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Hanseatische Prachtentfaltung
Die Altstadt findet langsam zu ihrer Grandezza zurück
Diesen Sommer wurde Stralsund zusammen mit Wismar in die Welterbeliste der Unesco aufgenommen - ein wichtiges Signal, für die Touristen ebenso wie für die Stralsunder Bürger, die unmittelbar nach der Wende einen Abrissstopp in der Altstadt erwirkt hatten. Seit Mitte der neunziger Jahre wird durchgreifend saniert, ein spektakulärer Neubau des Deutschen Meeresmuseums soll dem Hafengelände ein neues Gesicht verleihen.
21. November 2002 - Sieglinde Geisel
«Stralsund war die traurigste Stadt, die ich je gesehen hatte», erinnert sich Peter Boie an seinen ersten Eindruck. Er kam 1990 nach Stralsund, um die Leitung der Stadterneuerungsgesellschaft zu übernehmen, einer Einrichtung, die Anschubfinanzierungen der öffentlichen Hand leistet. Gleichzeitig sei er von der Schönheit der Altstadt überwältigt gewesen, was jedoch den Schmerz über ihren prekären Zustand nur verstärkt habe.
In der Tat eignet Stralsund eine melancholische Grandezza. Die Wahrzeichen der Stadt zeugen von der Energie der ehemaligen Handelsstadt und dem Selbstbewusstsein ihrer reichen Bürger, die der Stadt im 15. Jahrhundert ihr Gesicht gaben. Das berühmte Rathaus mit der filigranen Schaufassade wurde damals als «kophus» (Kaufhaus) gebaut, daneben die Nikolaikirche, die in ihren besten Zeiten 56 Altäre hatte und an den Markttagen für den Handel geöffnet war. Sie ist eine offene Bürgerkirche geblieben: Nun kann man die Restauratoren bei der Arbeit beobachten.
Mit dem Niedergang der Hanse hatte Stralsund rasch an Bedeutung verloren. Einst ein Zentrum des baltischen Kulturraums, ist Stralsund heute eine mittlere Kleinstadt in geopolitischer Randlage. Die Hafeninsel ist heute ein Gelände der Verlegenheit mit ungenutzten Speichern und einem Parkplatz. Dies allerdings soll sich demnächst ändern: Für 2004 ist der Baubeginn des Ozeaneums geplant, eines Neubaus des Deutschen Meeresmuseums, der dem ganzen Hafengelände ein neues Gesicht geben soll. Das 1951 gegründete Meeresmuseum zog 1974 in die Katharinenhalle um, eine bauliche Kuriosität: Für die Ausstellungen wurden Zwischenböden in das gotische Kirchenschiff des ehemaligen Katharinenklosters eingezogen, während die Aquarien in den Kellergewölben untergebracht sind. Ein weiteres Gebäude des Katharinenklosters beherbergt das kulturhistorische Museum der Stadt, das älteste Museum in Mecklenburg-Vorpommern.
Museumsneubau am Hafen
«Das Deutsche Meeresmuseum war die einzige erfolgreiche Museumsneugründung der DDR», so erklärt Direktor Harald Benke den Umstand, dass das Ozeaneum als «Chefsache» gehandelt und mit einer Bausumme von 51 Millionen Euro als einziger Museumsbau Deutschlands öffentlich gefördert wird. Man erhofft sich von dem Erlebnispark mit den riesigen Aquarien mit Flora und Fauna von Nord- und Ostsee Impulse für die gesamte Region. Am grössten Architekturwettbewerb des Landes Mecklenburg-Vorpommern nahmen vierhundert Architekten teil, denn das Museum soll auch als Architekturdenkmal international Furore machen. Im Siegerentwurf von Behnisch & Partner (Stuttgart) zeigt sich die Moderne allerdings eher von der sanften Seite: Die geschwungenen Formen fügen sich in die bestehende Stadtsilhouette mit den zahlreichen Kirchtürmen ein.
Die Altstadt ist von solch futuristischen Träumen Welten entfernt. Neben den sanierten Prachthäusern liegen wild überwucherte Grundstücke und Ruinen, die von Balken gestützt werden müssen. Ein Bombenangriff im Oktober 1944 hatte zehn Prozent der Altstadt zerstört. Die DDR zog es vor, am Stadtrand Plattensiedlungen hochzuziehen, und überliess die Altstadt dem Zahn der Zeit. Die Bürger dagegen waren nicht gleichgültig - was zu DDR-Zeiten saniert wurde, ist weitgehend der privaten Initiative engagierter Stadtbewohner zu verdanken, die in «Feierabendbrigaden» etwa das Johanniskloster renovierten. Zur Zeit der Wende war die Erhaltung der Altstadt das wichtigste politische Anliegen der hiesigen Bürgerbewegung: Ein Bürgerkomitee erwirkte noch im Dezember 1989 einen Abrissstopp in der Altstadt.
Die Wende allerdings war für die Altstadt kein sofortiger Segen. «Nun gingen erst einmal richtig die Lichter aus», wie Peter Boie es formuliert. Jetzt verschwanden auch noch die letzten Geschäfte, denn die neuen Einkaufszentren am Stadtrand zogen alle Kaufkraft ab. Wegen ungeklärter Eigentumsfragen waren in den ersten Jahren nur Notsicherungen möglich. Die Altstadt verlor rasant an Einwohnern und verödete. Erst ab Mitte der neunziger Jahre konnte durchgreifend saniert werden. Mit dem rot leuchtenden Heilgeistkloster wurde kürzlich ein vollständiger Gebäudekomplex fertig - «ein erstes Stück heile Welt». Ein Drittel der Altstadt ist saniert, aber 140 Gebäude sind immer noch gefährdet. Es ist nicht leicht, Investoren zu finden, und manche Eigentümer haben kein Geld für eine Sanierung. In diesem Fall greift ein pragmatisches Modell: Das Gebäude geht als Schenkung für einen symbolischen Euro an die Stadt, die eine Notsicherung besorgt, damit ein weiterer Verfall aufgehalten und das Gebäude auf finanzkräftige Käufer warten kann.
Die behutsame Sanierung ist eine Gnade der Geschichte: So verheerend die Vernachlässigung zu DDR-Zeiten war, so sind Stralsund doch die Bausünden des Westens erspart geblieben. «In der Bundesrepublik hat die eigentliche Zerstörung oft erst nach dem Krieg eingesetzt, als man keine Skrupel hatte, Parkhäuser und Tankstellen in die Innenstadt zu setzen», meint Peter Boie, der vorher in Kiel und Hannover tätig war. Die wenigen Neubauten der Stralsunder Altstadt, die aus DDR-Zeiten stammen, imitieren die historischen Giebelhäuser mit Plattenbautechnik - das hat den unbeholfenen Charme von Laubsäge-Arbeiten. «Das gab es im Westen natürlich auch», sagt Boie und verweist auf entsprechende Häuserzeilen in Lübeck. Überhaupt beobachtet er überraschende Parallelen zwischen Ost und West: Als die DDR den grossflächigen Abriss von Altstadtquartieren plante, war in der Bundesrepublik die Kahlschlagsanierung Mode. Mit dem Unterschied allerdings, dass der DDR meist das Geld für den Abriss fehlte.
Autos vor dem Strassencafé
Es ist nicht leicht, eine ausgestorbene Altstadt wiederzubeleben. Als Neuling findet man etwa in Stralsund nicht auf Anhieb ein Restaurant. Nach Geschäftsschluss könnte man meinen, die ganze Innenstadt sei eine Fussgängerzone. Dabei dient ausgerechnet der Alte Markt mit dem Rathaus als öffentlicher Parkplatz. Die westlichen Stadtplaner seien mit dem Konzept der autofreien Innenstadt damals zu früh gekommen, meint Boie, aber jetzt störe es auch die Stralsunder, wenn sie im Strassencafé sitzen und einen Parkplatz vor der Nase haben. Trotzdem bleibt das Auto ein wichtiger Faktor in der Stadtplanung. Die 60 000 Einwohner der Hansestadt lassen sich nur dann zum Einkaufsbummel in die Altstadt locken, wenn sie ihr Auto mitnehmen können. An der Stadtmauer wurden in den letzten Jahren archäologische Grabungen vorgenommen, die Klosterfunde aus dem 13. Jahrhundert zutage förderten. Wenn Dokumentation und Bergung abgeschlossen sind, wird hier eine Tiefgarage gebaut. «Darüber reden wir nicht so gern», meint Boie dazu.
Zu DDR-Zeiten hatte die Altstadt als Wohnort geringes Prestige - «wie es ja auch in Westdeutschland erst in den letzten zwanzig Jahren schick wurde, in der Altstadt zu wohnen», meint Boie. Das hat sich grundlegend geändert. Obwohl Stralsund insgesamt Einwohner verliert, gewinnt die Altstadt hinzu. Nach dem Tiefstand 1998 mit 2800 Einwohnern leben jetzt wieder 3700 Menschen in der Altstadt. Die Aufnahme in die Welterbeliste der Unesco im Sommer hat nicht nur die Touristenzahlen spürbar ansteigen lassen, sondern auch den Stolz der Stralsunder auf ihre Altstadt gefördert. Peter Boie erzählt von einer Gastwirtin, die sich in Sachen Welterbe hat schulen lassen, um mit ihren auswärtigen Gästen darüber fachkundig plaudern zu können. «Und nun geht es in vorpommerschem Tempo bergauf», meint Boie, der für die Sanierung der gesamten Altstadt mehr als die geplanten zwanzig Jahre veranschlagt.
In der Tat eignet Stralsund eine melancholische Grandezza. Die Wahrzeichen der Stadt zeugen von der Energie der ehemaligen Handelsstadt und dem Selbstbewusstsein ihrer reichen Bürger, die der Stadt im 15. Jahrhundert ihr Gesicht gaben. Das berühmte Rathaus mit der filigranen Schaufassade wurde damals als «kophus» (Kaufhaus) gebaut, daneben die Nikolaikirche, die in ihren besten Zeiten 56 Altäre hatte und an den Markttagen für den Handel geöffnet war. Sie ist eine offene Bürgerkirche geblieben: Nun kann man die Restauratoren bei der Arbeit beobachten.
Mit dem Niedergang der Hanse hatte Stralsund rasch an Bedeutung verloren. Einst ein Zentrum des baltischen Kulturraums, ist Stralsund heute eine mittlere Kleinstadt in geopolitischer Randlage. Die Hafeninsel ist heute ein Gelände der Verlegenheit mit ungenutzten Speichern und einem Parkplatz. Dies allerdings soll sich demnächst ändern: Für 2004 ist der Baubeginn des Ozeaneums geplant, eines Neubaus des Deutschen Meeresmuseums, der dem ganzen Hafengelände ein neues Gesicht geben soll. Das 1951 gegründete Meeresmuseum zog 1974 in die Katharinenhalle um, eine bauliche Kuriosität: Für die Ausstellungen wurden Zwischenböden in das gotische Kirchenschiff des ehemaligen Katharinenklosters eingezogen, während die Aquarien in den Kellergewölben untergebracht sind. Ein weiteres Gebäude des Katharinenklosters beherbergt das kulturhistorische Museum der Stadt, das älteste Museum in Mecklenburg-Vorpommern.
Museumsneubau am Hafen
«Das Deutsche Meeresmuseum war die einzige erfolgreiche Museumsneugründung der DDR», so erklärt Direktor Harald Benke den Umstand, dass das Ozeaneum als «Chefsache» gehandelt und mit einer Bausumme von 51 Millionen Euro als einziger Museumsbau Deutschlands öffentlich gefördert wird. Man erhofft sich von dem Erlebnispark mit den riesigen Aquarien mit Flora und Fauna von Nord- und Ostsee Impulse für die gesamte Region. Am grössten Architekturwettbewerb des Landes Mecklenburg-Vorpommern nahmen vierhundert Architekten teil, denn das Museum soll auch als Architekturdenkmal international Furore machen. Im Siegerentwurf von Behnisch & Partner (Stuttgart) zeigt sich die Moderne allerdings eher von der sanften Seite: Die geschwungenen Formen fügen sich in die bestehende Stadtsilhouette mit den zahlreichen Kirchtürmen ein.
Die Altstadt ist von solch futuristischen Träumen Welten entfernt. Neben den sanierten Prachthäusern liegen wild überwucherte Grundstücke und Ruinen, die von Balken gestützt werden müssen. Ein Bombenangriff im Oktober 1944 hatte zehn Prozent der Altstadt zerstört. Die DDR zog es vor, am Stadtrand Plattensiedlungen hochzuziehen, und überliess die Altstadt dem Zahn der Zeit. Die Bürger dagegen waren nicht gleichgültig - was zu DDR-Zeiten saniert wurde, ist weitgehend der privaten Initiative engagierter Stadtbewohner zu verdanken, die in «Feierabendbrigaden» etwa das Johanniskloster renovierten. Zur Zeit der Wende war die Erhaltung der Altstadt das wichtigste politische Anliegen der hiesigen Bürgerbewegung: Ein Bürgerkomitee erwirkte noch im Dezember 1989 einen Abrissstopp in der Altstadt.
Die Wende allerdings war für die Altstadt kein sofortiger Segen. «Nun gingen erst einmal richtig die Lichter aus», wie Peter Boie es formuliert. Jetzt verschwanden auch noch die letzten Geschäfte, denn die neuen Einkaufszentren am Stadtrand zogen alle Kaufkraft ab. Wegen ungeklärter Eigentumsfragen waren in den ersten Jahren nur Notsicherungen möglich. Die Altstadt verlor rasant an Einwohnern und verödete. Erst ab Mitte der neunziger Jahre konnte durchgreifend saniert werden. Mit dem rot leuchtenden Heilgeistkloster wurde kürzlich ein vollständiger Gebäudekomplex fertig - «ein erstes Stück heile Welt». Ein Drittel der Altstadt ist saniert, aber 140 Gebäude sind immer noch gefährdet. Es ist nicht leicht, Investoren zu finden, und manche Eigentümer haben kein Geld für eine Sanierung. In diesem Fall greift ein pragmatisches Modell: Das Gebäude geht als Schenkung für einen symbolischen Euro an die Stadt, die eine Notsicherung besorgt, damit ein weiterer Verfall aufgehalten und das Gebäude auf finanzkräftige Käufer warten kann.
Die behutsame Sanierung ist eine Gnade der Geschichte: So verheerend die Vernachlässigung zu DDR-Zeiten war, so sind Stralsund doch die Bausünden des Westens erspart geblieben. «In der Bundesrepublik hat die eigentliche Zerstörung oft erst nach dem Krieg eingesetzt, als man keine Skrupel hatte, Parkhäuser und Tankstellen in die Innenstadt zu setzen», meint Peter Boie, der vorher in Kiel und Hannover tätig war. Die wenigen Neubauten der Stralsunder Altstadt, die aus DDR-Zeiten stammen, imitieren die historischen Giebelhäuser mit Plattenbautechnik - das hat den unbeholfenen Charme von Laubsäge-Arbeiten. «Das gab es im Westen natürlich auch», sagt Boie und verweist auf entsprechende Häuserzeilen in Lübeck. Überhaupt beobachtet er überraschende Parallelen zwischen Ost und West: Als die DDR den grossflächigen Abriss von Altstadtquartieren plante, war in der Bundesrepublik die Kahlschlagsanierung Mode. Mit dem Unterschied allerdings, dass der DDR meist das Geld für den Abriss fehlte.
Autos vor dem Strassencafé
Es ist nicht leicht, eine ausgestorbene Altstadt wiederzubeleben. Als Neuling findet man etwa in Stralsund nicht auf Anhieb ein Restaurant. Nach Geschäftsschluss könnte man meinen, die ganze Innenstadt sei eine Fussgängerzone. Dabei dient ausgerechnet der Alte Markt mit dem Rathaus als öffentlicher Parkplatz. Die westlichen Stadtplaner seien mit dem Konzept der autofreien Innenstadt damals zu früh gekommen, meint Boie, aber jetzt störe es auch die Stralsunder, wenn sie im Strassencafé sitzen und einen Parkplatz vor der Nase haben. Trotzdem bleibt das Auto ein wichtiger Faktor in der Stadtplanung. Die 60 000 Einwohner der Hansestadt lassen sich nur dann zum Einkaufsbummel in die Altstadt locken, wenn sie ihr Auto mitnehmen können. An der Stadtmauer wurden in den letzten Jahren archäologische Grabungen vorgenommen, die Klosterfunde aus dem 13. Jahrhundert zutage förderten. Wenn Dokumentation und Bergung abgeschlossen sind, wird hier eine Tiefgarage gebaut. «Darüber reden wir nicht so gern», meint Boie dazu.
Zu DDR-Zeiten hatte die Altstadt als Wohnort geringes Prestige - «wie es ja auch in Westdeutschland erst in den letzten zwanzig Jahren schick wurde, in der Altstadt zu wohnen», meint Boie. Das hat sich grundlegend geändert. Obwohl Stralsund insgesamt Einwohner verliert, gewinnt die Altstadt hinzu. Nach dem Tiefstand 1998 mit 2800 Einwohnern leben jetzt wieder 3700 Menschen in der Altstadt. Die Aufnahme in die Welterbeliste der Unesco im Sommer hat nicht nur die Touristenzahlen spürbar ansteigen lassen, sondern auch den Stolz der Stralsunder auf ihre Altstadt gefördert. Peter Boie erzählt von einer Gastwirtin, die sich in Sachen Welterbe hat schulen lassen, um mit ihren auswärtigen Gästen darüber fachkundig plaudern zu können. «Und nun geht es in vorpommerschem Tempo bergauf», meint Boie, der für die Sanierung der gesamten Altstadt mehr als die geplanten zwanzig Jahre veranschlagt.
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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