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Wirkungsmächtige Bilder
Die „europäische Stadt“ - ein Auslaufmodell?
11. April 2002 - Robert Kaltenbrunner
Beim Stichwort «europäische Stadt» stellen wir uns in der Regel historisch gewachsene, klar voneinander abgegrenzte Zentren vor, für die der öffentliche Raum - Strasse, Platz und Park - prägend ist. Mit der Wirklichkeit hat das mittlerweile nur mehr wenig zu tun. Das heutige Siedlungsmuster in Europa könne man am besten nachts von einem Flugzeug aus erkennen, befand unlängst Peter Wilson. Was man sähe, sei «ein beinahe flächendeckendes Netz von Transportrouten, von verstreuten Industrie-, Wohn- und Freizeitfeldern. Die historische Stadt ist hier nur noch einer von vielen Knotenpunkten. Innen und Aussen gibt es nicht länger, nur örtliche Schnittflächen zwischen unterschiedlich beschaffenen Texturen. Die einstmals alles umfliessende Natur ist nun selbst umschlossen. Nunmehr sind es Landwirtschaft und Parks, welche die Mauern benötigen, die früher die Städte umgeben haben.»
Was hat angesichts dieser Tatsachen unsere Stadt(bau)kultur noch zu bieten? Mit dieser Frage setzt sich eine ebenso konzise wie streitbare Aufsatzsammlung auseinander, die auf eine prominent besetzte Expertentagung zurückgeht. Obgleich das Thema nicht ganz neu ist, wartet das Buch mit erhellenden Einsichten auf. Beispielsweise zeigt Wolfgang Christ, dass die Stadt europäischen Typs und die analoge Uhr gemeinsame Strukturmerkmale besitzen. Beide «vermitteln Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf einen Blick. Die traditionelle Uhr entwickelt die Zeit aus dem Verhältnis von Zwischenräumen, die die Zeiger hervorrufen. Die digitale Uhr symbolisiert eine andere Welt. Es ist eine Zeit ohne Zwischenräume und ohne lebensweltliche Referenz.»
Karl Schlögel verteidigt erwartungsgemäss die spezifische Identität der europäischen Stadt als eine «einzigartige zivilisatorische Entwicklung», deren Ergebnis durch alle Metamorphosen und Brüche hindurch heute noch sichtbar ist; selbst nach den Zerstörungen des 20. Jahrhunderts sei sie «irgendwie und wunderbarerweise wieder auf die Beine gekommen». Andere Autoren erteilen indes jedweder Idealisierung eine Absage: So präpariert der Ethnologe Wolfgang Kaschuba einen ambivalenten Doppelcharakter heraus: Gehörten doch die Ungleichheit sozialer Status- und Rechtspositionen, die Ausgrenzung von beruflichen, ethnischen oder religiösen Gruppen, die Bevormundung der «unterbürgerlichen» Gruppen oder die strikte ökonomische Verregelung vom Marktrecht bis zur Gewerbeordnung zur städtischen Tradition. Insofern lasse sich die europäische Stadt als eine Form der Zivilgesellschaft lesen, die immer noch eine gewisse Exklusivität für sich beanspruche. Wie weit es damit noch her ist, fragt Walter Siebel und erlaubt sich den Hinweis, dass «der Prozess der Einhausung und damit der Privatisierung heute über den engen Bezirk der Wohnung und des Betriebes hinausgreift und immer weitere noch im öffentlichen Raum verbliebene Funktionen erfasst». Womit nicht nur die Differenz von Öffentlichkeit und Privatheit erodiere, sondern das Idealbild der Stadt schlechthin.
Um die Dimension der Veränderung zu illustrieren, bemüht Marco Venturi (Venedig) die Metapher vom Ei: «Bis zum Ende des Ancien Régime glich die Stadt einem gekochten Ei, wobei die Stadtmauern wie eine Eierschale eine äusserst dichte Mischung öffentlicher Gebäude, Handels- und Wohnhäuser umschlossen; bis zum Zweiten Weltkrieg war sie eher ein Spiegelei, wobei das Eigelb der alten Stadt vom Eiweiss der neuen, für das Industriezeitalter typischen Bezirke umgeben war, und über die letzten fünfzig Jahre hinweg haben wir uns hin zum Rührei bewegt - und die Stadtforschung bewegt sich mit Versuchen zur Anwendung der Theorie des Fraktalen, um Lage und Form der einzelnen Klumpen zu errechnen.» Dass man diesen Prozess aufhalten sollte, scheint Konsens zu sein in der Fachgemeinde. Unklar aber ist bis heute, wie man dies leisten kann - und ob dieser Versuch nicht womöglich in die falsche Richtung führt. Die Halbwertszeit der siedlungsstrukturellen Entwicklung offenbart den Funktions- und Bedeutungswandel Stadt im 21. Jahrhundert insgesamt: Sie folgt weder dynamischen noch normativen Gesetzen. Eine Stadtplanung, die darauf wirklich einzugehen gewillt ist, hat indes einen schwierigen Part, fordert sie doch von Bürgern, Architekten und Politikern ein neues Bewusstsein für den Bestand, nachhaltiges und ressourcenschonendes Bauen, mehr Denkmalschutz, weniger Prosperität - und wahrscheinlich auch: mehr Chaos. Wenn man die europäische Stadt, wie der Soziologe Bernd Hamm, als lokale Utopie in globaler Solidarität betrachtet, dann hat sie in der Tat eine Zukunftsperspektive. Die sie allerdings auch braucht.
[Auslaufmodell europäische Stadt? Neue Herausforderungen und Fragestellungen am Beginn des 21. Jahrhunderts. Hrsg. Werner Rietdorf, Verlag für Wissenschaft und Forschung. Berlin 2001. 230 S., Euro 14.-.]
Was hat angesichts dieser Tatsachen unsere Stadt(bau)kultur noch zu bieten? Mit dieser Frage setzt sich eine ebenso konzise wie streitbare Aufsatzsammlung auseinander, die auf eine prominent besetzte Expertentagung zurückgeht. Obgleich das Thema nicht ganz neu ist, wartet das Buch mit erhellenden Einsichten auf. Beispielsweise zeigt Wolfgang Christ, dass die Stadt europäischen Typs und die analoge Uhr gemeinsame Strukturmerkmale besitzen. Beide «vermitteln Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf einen Blick. Die traditionelle Uhr entwickelt die Zeit aus dem Verhältnis von Zwischenräumen, die die Zeiger hervorrufen. Die digitale Uhr symbolisiert eine andere Welt. Es ist eine Zeit ohne Zwischenräume und ohne lebensweltliche Referenz.»
Karl Schlögel verteidigt erwartungsgemäss die spezifische Identität der europäischen Stadt als eine «einzigartige zivilisatorische Entwicklung», deren Ergebnis durch alle Metamorphosen und Brüche hindurch heute noch sichtbar ist; selbst nach den Zerstörungen des 20. Jahrhunderts sei sie «irgendwie und wunderbarerweise wieder auf die Beine gekommen». Andere Autoren erteilen indes jedweder Idealisierung eine Absage: So präpariert der Ethnologe Wolfgang Kaschuba einen ambivalenten Doppelcharakter heraus: Gehörten doch die Ungleichheit sozialer Status- und Rechtspositionen, die Ausgrenzung von beruflichen, ethnischen oder religiösen Gruppen, die Bevormundung der «unterbürgerlichen» Gruppen oder die strikte ökonomische Verregelung vom Marktrecht bis zur Gewerbeordnung zur städtischen Tradition. Insofern lasse sich die europäische Stadt als eine Form der Zivilgesellschaft lesen, die immer noch eine gewisse Exklusivität für sich beanspruche. Wie weit es damit noch her ist, fragt Walter Siebel und erlaubt sich den Hinweis, dass «der Prozess der Einhausung und damit der Privatisierung heute über den engen Bezirk der Wohnung und des Betriebes hinausgreift und immer weitere noch im öffentlichen Raum verbliebene Funktionen erfasst». Womit nicht nur die Differenz von Öffentlichkeit und Privatheit erodiere, sondern das Idealbild der Stadt schlechthin.
Um die Dimension der Veränderung zu illustrieren, bemüht Marco Venturi (Venedig) die Metapher vom Ei: «Bis zum Ende des Ancien Régime glich die Stadt einem gekochten Ei, wobei die Stadtmauern wie eine Eierschale eine äusserst dichte Mischung öffentlicher Gebäude, Handels- und Wohnhäuser umschlossen; bis zum Zweiten Weltkrieg war sie eher ein Spiegelei, wobei das Eigelb der alten Stadt vom Eiweiss der neuen, für das Industriezeitalter typischen Bezirke umgeben war, und über die letzten fünfzig Jahre hinweg haben wir uns hin zum Rührei bewegt - und die Stadtforschung bewegt sich mit Versuchen zur Anwendung der Theorie des Fraktalen, um Lage und Form der einzelnen Klumpen zu errechnen.» Dass man diesen Prozess aufhalten sollte, scheint Konsens zu sein in der Fachgemeinde. Unklar aber ist bis heute, wie man dies leisten kann - und ob dieser Versuch nicht womöglich in die falsche Richtung führt. Die Halbwertszeit der siedlungsstrukturellen Entwicklung offenbart den Funktions- und Bedeutungswandel Stadt im 21. Jahrhundert insgesamt: Sie folgt weder dynamischen noch normativen Gesetzen. Eine Stadtplanung, die darauf wirklich einzugehen gewillt ist, hat indes einen schwierigen Part, fordert sie doch von Bürgern, Architekten und Politikern ein neues Bewusstsein für den Bestand, nachhaltiges und ressourcenschonendes Bauen, mehr Denkmalschutz, weniger Prosperität - und wahrscheinlich auch: mehr Chaos. Wenn man die europäische Stadt, wie der Soziologe Bernd Hamm, als lokale Utopie in globaler Solidarität betrachtet, dann hat sie in der Tat eine Zukunftsperspektive. Die sie allerdings auch braucht.
[Auslaufmodell europäische Stadt? Neue Herausforderungen und Fragestellungen am Beginn des 21. Jahrhunderts. Hrsg. Werner Rietdorf, Verlag für Wissenschaft und Forschung. Berlin 2001. 230 S., Euro 14.-.]
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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