehältlich der Zustimmung im Stadtparlament - ein «jardin urbain» entstehen mit Pionierpflanzen und Weiden. Daneben ist ein Teil des Areals für Stadtsportarten wie Streetball und Skateboarden reserviert. Das hat Sinn, weil es neben der Markthalle und dem Quartierhaus liegt. Die Holzhalle überdeckt eine Fläche von 1250 Quadratmetern, ist 7,5 Meter hoch und auf dreieinhalb Seiten offen. Der weite und wenig definierte öffentliche Raum unter ihr lässt aufatmen in diesem dicht bebauten Quartier. Hier soll der Quartiermarkt abgehalten werden, es sollen aber auch Festveranstaltungen des angrenzenden Quartierhauses stattfinden. Ausserdem dürfen hier die Krippenkinder spielen.

Halle und Quartierhaus wurden von den Architekten Bonnet, Bosson und Vaucher gebaut. Beide sind mit viel Detailliebe ausgeführt. Die 6,7 Meter langen Bretter aus Tessiner Lärchenholz, mit denen die Fassade des Quartierhauses verkleidet ist, wurden sorgfältig verarbeitet. Dadurch wirkt das Gebäude überhaupt nicht rustikal. Das Quartierhaus mit dem Mehrzwecksaal und den Ausstellungs-, Spiel- und Klubräumen wurde in enger Zusammenarbeit mit Vorstand und Mitarbeitern konzipiert und ist von den Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen gut angenommen worden. Die Quartierhaus-Equipe hat bei Bewohnern und Behörden einen guten Ruf. Sie hat sich stets für bewohnerfreundliche Lösungen der Geleiseüberbauung eingesetzt, zum Beispiel indem sie eine Koordination der verschiedenen Vereine des Quartiers zustande brachte. Leider ist sie nicht in allen Teilen durchgedrungen.

Geht man vom Quartierhaus in Richtung See, so stösst man auf weitere Bauten. Da sind zunächst zwei Baukörper, die einen begehbaren, nur gerade 3,3 Meter breiten Zwischenraum bilden. Diese eigenwillige Anordnung, die sich mehrmals wiederholt, suggeriert ein Gässchen. In den ersten beiden Bauten ist ein städtisches Sozialzentrum untergebracht, in das sich verschiedene Organisationen eingemietet haben: das Rote Kreuz Genf, eine Hilfe für bedrängte Personen und eine Haushalthilfe für Kranke. Für diese Gebäude haben die Wettbewerbsgewinner nur Volumen, Holzfassade und die Dachgestaltung mit blaugrünen Glasscherben festgelegt. Das gilt auch für die Ateliers. Sowohl beim Sozialzentrum als auch bei den Ateliers wurden architektonische Kompromisse in Kauf genommen, die sich begründen lassen.

Ateliers für Familien und Künstler

Der Stadt Genf gelang es nicht, Investoren für diese Bauten zu finden. Nur ein Möbelhändler meldete sich, und so war denn die Stadt an einem Angebot der Genfer Architektengruppe CDM, zu der Herminio Carro, Benoît Dubesset und Wojciech Mucha gehören, interessiert. Dieser war nicht verborgen geblieben, dass Künstler gerne billige Garagen oder alte Fabrikräume mieteten, um sie als Ateliers zu nutzen. Die CDM-Architekten führten eine Umfrage durch und schlugen daraufhin der Stadt vor, ihnen diese schwierigen Gebäude im Baurecht zu überlassen. Eine Genossenschaft wurde gegründet; mit von der Partie war das Comptoir Genevois Immobilier. Der Kantonalbank gefiel der soziale und innovative Aspekt des Projektes, und sie ging das Risiko der Finanzierung ein.

Die Mieten für die Familienateliers und die «ateliers professionnels», in denen die Mieter einem vollen Erwerb nachgehen dürfen, sind tief, weil die Stadt, die sich das Terrain von den SBB im Baurecht gesichert hat, bei ihren Baurechtnehmern vorderhand auf einen Zins verzichtet und weil die Kantonalbank besonders günstige Bedingungen anbietet. Dazu kommt der minimale Standard der Innenräume: Zementboden und Wasseranschluss in jedem Raum, Toiletten auf den Etagen. Einzelne Fassadenelemente geben den Ateliers einen Anflug von Gewerbebauten. Da sind zum Beispiel die Fenster und Türen, die auf Grund des Preises und nicht des Aussehens wegen ausgewählt wurden. Die ursprünglich im Gebäudeinnern geplante Erschliessung wurde durch Aussentreppen und Balkone aus Eisengittern an den Fassaden ersetzt. Dazu mussten Kompromisse ausgehandelt werden zwischen den für die Volumen und Fassaden verantwortlichen Architekten Bonnet, Bosson, Vaucher und den CDM-Architekten, die die Ateliers bauten.

Für Bonnet, Bosson, Vaucher, die puristisch denkenden Gewinner des Wettbewerbes, ist diese Entwicklung schmerzlich, für die beiden Quartiere aber ist sie durchaus positiv. Im Nu waren 95 der 100 Ateliers vermietet. Die Vielfalt an Nutzungen, die man hier antrifft, erstaunt. Sie reicht von der Buchhandlung über ein Puppentheater, eine Bäckerei mit Tea-Room, eine Tanz- und eine Englischschule für Kinder bis zu Vereinssekretariaten. Hier arbeiten aber auch ein Modellbauer, ein Schriftsteller und ein Multimedia-Künstler. Die Anwohner hoffen, dass dieses bunte Innenleben bald auch den Aussenraum beleben wird. Gespannt sind sie auch auf die noch zu errichtenden Bauten: Der «lieu de l'enfance» mit drei verschieden geführten Kinderkrippen wird von den Wettbewerbsgewinnern zusammen mit Christoph Roiron gebaut. Das 65 Meter lange Gebäude wird sich ebenfalls an die leichte Kurve des unterirdischen Bahntrassees halten. Die Kinderkrippen kommen in eine architektonisch anspruchsvolle Nachbarschaft zu stehen, nämlich neben die legendäre Maison Ronde, den 1928/30 gebauten Wohnblock von Maurice Braillard. Die zukünftige Quartierbibliothek, ebenfalls in der Nähe von Braillards Bau, wird nach Plänen von Daniel Baillif und Roger Loponte aus Carouge realisiert.

Nicht befriedigend gelöst sind die beiden 825 Meter langen Übergänge zwischen der «couverture» und den angrenzenden Quartieren. Das Tunneldach überragt aus ingenieurtechnischen Gründen das Niveau der Quartierstrassen um 0,4 bis 1,6 Meter. Anstatt dieses Handicap mit städtebaulichem Know-how zu meistern, hielt man sich allzu sklavisch an die Ideologien des «Ehrlichseins» und des «Ablesens von Geschichte», spielte wenig attraktive Mauern zu erwünschten städtischen Elementen hoch und erschwerte so den Zugang und das Überqueren der Platte: Dies ist wohl aber die einzige Schattenseite dieses städtischen Versatzstückes, das sich sonst durch erfrischende Kühnheit auszeichnet.

Ursula Rellstab