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Sechs Meter Leben
Entwickelt wurde sie in Frankreich, ihre Vorläufer stammen aus Deutschland, ihr massenhafter Einsatz aber ging vor gut 50 Jahren von der Sowjetunion aus: die „Platte“ - eine kleine Kulturgeschichte des industriellen Wohnbaus.
6. August 2005 - Reinhard Seiß
Genossen! Der Erfolg der Industrialisierung im Bauwesen, die Verbesserung der Qualität und die Senkung der Baukosten hängen in erheblichem Maße von der Arbeit der Architekten und Konstrukteure ab. Wir können nicht dulden, dass sich der Bauablauf häufig wegen der langsamen Arbeit der Entwurfsbüros verzögert und bisweilen an einfachen Gebäuden zwei Jahre lang und länger herumprojektiert wird. Um erfolgreich und schnell zu bauen, muss das Bauen nach Typenentwürfen vor sich gehen." Mit seiner Rede vom 7. Dezember 1954 auf der Unionskonferenz der Baufachleute der UdSSR beendete Nikita Chruschtschow die verschwenderische Ära der stalinistischen Architektur, in der an den Bedürfnissen der verarmten sowjetischen Gesellschaft vielfach vorbeigeplant wurde. Stalin hatte Millionen Obdachlose hinterlassen, weshalb sein Nachfolger die rasche Linderung der ärgsten Wohnungsnot durch billige Plattenbauten forderte: „Die weitgehende Anwendung von Konstruktionen aus Stahlbeton und Großformatblöcken macht eine Loslösung von den veralteten Projektierungsmethoden erforderlich. Wir sind nicht gegen Schönheit, jedoch gegen alle Arten von Überflüssigkeiten!“
Die sogenannten Chruschtschowkis, vier- und fünfgeschoßige Plattenbauten, prägten schon wenig später die gesamte UdSSR: Im europäischen Landesteil dienten sie dem Wiederaufbau der 1700 im Zweiten Weltkrieg zerstörten Städte - und Sibirien wurde durch die Platte erst so richtig urbanisiert. Nach sowjetischem Vorbild setzten auch die Bruderstaaten Osteuropas auf den industriellen Wohnbau, sodass die bald allgegenwärtigen Plattenbausiedlungen in ihrer Uniformität zum Synonym für das kommunistische Gesellschaftsmodell wurden.
Dabei war die Platte keine Erfindung des Ostens. Als ihre Vordenker gelten die Pioniere des „Neuen Bauens“ der Zwanziger- und Dreißigerjahre - etwa das Bauhaus um Walter Gropius. Dieser ließ in der Versuchssiedlung Dessau-Törten bereits 1926 mehr als 300 Einfamilienhäuser aus vorgefertigten Bauteilen montieren. Standardisierte Betonsegmente wurden auf Schienen zur Baustelle gebracht und dort von Kränen zusammengesetzt. Ähnlich erfolgte die Errichtung der Frankfurter Römerstadt durch Architekt Ernst May.
Serienreife erlangte die Plattenbauweise aber erst im mehrgeschoßigen Massenwohnbau. Um die große Wohnungsnot zu lindern, die nach dem Zweiten Weltkrieg auch in Westeuropa herrschte, brauchte es eine Methode, um rasch und günstig möglichst viel Wohnraum zu schaffen. Der Pariser Architekt Raymond Camus entwickelte 1948 das erste komplett industrialisierte Wohnbausystem auf Basis seriell produzierter Betonplatten, die in einer Art Schachtelbauweise übereinander gestapelt wurden. Camus optimierte auch die Baustellenlogistik, sodass die städtebauliche Gestalt vieler Großsiedlungen fortan durch technische Grenzwerte geprägt wurde: Die Größe der Platte bestimmte die Gebäudetiefe - ihre Tragfähigkeit wiederum gab die Geschoßanzahl vor. Und der Abstand zwischen den Gebäuden resultierte aus den Radien der Montagekräne. Nicht nur in französischen Vorstädten entstand dadurch eine Vielzahl nüchterner, eintöniger Wohngebiete - das Camus-System wurde Anfang der Sechzigerjahre auch in die französischen Kolonien, nach Skandinavien, in die Niederlande, nach Westdeutschland und Österreich exportiert.
In Wien wurden ab 1962 vor allem große Gemeindebaukomplexe am Stadtrand als Plattenbauten errichtet. Die erste Siedlung entstand an der Erzherzog-Karl-Straße im 22. Bezirk, die größte Stadterweiterung dieser Art stellte die Großfeldsiedlung im 21. Bezirk dar. Bis Mitte der Siebziger folgten noch „Schlafstädte“ wie die Wohnanlage auf den Trabrenngründen in Wien-Donaustadt oder die Per-Albin-Hansson-Siedlung Ost in Favoriten. Die eigens gegründete Montagebau Wien Ges. m. b. H. errichtete sogenannte Wohnungsfabriken in unmittelbarer Nähe der Großbaustellen, um die Transportwege für die vorgefertigten Betonplatten kurz zu halten. Anfänglich ordnete man die vier- beziehungsweise neungeschoßigen Gebäude in parallelen Zeilen an. Später wurden die Plattenbauten mit bis zu 16 Geschoßen - im Bemühen um mehr Abwechslung - auch im rechten Winkel oder diagonal aufgestellt, mäanderförmig oder hofartig gruppiert. Wie die meisten anderen westeuropäischen Städte musste aber auch Wien schließlich erkennen, dass der Montagebau nicht günstiger kommt als etwa die Scheiben- oder Skelettbauweise - und die Platte mit ihrer Gleichförmigkeit und Starrheit kaum befriedigende städtebauliche Lösungen ermöglicht.
Osteuropa hingegen setzte weiterhin auf die Betonplatte. Ein Umstieg wäre hier auch ungleich schwerer gefallen, zumal jahrelang ausschließlich Plattenbauten errichtet wurden. Vor allem um Infrastruktur - sprich Straßen und Tramwayschienen, Wasser- und Kanalleitungen - zu sparen, baute man in der Ära Breschnew immer höher und dichter. Ab den Siebzigern entstanden elf- und 16-geschoßige Wohnscheiben sowie 16- und 22-stöckige Punkthochhäuser, die wahrlich monströse Gebäudeschluchten erzeugten. Die Qualität der Platten, die Gestaltung der Freiräume sowie die Versorgung der Siedlungen ließen speziell in den Achtzigern angesichts des wirtschaftlichen Niedergangs im Comecon immer mehr nach. Immerhin gab es in der UdSSR eine gewisse typologische Vielfalt: Angepasst an die unterschiedlichen Klimazonen im größten Land der Erde, wurden vier unterschiedliche Plattenbausysteme entwickelt. Dies ermöglichte auch den Export der Platte in die gesamte sozialistische Welt - von Vietnam über Angola bis nach Kuba.
In der DDR kam dem Wohnbauprogramm eine geradezu identitätsstiftende Funktion zu. Die Lösung der Wohnungsknappheit durch Neubauten galt als eines der obersten Ziele der Regierung - während sie historische Altstädte und ausgedehnte Gründerzeitviertel als Zeugnisse der bürgerlich-kapitalistischen Vergangenheit verfallen ließ. Mit der Platte sollte ab 1955 das in der Verfassung verankerte „Recht auf Wohnen“ verwirklicht werden. Bereits vier Jahre später wurden 80 Prozent aller Neubauwohnungen in Montagebauweise errichtet. Das Prestigeprojekt schlechthin war der Bau des Ostberliner Stadtteils Marzahn für 160.000 Einwohner. In einem Akt nationaler Kraftanstrengung wurden zwischen 1977 und 1987 Platten aus allen Teilen des Landes zur größten zusammenhängenden Neubausiedlung Deutschlands montiert.
Die dabei verwendete Wohnbauserie WBS70 war ein Meisterstück an Normierung und Standardisierung - und kam in der gesamten Republik zum Einsatz. Das heißt, jede DDR-Wohnung aus den Siebzigern und Achtzigern basierte auf denselben Grundelementen: Sechs Meter breite Platten ergaben sechs oder zwölf Meter breite Wohnungen, mit (oder ohne) sechs Meter breiten Loggien. Egal ob Einraum- oder Vierraumwohnung - jedes Wandelement hatte an denselben Stellen dieselben, gleich großen Öffnungen für Fenster oder Türen. Jeder Platte wurden bereits im Betonwerk dieselben Installationsrohre eingegossen, deren Auslässe für Wasser und Strom identisch positioniert waren. So waren Plattenbaubewohner kaum mehr verwundert, wenn sie in fremde Wohnungen kamen und feststellten, dass diese - zwangsläufig - exakt so eingerichtet waren wie die eigenen.
Lediglich bei der Außengestaltung bemühten sich die Plattenkombinate der 16 DDR-Bezirke um etwas Differenzierung durch den Einsatz regionaltypischer Materialien. So wurden an der Ostsee einige Reihen Klinker auf die Platten geklebt, in Sachsen Sandstein und im Erzgebirge Schiefer.
In den Achtzigerjahren, als die gebaute Monotonie endlich als Problem erkannt wurde, gab es Versuche zur Verniedlichung der Platte. Nun wurden Erker eingesetzt - natürlich normiert und typisiert - oder Dachschrägen vorgetäuscht, um die nüchternen Flachdächer der Plattenbauten zu kaschieren. Im Berliner Nikolai-Viertel versuchte man gar, historische Straßenzüge mit Plattenbauten zu rekonstruieren. Gleichzeitig schlug sich die ökonomische Krise des Ostblocks auch im DDR-Wohnbau nieder. Wohl einzigartig auf der Welt begann man in den Achtzigerjahren, sechsgeschoßige Bauten aus Kostengründen ohne Aufzüge zu errichten. Und die ohnehin schon knapp bemessenen Wohnungen wurden nun noch kleiner.
Heute ist die Platte weltweit ein Sanierungsfall - ästhetisch, vor allem aber aufgrund der schlechten Wärmedämmung. Egal ob in Nowosibirsk oder in der Großfeldsiedlung. Was nicht bedeutet, dass Plattenbauten nach technischer und gestalterischer Aufwertung nicht wieder zeitgemäße Wohnqualität bieten können. Die Ostberliner Großsiedlung Hellersdorf dient seit Mitte der Neunziger als internationales Modell für eine gelungene Modernisierung. Die GUS-Staaten setzen sogar weiterhin auf die Platte: Allein in Moskau sind seit 1991 rund 200.000 Plattenbauwohnungen neu entstanden. Und Taschkent deckt nach wie vor 60 Prozent seines Wohnbauvolumens durch Plattenbauten ab. Zum Teil auch zwangsläufig - denn nach vier Jahrzehnten ausschließlich industriellen Bauens fehlt es an Bauhandwerkern, die andere Bauformen beherrschen: Berufe wie Maurer, Zimmermann, Dachdecker oder Spengler sind in der Sowjetunion quasi ausgestorben.
Andererseits sind die Großsiedlungen heute auch dem massiven Schrumpfungsprozess europäischer Städte unterworfen. In Ostdeutschland stehen mehr als eine Million Wohnungen leer, viele davon in Plattenbaugebieten. Deshalb arbeitet man nun am geordneten Rückbau der Siedlungen, ehe sie unkontrolliert brachfallen. In Cottbus werden Hochhäuser demontiert und mit ihren Platten an Ort und Stelle Stadtvillen errichtet. In Dresden und Magdeburg baut man sechsgeschoßige Wohnscheiben zu hochwertigen Reihenhäusern um. Manche Viertel werden mangels Wohnungsnachfrage aber auch gänzlich abgerissen _ wobei deren Platten ebenso Verwendung finden: Ein holländisches Bauunternehmen bezieht von zwei Magdeburger Wohnungsbaugesellschaften alte Betonplatten, um damit Ackerstraßen und Silos für niederländische Landwirte zu bauen.
In Österreich, dem Land der Häuslbauer, erlebt die Platte in anderer Form seit Anfang der Neunziger eine Renaissance, die - mit Ausnahme Skandinaviens - in Europa ihresgleichen sucht. Jedes dritte Einfamilienhaus besteht mittlerweile aus Fertigteilen. Deren bauphysikalische Qualität ist natürlich nicht vergleichbar mit den schlichten Betonplatten von einst. Nicht vergleichbar ist mittlerweile auch die Produktvielfalt: Selbst ausgefallene Grundrisse können durch die breite Palette an vorgefertigten Modulen realisiert werden. Manche Hersteller offerieren sogar farbpsychologische Beratung oder eine Planung nach Feng-Shui-Kriterien. Bei einer derartigen Differenzierung des Angebots wäre vielleicht auch dem Plattenbau der Vergangenheit mehr Erfolg beschieden gewesen. ?
Die sogenannten Chruschtschowkis, vier- und fünfgeschoßige Plattenbauten, prägten schon wenig später die gesamte UdSSR: Im europäischen Landesteil dienten sie dem Wiederaufbau der 1700 im Zweiten Weltkrieg zerstörten Städte - und Sibirien wurde durch die Platte erst so richtig urbanisiert. Nach sowjetischem Vorbild setzten auch die Bruderstaaten Osteuropas auf den industriellen Wohnbau, sodass die bald allgegenwärtigen Plattenbausiedlungen in ihrer Uniformität zum Synonym für das kommunistische Gesellschaftsmodell wurden.
Dabei war die Platte keine Erfindung des Ostens. Als ihre Vordenker gelten die Pioniere des „Neuen Bauens“ der Zwanziger- und Dreißigerjahre - etwa das Bauhaus um Walter Gropius. Dieser ließ in der Versuchssiedlung Dessau-Törten bereits 1926 mehr als 300 Einfamilienhäuser aus vorgefertigten Bauteilen montieren. Standardisierte Betonsegmente wurden auf Schienen zur Baustelle gebracht und dort von Kränen zusammengesetzt. Ähnlich erfolgte die Errichtung der Frankfurter Römerstadt durch Architekt Ernst May.
Serienreife erlangte die Plattenbauweise aber erst im mehrgeschoßigen Massenwohnbau. Um die große Wohnungsnot zu lindern, die nach dem Zweiten Weltkrieg auch in Westeuropa herrschte, brauchte es eine Methode, um rasch und günstig möglichst viel Wohnraum zu schaffen. Der Pariser Architekt Raymond Camus entwickelte 1948 das erste komplett industrialisierte Wohnbausystem auf Basis seriell produzierter Betonplatten, die in einer Art Schachtelbauweise übereinander gestapelt wurden. Camus optimierte auch die Baustellenlogistik, sodass die städtebauliche Gestalt vieler Großsiedlungen fortan durch technische Grenzwerte geprägt wurde: Die Größe der Platte bestimmte die Gebäudetiefe - ihre Tragfähigkeit wiederum gab die Geschoßanzahl vor. Und der Abstand zwischen den Gebäuden resultierte aus den Radien der Montagekräne. Nicht nur in französischen Vorstädten entstand dadurch eine Vielzahl nüchterner, eintöniger Wohngebiete - das Camus-System wurde Anfang der Sechzigerjahre auch in die französischen Kolonien, nach Skandinavien, in die Niederlande, nach Westdeutschland und Österreich exportiert.
In Wien wurden ab 1962 vor allem große Gemeindebaukomplexe am Stadtrand als Plattenbauten errichtet. Die erste Siedlung entstand an der Erzherzog-Karl-Straße im 22. Bezirk, die größte Stadterweiterung dieser Art stellte die Großfeldsiedlung im 21. Bezirk dar. Bis Mitte der Siebziger folgten noch „Schlafstädte“ wie die Wohnanlage auf den Trabrenngründen in Wien-Donaustadt oder die Per-Albin-Hansson-Siedlung Ost in Favoriten. Die eigens gegründete Montagebau Wien Ges. m. b. H. errichtete sogenannte Wohnungsfabriken in unmittelbarer Nähe der Großbaustellen, um die Transportwege für die vorgefertigten Betonplatten kurz zu halten. Anfänglich ordnete man die vier- beziehungsweise neungeschoßigen Gebäude in parallelen Zeilen an. Später wurden die Plattenbauten mit bis zu 16 Geschoßen - im Bemühen um mehr Abwechslung - auch im rechten Winkel oder diagonal aufgestellt, mäanderförmig oder hofartig gruppiert. Wie die meisten anderen westeuropäischen Städte musste aber auch Wien schließlich erkennen, dass der Montagebau nicht günstiger kommt als etwa die Scheiben- oder Skelettbauweise - und die Platte mit ihrer Gleichförmigkeit und Starrheit kaum befriedigende städtebauliche Lösungen ermöglicht.
Osteuropa hingegen setzte weiterhin auf die Betonplatte. Ein Umstieg wäre hier auch ungleich schwerer gefallen, zumal jahrelang ausschließlich Plattenbauten errichtet wurden. Vor allem um Infrastruktur - sprich Straßen und Tramwayschienen, Wasser- und Kanalleitungen - zu sparen, baute man in der Ära Breschnew immer höher und dichter. Ab den Siebzigern entstanden elf- und 16-geschoßige Wohnscheiben sowie 16- und 22-stöckige Punkthochhäuser, die wahrlich monströse Gebäudeschluchten erzeugten. Die Qualität der Platten, die Gestaltung der Freiräume sowie die Versorgung der Siedlungen ließen speziell in den Achtzigern angesichts des wirtschaftlichen Niedergangs im Comecon immer mehr nach. Immerhin gab es in der UdSSR eine gewisse typologische Vielfalt: Angepasst an die unterschiedlichen Klimazonen im größten Land der Erde, wurden vier unterschiedliche Plattenbausysteme entwickelt. Dies ermöglichte auch den Export der Platte in die gesamte sozialistische Welt - von Vietnam über Angola bis nach Kuba.
In der DDR kam dem Wohnbauprogramm eine geradezu identitätsstiftende Funktion zu. Die Lösung der Wohnungsknappheit durch Neubauten galt als eines der obersten Ziele der Regierung - während sie historische Altstädte und ausgedehnte Gründerzeitviertel als Zeugnisse der bürgerlich-kapitalistischen Vergangenheit verfallen ließ. Mit der Platte sollte ab 1955 das in der Verfassung verankerte „Recht auf Wohnen“ verwirklicht werden. Bereits vier Jahre später wurden 80 Prozent aller Neubauwohnungen in Montagebauweise errichtet. Das Prestigeprojekt schlechthin war der Bau des Ostberliner Stadtteils Marzahn für 160.000 Einwohner. In einem Akt nationaler Kraftanstrengung wurden zwischen 1977 und 1987 Platten aus allen Teilen des Landes zur größten zusammenhängenden Neubausiedlung Deutschlands montiert.
Die dabei verwendete Wohnbauserie WBS70 war ein Meisterstück an Normierung und Standardisierung - und kam in der gesamten Republik zum Einsatz. Das heißt, jede DDR-Wohnung aus den Siebzigern und Achtzigern basierte auf denselben Grundelementen: Sechs Meter breite Platten ergaben sechs oder zwölf Meter breite Wohnungen, mit (oder ohne) sechs Meter breiten Loggien. Egal ob Einraum- oder Vierraumwohnung - jedes Wandelement hatte an denselben Stellen dieselben, gleich großen Öffnungen für Fenster oder Türen. Jeder Platte wurden bereits im Betonwerk dieselben Installationsrohre eingegossen, deren Auslässe für Wasser und Strom identisch positioniert waren. So waren Plattenbaubewohner kaum mehr verwundert, wenn sie in fremde Wohnungen kamen und feststellten, dass diese - zwangsläufig - exakt so eingerichtet waren wie die eigenen.
Lediglich bei der Außengestaltung bemühten sich die Plattenkombinate der 16 DDR-Bezirke um etwas Differenzierung durch den Einsatz regionaltypischer Materialien. So wurden an der Ostsee einige Reihen Klinker auf die Platten geklebt, in Sachsen Sandstein und im Erzgebirge Schiefer.
In den Achtzigerjahren, als die gebaute Monotonie endlich als Problem erkannt wurde, gab es Versuche zur Verniedlichung der Platte. Nun wurden Erker eingesetzt - natürlich normiert und typisiert - oder Dachschrägen vorgetäuscht, um die nüchternen Flachdächer der Plattenbauten zu kaschieren. Im Berliner Nikolai-Viertel versuchte man gar, historische Straßenzüge mit Plattenbauten zu rekonstruieren. Gleichzeitig schlug sich die ökonomische Krise des Ostblocks auch im DDR-Wohnbau nieder. Wohl einzigartig auf der Welt begann man in den Achtzigerjahren, sechsgeschoßige Bauten aus Kostengründen ohne Aufzüge zu errichten. Und die ohnehin schon knapp bemessenen Wohnungen wurden nun noch kleiner.
Heute ist die Platte weltweit ein Sanierungsfall - ästhetisch, vor allem aber aufgrund der schlechten Wärmedämmung. Egal ob in Nowosibirsk oder in der Großfeldsiedlung. Was nicht bedeutet, dass Plattenbauten nach technischer und gestalterischer Aufwertung nicht wieder zeitgemäße Wohnqualität bieten können. Die Ostberliner Großsiedlung Hellersdorf dient seit Mitte der Neunziger als internationales Modell für eine gelungene Modernisierung. Die GUS-Staaten setzen sogar weiterhin auf die Platte: Allein in Moskau sind seit 1991 rund 200.000 Plattenbauwohnungen neu entstanden. Und Taschkent deckt nach wie vor 60 Prozent seines Wohnbauvolumens durch Plattenbauten ab. Zum Teil auch zwangsläufig - denn nach vier Jahrzehnten ausschließlich industriellen Bauens fehlt es an Bauhandwerkern, die andere Bauformen beherrschen: Berufe wie Maurer, Zimmermann, Dachdecker oder Spengler sind in der Sowjetunion quasi ausgestorben.
Andererseits sind die Großsiedlungen heute auch dem massiven Schrumpfungsprozess europäischer Städte unterworfen. In Ostdeutschland stehen mehr als eine Million Wohnungen leer, viele davon in Plattenbaugebieten. Deshalb arbeitet man nun am geordneten Rückbau der Siedlungen, ehe sie unkontrolliert brachfallen. In Cottbus werden Hochhäuser demontiert und mit ihren Platten an Ort und Stelle Stadtvillen errichtet. In Dresden und Magdeburg baut man sechsgeschoßige Wohnscheiben zu hochwertigen Reihenhäusern um. Manche Viertel werden mangels Wohnungsnachfrage aber auch gänzlich abgerissen _ wobei deren Platten ebenso Verwendung finden: Ein holländisches Bauunternehmen bezieht von zwei Magdeburger Wohnungsbaugesellschaften alte Betonplatten, um damit Ackerstraßen und Silos für niederländische Landwirte zu bauen.
In Österreich, dem Land der Häuslbauer, erlebt die Platte in anderer Form seit Anfang der Neunziger eine Renaissance, die - mit Ausnahme Skandinaviens - in Europa ihresgleichen sucht. Jedes dritte Einfamilienhaus besteht mittlerweile aus Fertigteilen. Deren bauphysikalische Qualität ist natürlich nicht vergleichbar mit den schlichten Betonplatten von einst. Nicht vergleichbar ist mittlerweile auch die Produktvielfalt: Selbst ausgefallene Grundrisse können durch die breite Palette an vorgefertigten Modulen realisiert werden. Manche Hersteller offerieren sogar farbpsychologische Beratung oder eine Planung nach Feng-Shui-Kriterien. Bei einer derartigen Differenzierung des Angebots wäre vielleicht auch dem Plattenbau der Vergangenheit mehr Erfolg beschieden gewesen. ?
Für den Beitrag verantwortlich: Spectrum
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