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31. März 2004 Neue Zürcher Zeitung

Die Republik in der Pflicht

Das Berliner Dokumentationszentrum Topographie des Terrors ist gefährdet

Er griff zum letzten Mittel, das übrig blieb: Reinhard Rürup, der wissenschaftliche Leiter der Stiftung Topographie des Terrors, ist, wie bereits gemeldet, von seinem Amt zurückgetreten. Nach nahezu zwei Jahrzehnten unermüdlichen Engagements und nachdem der auf dem Gebiet des Nationalsozialismus international renommierte Historiker trotz allen Rückschlägen während Jahren mit bewundernswerter Integrität an dem Neubauprojekt der Stiftung festgehalten hat. In dem vom Schweizer Architekten Peter Zumthor entworfenen Dokumentationszentrum soll dereinst über die Mechanismen des Machtapparates im «Dritten Reich» informiert werden.

Seit Ende 1999 dauert mittlerweile der Baustopp auf dem brachliegenden Gelände in Berlin- Kreuzberg, wo einst Gestapo, SS und Reichssicherheitshauptamt ihren Sitz hatten. Von den seither regelmässig aus der Verwaltung tropfenden Meldungen über einen geplanten Weiterbau nimmt kaum noch einer Kenntnis, erweisen sie sich doch ausnahmslos als jene - wie es ein ehemaliger Berliner Kultursenator einmal formulierte - «Bemühenszusagen», mit der die Politik in dieser Stadt unermüdlich, aber folgenlos die eigene Entschlossenheit demonstriert.

Rürups Rücktritt ist, wie die «Frankfurter Rundschau» anprangert, nicht nur eine «Schande für alle übrigen Beteiligten», sondern auch ein Schuss vor ihren Bug. Denn was in Berlin Bemühenszusage heisst, nennt sich auf Seiten der Bundesregierung seit längerem Absichtserklärung: Als das Erinnerungsprojekt vor drei Jahren bereits im Berliner Treibsand aus Inkompetenz und Finanznot zu versinken drohte, kündigte der Bund an, die Baukosten zur Hälfte zu übernehmen - vorausgesetzt, der Kostenrahmen von rund 39 Millionen Euro werde eingehalten. Doch liess man die Lokalpolitik in gewohnter, wenig kostensparender Weise weiterwursteln: Die unendliche Geschichte nahm ihren Fortgang mit dem Konkurs von am Bau beteiligten Firmen, Neuausschreibungen sowie Überarbeitungen durch den Architekten, dessen Entwurf sich Berlin in den Neunzigern gerne ans Revers heftete, wenn es um den Nimbus einer Stadt der Architektur ging.

Schwere Vorwürfe richtet der scheidende Direktor nun nicht zuletzt an die Adresse der Kulturabteilung im Kanzleramt unter Christina Weiss. Offenbar wollte man dort in Anbetracht der anhaltenden Unsicherheit des Bauprojektes Druck auf den Berliner Senat ausüben und kündigte die Streichung von Sondermitteln für die Erstausstattung der geplanten Einrichtung an. Man will den Berliner Schlendrian schlagen und trifft damit die Stiftung Topographie des Terrors mitten ins Herz, indem man dem nicht bestehenden Haus nun auch noch den Inhalt nimmt. Die zur Diskussion stehenden Mittel sind bereits fest eingeplant in die zukünftige Darstellung der Geschichte des nationalsozialistischen Unterdrückungsapparates. Als Beitrag zum diesjährigen Gedenken an den Widerstand des 20. Juli 1944 zogen Rürup und sein Team einen diesbezüglichen Schwerpunkt vor mit einer Schau über das Gestapo-Gefängnis, über «Terror und Widerstand 1933-1945». Sie sollte ab Mai auf dem Topographie-Gelände zu sehen sein und muss nun abgesagt werden.

Verärgert zeigt sich der für gewöhnlich sehr zurückhaltende Rürup auch deshalb, weil das Kanzleramt nicht erst das Gespräch mit der Stiftung suchte, um die akuten Folgen abzuwägen, sondern es der Berliner Kulturverwaltung überliess, die Einrichtung vor vollendete Tatsachen zu stellen. Ein wahrlich berlinischer und jedenfalls unwürdiger Umgangston gegenüber einer Institution, die einen international hoch angesehenen Beitrag zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen leistet. Die Bundesregierung will mit ihrem Vorstoss die Hauptstadt an ihre Hausaufgaben erinnern und versetzt der Topographie des Terrors womöglich den Todesstoss. Die Einrichtung steht schon länger auf der Kippe. Mit dem Abgang von Reinhard Rürup, mit dessen Person das Projekt aufs Engste verknüpft ist, erscheint die Vollendung des Ausstellungszentrums unsicherer denn je.

Der Bund hat sich mit Vehemenz zwei Grossprojekte der Erinnerungskultur zur eigenen Angelegenheit gemacht: das zentrale Holocaust-Mahnmal und das Jüdische Museum - repräsentative Einrichtungen mit hohem Symbolwert das eine wie das andere. Umso stärker tritt die Halbherzigkeit zutage, mit der sich die Politik der Topographie des Terrors zuwendet. Für einmal geht es nicht darum, wohlwollend Gesinnung kundzutun. Es geht darum, Verantwortlichkeit in die Tat umzusetzen. Das Gelände Topographie des Terrors ist ein historischer Ort des Schreckens inmitten der deutschen Hauptstadt. Die Stiftung hat die Aufgabe, über die Systematik des nationalsozialistischen Unrechtsstaates, über die Strukturen der Täter aufzuklären. Das ist keine berlinische Angelegenheit, sondern eine der Berliner Republik.

20. November 2003 Neue Zürcher Zeitung

Eine glänzende Botschaft an Berlin

Der Neubau der niederländischen Vertretung und eine Ausstellung von Rem Koolhaas

Vor wenigen Tagen wurde Rem Koolhaas' bereits viel diskutierter Neubau der niederländischen Botschaft in Berlin vollendet. Aus diesem Anlass zeigt die Berliner Neue Nationalgalerie eine Ausstellung, der es leider nicht gelingt, das Werk von Koolhaas und dessen Office for Metropolitan Architecture (OMA) verständlich zu machen.

Die Niederländer haben in Berlin nahe am Wasser gebaut. Ihr neues Botschaftsgebäude von Rem Koolhaas liegt an der Spree fast wie an einer Amsterdamer Gracht. Damit lässt sich die Botschaft abseits des traditionellen Diplomatenviertels im Berliner Tiergarten nieder - weit weg vom Trubel um den Reichstag. An der Klosterstrasse hat das Gastland einen malerischen Standort aufgespürt in einer fast holländisch anmutenden Stadtlandschaft am Wasser.

Jenseits vom Blockrand

Für Koolhaas, der mit seinem Rotterdamer Office for Metropolitan Architecture (OMA) 1997 den Wettbewerb für die Botschaft in Berlin gewann, stellt der noch vor seiner feierlichen Eröffnung im kommenden Frühjahr viel beachtete Bau eine Genugtuung dar. Der Vordenker der internationalen Architekturszene hatte die Stadt Anfang der neunziger Jahre im Zorn verlassen, nachdem sich abgezeichnet hatte, dass der Ideenwettbewerb für den Masterplan des neuen Potsdamer Platzes - Koolhaas sass damals in der Wettbewerbsjury - zugunsten des traditionellen Berliner Strickmusters mit Blockrandbebauung und Steinfassaden ausgehen würde. Daran erinnert die niederländische Botschaft an der Klosterstrasse, die sich ausnimmt als persönliche Botschaft des Stararchitekten an diese Stadt. Sie besagt, dass zeitgemässes Bauen nicht «kritische Rekonstruktion» sein muss und dass es auch ohne Steinfassaden geht.

Koolhaas hat seine Message diskret verpackt, wie es sich für ein Haus der Diplomatie ziemt: Er stellte einen gläsernen Würfel ans Spreeufer und umrahmte ihn stadtseitig mit einem zweiten, L-förmigen Trakt, der Gästeappartements und Infrastruktur aufnimmt, mit seiner schlanken Form und gelochten Metallfassade dabei leicht wie ein Vorhang wirkt. Der Architekt entbindet das Hauptgebäude von seiner Pflicht zur Berliner Blockrandstruktur, indem sich der zweite Bau zur Nachbarschaft hin rechtwinklig stellt. Mit diesem Kunstgriff verhilft er der lokalen «Gestaltungssatzung» zu ihrem Recht und befreit sich gleichzeitig elegant von ihr: Die Botschaft selbst ist ein Solitär und hebt sich klar von der Umgebung ab. Die Architektur schafft ihren eigenen Kontext, gibt sich als exterritoriales Gelände zu erkennen und demonstriert nach aussen Geschlossenheit.

Das Ensemble der beiden durch Brücken verbundenen Bauten und das dazwischenliegende Gelände bilden ähnlich wie die skandinavischen Botschaften in Berlin eine ebenso heterogene wie harmonische Stadtlandschaft en miniature, die trotz begrenzten Platzverhältnissen im Hof und zum Flussufer hin erstaunlich viel Freifläche entfaltet, wenngleich Asphalt und verwilderte Grünfläche derzeit noch keine Augenweide abgeben. Ein Durchgang zwischen Haupt- und Nebengebäude erlaubt es hohen Gästen, direkt vor dem Eingang im Hof vorzufahren, und Passanten, wie selbstverständlich übers Botschaftsgelände zu schlendern. Die niederländische Vertretung öffnet sich den Berlinern wie keine andere an der Spree.

Die Stadt im Haus

Die Durchfahrt zwischen den beiden Gebäuden zieht gewissermassen die Strasse über den Hof bis direkt zum Eingangsbereich des Hauses. Im Gebäudeinnern setzt sie sich als Gang fort, der sich vom Foyer bis aufs Dach schlängelt. Dieser inszeniert als Lebensader der Botschaft eine Art Strassenleben: Räume, Menschen, Innen- und Aussenwelt, Aussichten und Einblicke, alles ist über die eine, zweihundert Meter lange Binnenstrasse miteinander verbunden. Man passiert Treppen und Rampen, tritt durch die Aussenhaut hindurch auf eine gläserne Gangway und geniesst mehr oder weniger den schwindelerregenden Blick durch grünen Glasboden auf die Strasse darunter. Es gibt keine Etagen mehr, sondern unzählige Ebenen, die miteinander funktional in Bezug treten. Die Räume zeigen sich kühl und zurückhaltend in Sichtbeton, Aluminium, Glas und Holzfurnier. Die Ausführung hat, diplomatisch gesagt, etwas von rohem Realismus.

Der niederländische Botschafter wird zukünftig in einer aus der Fassade hervorschiessenden Skybox Sitzungen abhalten oder Diners geben - atemraubender Ausblick auf die Stadt inklusive. Hier ist kein Gegensatz von Architektur und Stadt mehr, man flaniert und sieht plötzlich durch einen Fassadeneinschnitt des zweiten Botschaftsgebäudes hindurch: Je nach Blickwinkel rückt die silberne Kugel des Fernsehturms am Alexanderplatz ins Bild oder der Turm des Stadthauses. Der beschauliche Spaziergang endet hoch oben in der Kantine, die sich durch Öffnen des Dachs in ein lauschiges Atrium verwandeln lässt und mit der Dachterrasse einen Ort für Empfänge gibt, wie ihn sich ein Botschafter wohl nur wünschen kann.

Koolhaas hat einen Schauplatz der diplomatischen Vermittlung geschaffen, wie er im Bilderbuch steht, voller Überraschungen, mit grossen Gesten und kleinen Rückziehern, mit einem Gefühl für den Rhythmus zwischen wagemutigem Antrag und Zurückhaltung. Es ist überdies eine Liebeserklärung an Berlin, ein Plädoyer dafür, mit den historischen Brüchen dieser Stadt zu leben und ihr nicht falsche Nostalgie ins Gesicht zu schminken. Diese Botschaft kommt zur rechten Zeit, da sich seit dem endgültigen Beschluss für den Abriss des Palastes der Republik in den lokalen Medien über den Wiederaufbau des Berliner Schlosses hinaus eine Rekonstruktionswut aufbläht, die an jedem freien Plätzchen in Berlins Mitte ein untergegangenes Kutscherhaus aufspürt. Es bleibt zu hoffen, dass die vor wenigen Tagen erfolgte Verleihung des Berliner Architekturpreises an Koolhaas und das Aussenministerium der Niederlande für ihr Botschaftsgebäude nicht nur ein Lippenbekenntnis ist, sondern eine konkrete Zusammenarbeit mit dem Architekten für die Zukunft mit sich bringt. Ein Preis ging übrigens auch an die Schweizer Botschaft in Berlin der Basler Architekten Diener & Diener.

Problematische Koolhaas-Ausstellung

Die Fertigstellung der niederländischen Vertretung gibt Koolhaas Gelegenheit, in der Berliner Neuen Nationalgalerie die Show «Content - Rem Koolhaas. OMA/AMO. Bauten, Projekte und Konzepte seit 1996» zu präsentieren. Man kann das kreative Wirrwarr dieser Multimedia-Installation eigentlich nur Anhängern des Beschleunigungstheoretikers empfehlen. Gegen die Koolhaas'sche Erkenntnis, dass die Architektur dem Lauf der globalen Gesellschaft hoffnungslos hinterherhinkt, scheinen hier Modelle, Entwürfe, T-Shirt-Shop, Kommentare zu Politik und Gesellschaft in einem gewaltigen Überholmanöver anzusetzen. Man hört buchstäblich Mies van der Rohe ein väterliches «Less is more» flüstern.

«Content» illustriert die Grenzen einer derartigen Präsentation von Architektur, nicht nur dort, wo die Schau die Entwürfe kaum in Raum und Zeit stellt und offen lässt, was tatsächlich gebaut worden ist. Der Zwiespalt, den die Ausstellung von Architektur als frei im Raum schwebender Kunst birgt, tritt spätestens dann zutage, wenn auf die plakative Kritik an der westlichen Irak- Politik gleich um die Ecke stolz das derzeit ehrgeizigste Projekt von Koolhaas folgt: Das Modell eines oben zusammengewachsenen Zwillingshochhauses für Peking ist effektvoll beleuchtet, und seine schwierige statische Ausbalancierung wird vielfältig belegt. Aber nirgends wird ausgeführt, dass das Architekturspektakel für das chinesische Staatsfernsehen entsteht im Auftrag eines Unterdrückungssystems, das dort später seine mediale Wirklichkeit konstruieren wird. Vielleicht klärt der Katalog über die Einbettung der Architektur in solch globale Zusammenhänge auf. Der aber erscheint erst in einigen Wochen, wie uns der Mitarbeiter des Meisters vertröstet. Dann werde es übrigens «noch einmal eine ganz grosse Präsentation» geben. Wer nun an PR und Shopping denkt, hat zu viel Koolhaas gelesen.

Draussen in der angebrochenen Winternacht leuchtet derweil der zauberhafte Glaskasten des Botschaftsgebäudes in Weiss, Gelb, Orange am Ufer der Spree und richtet seinen Blick ins Berliner 21. Jahrhundert. Rem Koolhaas widerlegt in Berlin gerade seine eigene These von der Überlegenheit des geistigen Konstrukts gegenüber der Realität. Noch ist sein neues Haus schneller, als Berlin träumt.

[Die Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie in Berlin dauert bis zum 18. Januar 2004. Ein Katalog ist angekündigt.]

26. September 2003 Neue Zürcher Zeitung

Ganz glücklich über den „zweiten Schinkel“

Der Architekt Ludwig Persius in Potsdam

Leicht erhöht über Potsdam liegt das Schloss Babelsberg, umgeben von einem malerischen Park. Ein Bauwerk nach der Mode seiner Zeit im neugotischen Stil mit zinnenbewehrten Türmen. Begonnen hat es 1833 Karl Friedrich Schinkel. Weniger bekannt ist, dass sein begabtester Schüler und Nachfolger, Ludwig Persius, den Bau in einer zweiten Entstehungsphase im Wesentlichen erweiterte und 1849 vollendete. An dem pittoresken Ort ist derzeit die Schau «Ludwig Persius. Architekt des Königs» zu sehen, welche die Stiftung Preussische Schlösser und Gärten Berlin- Brandenburg dem Architekten (1803-1845) aus Anlass seines 200. Geburtstags widmet.

Schloss Babelsberg wird oft Schinkel zugeschrieben und illustriert das Schattendasein, das Persius in der Rezeptionsgeschichte neben dem grossen Architekten Preussens bis heute führt. Es ist das Verdienst der gegenwärtigen Präsentation, das Werk von Persius in ein neues Licht zu rücken und gleichzeitig Schinkels Bedeutung als überragender Künstler gelten zu lassen. In den Zeichnungen und Entwürfen von Persius offenbart sich ein künstlerisches Talent, das Schinkels Lehre hochhielt. Gleichwohl überführte Persius dessen idealisierende Symmetrie in eine funktionale, kubisch verschachtelte Bauweise, die manchmal wie eine leise Vorahnung der späteren Bauhaus-Bewegung aufleuchtet. So bei der Orangerie in Bad Muskau (1844), einer der wenigen ausserhalb Potsdams realisierten Persius-Bauten, die nach Wunsch von Fürst Hermann Pückler- Muskau orientalische Anklänge aufweisen sollte. Persius fand eine bestechend moderate Lösung, die in Abstrahierung der formalen Aufgabe mit leichten Tudorbögen, schlohweissem Fassadenanstrich und nur angedeuteten Zinnen wie ein Vorläufer der frühen Industriearchitektur des 20. Jahrhunderts erscheint. Der Bauherr, selbst ein leidenschaftlicher Gartenkünstler, zeigte sich «ganz glücklich, endlich einen zweiten Schinkel gefunden zu haben».


Der Architekt des Königs

Persius' Werk ist von Kontinuität geprägt. Es weist ihn als direkten Nachfahren Schinkels und als frühen Vertreter der Schinkel-Schule aus, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter dem Einfluss des Historismus auflöste. Die Zusammenschau der Bildwelten von Lehrer und Schüler beleuchtet, wie erst die Synergie der beiden unterschiedlichen Temperamente - unterstützt vom Gartenarchitekten Peter Joseph Lenné und befördert von Wilhelm IV. - die Potsdamer Schlösser- und Gartenlandschaft zu jenem einzigartigen Gesamtkunstwerk erweckte, als das sie sich bis heute zeigt. Während Schinkel in Babelsberg nach einem ersten königlichen Auftrag eine bescheidene Sommerresidenz im Cottagestil entworfen hatte, wünschte sich der neue Machthaber Friedrich Wilhelm IV. nach Schinkels Tod von Persius eine Erweiterung, die den Anforderungen grösserer Gesellschaftsanlässe entsprach. Persius brach - im Bewusstsein des «genialen Entwurfes» seines Meisters, mit dessen Bauausführung er zuvor schon beauftragt war - die zwischen Pfeiler gespannten Wandflächen asymmetrisch auf. Er schraubte runde und oktogonale Türme in den Himmel, legte Erker und Terrassen an, entwarf ein zeichenhaftes Märchenschloss im Burgenstil.

Anhand von 120 originalen Zeichnungen, Entwürfen, Plänen und Fassadenansichten sowie Fotografien, Modellen, Bauplastiken und einem Werkverzeichnis im umsichtig edierten Katalog erfährt das architektonische Lebenswerk von Persius hier eine umfassende kritische Würdigung. Diese hält sich in einer ersten werkgeschichtlichen Aufarbeitung rigoros an den engen zeitlichen und räumlichen Horizont von Leben und Werk des Potsdamer Architekten. Eine Aufarbeitung im internationalen Kontext wäre wünschbar, um den provinziellen Eindruck, den eine solche Engführung zwangsläufig mit sich bringt, aufzubrechen. Im Rahmen der gegenwärtigen Forschung stehen weitere Publikationen an, die dieses falsche Bild allerdings entkräften dürften.

Eine «Galerie der verschollenen Zeichnungen» erinnert mit fünfzig Reproduktionen an den 1945 verlorenen Nachlass von Persius, der mit über 650 Originalblättern einst das Œuvre dokumentierte: das rege Schaffen eines im Alter von 42 Jahren viel zu früh Verstorbenen. «Schinkels Meisterschüler» und erster «Baukondukteur» war mit der Bauausführung des Prinzenschlosses, des Gärtnerwohnhauses und der Römischen Bäder bei Charlottenhof in Sanssouci sowie des Glienicker Schlosses betraut. Persius vollendete mit der Überarbeitung der Kuppel zudem Schinkels Nikolaikirche. Zu den Höhepunkten seines Werks zählen die Heilandskirche in Sacrow (1844), die Potsdamer Friedenskirche (1848), das 1843 in der Art einer Moschee errichtete Dampfmaschinenhaus von Sanssouci und das etwa zur gleichen Zeit entworfene Belvedere auf dem Pfingstberg.

Nach Schinkels Tod wurde Persius von Wilhelm IV. bald zum «Architekten des Königs» berufen. Die letzten vier Jahre seines Lebens zeichnete er für den Ausbau von Potsdam verantwortlich in enger Zusammenarbeit mit dem königlichen Auftraggeber, dessen Launenhaftigkeit in «Ordre, Contreordre, Disordre» dem Baumeister ein Abwägen von diplomatischem Geschick und unbeirrter Sicherheit in der Sache abforderte. Persius' Schaffen stand in der Folge unter den Leitgedanken des «Romantikers auf dem Thron», dem die Architektur mehr zusagte als die Politik: Sein Bestreben lag in der Vollendung des Gesamtwerks Sanssouci, in der Verschönerung der Silhouette von Potsdam und im Kirchenbau.


Italiensehnsucht

Zu den reizvollsten Schöpfungen von Persius zählen seine Turmvillen im Stil der norditalienischen Renaissance. Sie erlangten, von Schinkels Sehnsucht nach Italien berührt, in eigentümlicher Kombination aus funktionaler Einfachheit und gestalterischer Plastizität Vorbildcharakter. Obwohl Persius Italien nie zuvor gesehen hatte, beherrschte er den Landhausstil der Fabbrica, eines von Wirtschaftsgebäuden und Anbauten umgebenen Anwesens, und entwickelte ihn weiter: Die für ihn typische «allseitig ausgebildete Baugestalt» wurde vielfach nachgeahmt, was manche Strassenzüge Potsdams bis heute prägt und die «Potsdamer Turmvilla» zur bürgerlichen Spielart des königlichen Entwurfs eines preussischen Arkadien werden liess.

Der Rundgang durch das von Persius gebaute, erst teilweise sanierte Schloss Babelsberg mit seinen überraschenden Ausblicken auf das Gebäude selbst und auf die umliegende Landschaft zeugt vom unbedingten Willen zur Inszenierung, von der angestrebten Harmonie zwischen Architektur und Natur, die sich zum Gesamtkunstwerk fügen sollten. Am Ende bringt die Architektur selbst den Künstler zum Leuchten. Der Achteckturm, der mit einem pompös inszenierten, zweigeschossigen Tanzsaal das Herzstück des Schlosses bildet, stellt den Höhepunkt der Babelsberger Schau dar und illustriert den schweren Stand einer theoretischen Präsentation von Architektur im Anblick des originalen Bauwerks. Persius hat die Fertigstellung des Saales nach seinen Plänen nicht mehr erlebt; das Prunkstück wurde vom Schinkel-Schüler Johann Heinrich Strack vollendet.

Die Sehnsucht nach Italien, das Streben nach einer idealen Wirklichkeit liessen Persius keine Ruhe. Im Oktober 1844 erbat er sich von seinem König Urlaub. Es war seine erste Studienreise. Im Tagebuch notiert er des Königs Auftrag, Bauwerke von Genua bis Neapel zu besichtigen. Die «Reise-Ordres für Italien Seiner Majestät» muten im Nachhinein so fürsorglich wie makaber an: «Recht sauber leben, keinen italienischen Wein trinken.» Persius kehrte im Mai 1845 von seiner viermonatigen Reise zurück, erkrankte an Typhus und starb wenige Wochen später. Der König berief keinen Nachfolger mehr für den Potsdamer Hofarchitekten, der ihm von seiner Reise schrieb: «Ein hohes Meer bei heiterstem Sonnenschein, milde Frühlingslust im Frostmonat, eine solche Stadt und eine grossartige Scenerie der Gegend mussten einen so unerhörten Eindruck auf einen Potsdamer machen, dass Ew. Majestät gnädigst verzeihen wollen, wenn ich selbst hier auf diesem Blatte noch taumele.»


Bis 19. Oktober im Schloss Babelsberg in Potsdam. Begleitpublikation: Ludwig Persius. Architekt des Königs. Hrsg. Stiftung Preussische Schlösser und Gärten. Verlag Schnell & Steiner, Regensburg 2003. Abb., 275 S., 29 Euro. - Der Architekturführer «Ludwig Persius» (130 S.) kostet 12 Euro.

20. September 2003 Neue Zürcher Zeitung

Im Bauch des Architekten

Eine Libeskind-Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin

Das Jüdische Museum in Berlin empfängt mit stürzenden Linien und kippenden Wänden. Auch nach wiederholtem Besuch nimmt die Architektur einen gefangen, noch bevor man die Ausstellungsräume betritt. Bald werden es eineinhalb Millionen Menschen sein, die seit der Eröffnung vor zwei Jahren die Institution besucht haben. Mindestens die Hälfte von ihnen kommt laut Direktor Michael Blumenthal wegen der Architektur von Daniel Libeskind. Grund genug, dem Hausarchitekten zum zweijährigen Bestehen des Museums eine in Zusammenarbeit mit der Londoner Barbican Gallery erarbeitete Ausstellung zu widmen. Wo der Markenname Libeskind als Vehikel dient, um den eigenen Erfolg zu befördern, kennt die Vermarktung keine Grenzen. Schon beim Eingang wirbt das im Museum beheimatete Restaurant mit einem «Libeskind Special», jüdischen und internationalen Spezialitäten inklusive «Space-Cocktail».

Spacig gibt sich auch die Sonderausstellung «Kontrapunkt: Die Architektur von Daniel Libeskind», die mit kreuz und quer durch die Räume gezogenen Leinwänden etwas angestrengt den Geist des Konstruktivismus atmet. Die Schau stellt weniger eine kritische Würdigung von Libeskinds Schaffen dar als vielmehr eine One- Man-Show entlang von vierzehn Projekten, unterlegt mit Zitaten des Meisters. Dabei gelingt eine assoziative Annäherung an den ausgebildeten Musiker und Architekten, der mit seinem multidisziplinären Ansatz neue Wege in der Architektur beschritten hat und die Fragen der Baukunst und Stadtplanung als gesellschaftlichen Diskurs versteht.

Anhand von Modellen, Plänen, Zeichnungen, Fotografien und Multimedia-Installationen wird der Werdegang eines Stararchitekten nachvollziehbar, dessen Bauten eine Ausdruckskraft besitzen, der man sich nur schwer entziehen kann: Libeskind, der zuerst als Theoretiker und Visionär Aufsehen erregte, baute seine ersten Modelle wie Kunstwerke, abstrahiert, skulpturhaft und für den Laien kaum lesbar. Die frühen grafischen Arbeiten, «Micromegas» und «Chamberworks» (1979/ 83), loten den Raum in zeichnerischer Mathematik und musikalischer Intuition aus. Der Entwurf scheint bei Libeskind seinen Weg über die Abstraktion ins Skulpturale zu finden.

Der 1946 in Polen geborene Libeskind ist auch in Israel und den USA aufgewachsen, wo er die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen hat. Von den vierzehn vorgestellten Projekten, die in den letzten zehn Jahren entstanden sind, sind vier realisiert: Das Felix-Nussbaum-Haus in Osnabrück (1998), das Berliner Jüdische Museum (1999), das Imperial War Museum North in Manchester (2001) und das Studio Barbara Weil in Mallorca (2003). Die Schau präsentiert die Modelle ohne Vitrine. Das ermöglicht eine ansprechende sinnliche Annäherung vor allem bei den noch in der Planungsphase befindlichen Projekten wie der transparenten Bremer Konzerthalle «Musicon» und beim spiralartigen Erweiterungsbau des Londoner Victoria and Albert Museum.

Libeskinds nicht realisierte Berliner Entwürfe für den Potsdamer Platz (1991) und den Alexanderplatz (1993) erscheinen im Rückblick als stimmungsvolle Reminiszenz an die hochfliegenden Metropolenpläne, die sich die wiedervereinigte Stadt nach der deutschen Wende erträumte. Der unlängst erfolgte Umzug des Architekten von Berlin nach New York erstaunt in diesem Zusammenhang nicht. Die Stadt an der Spree mit ihrer Liebe zu Traufhöhe und Blockrandbebauung musste dem Visionär irgendwann zu eng werden. Allerdings erscheint auch die innere Entwicklung von Libeskinds Schaffen auf den Schlusspunkt der Schau, auf das aktuelle Projekt für das World- Trade-Center-Gelände in New York, zuzusteuern. Im Laufe des Parcours wirkt das bedeutungsvolle Projekt wie eine logische Folge der vorangegangenen. Libeskind, für den der Bau des Jüdischen Museums Berlin den internationalen Durchbruch bedeutete, kann Wettbewerbe nicht zuletzt dann für sich entscheiden, wenn der Architektur eine hohe Symbolfunktion zukommt: sei es als Ikonen der Erinnerung wie beim Jüdischen Museum und bei den Plänen für Ground Zero oder als Zeichen der Mahnung beim Imperial War Museum North oder beim Umbau des Militärmuseums Dresden. Es sei der Fehler der Stadtplaner, zu denken, dass der Berliner Alexanderplatz in fünfzig Jahren vollkommen sein könnte, schreibt der Architekt. Hier mag ein Grund für seinen Erfolg liegen. Seine Bauten pflegen keine verträumte Vorstellung von der Vergangenheit. Sie halten die Spannungen der Gegenwart aus.


[ Bis 14. Dezember im Jüdischen Museum in Berlin. Eine erweiterte Version der Ausstellung wird vom 16. September 2004 bis zum 23. Dezember 2004 in der Barbican Gallery in London zu sehen sein. Die Begleitbroschüre kostet 1 Euro. ]

8. August 2003 Neue Zürcher Zeitung

Berliner Bauamtsschimmel

Akademie der Künste beklagt Schäden am Rohbau ihres zukünftigen Hauses

Erst vor kurzem gab der neue Präsident der Akademie der Künste in Berlin, Adolf Muschg, seiner Hoffnung Ausdruck, dass sich beim Neubau der Institution am Pariser Platz doch noch alles zu einem glücklichen Ende füge und das Haus in vorgesehener Frist fertiggestellt werde (NZZ 12. 7. 03). Nun hat ihn schon der berühmt- berüchtigte hauptstädtische Schlendrian eingeholt. Nachdem die Bauarbeiten bereits seit Monaten aufgrund der typischen Berliner Mischung aus Finanznöten und Inkompetenz stagniert hatten, wurde nun im Tiefgeschoss ein «massiver Befall der Wände mit Schimmelpilz» entdeckt, wie es in einer Pressemitteilung der Akademie heisst. Diese sieht folglich den Sinn ihres Neubaus in Frage gestellt, da in den metertiefen Untergeschossen ihre wertvollen Archivbestände untergebracht werden sollten. Damit kommt ein Missstand ans Licht, der seinen Anfang nahm, als das Land Berlin einen Teil des Grundstücks am historischen Standort der Akademie am Pariser Platz dem benachbarten Hotel Adlon verkaufte und die Akademie zwang, die Archivräume in den Berliner Untergrund zu verlegen. Die Hiobsbotschaft kommt zu einer Zeit, da man sich in Berlin durch die angekündigte Übernahme der Institution durch den Bund per Anfang nächsten Jahres der Querelen enthoben glaubte. Eine Bauruine aber wird sich dieser kaum andrehen lassen.

Was derzeit an gegenseitigen Beschuldigungen von Baufirma und Berliner Bauverwaltung nach aussen dringt, verheisst nichts Gutes. Es erinnert an Fehlkalkulationen und Missmanagement beim Neubau von Peter Zumthor für die Gedenkstätte «Topographie des Terrors», einem neben Günter Behnischs Akademiegebäude weiteren architektonischen Renommierprojekt Berlins der Nachwendezeit, für das schon länger ein Baustopp gilt. Der gläserne Entwurf von Günter Behnisch am Pariser Platz hatte anfänglich mit heftigem Widerstand bei den zahlreichen offiziellen Vertretern des steinernen Berlin zu kämpfen, wie auch das ehrgeizige Projekt Zumthors für die Gedenkstätte am Ort der ehemaligen Zentrale der Gestapo so manchem ein Dorn im Auge ist. Die Berliner «taz» forderte deshalb den Rücktritt der Verantwortlichen in der Bauverwaltung, die dazu tendierten, ungeliebte Projekte zu verschleppen, oder besser gesagt: verschimmeln zu lassen.

28. Juli 2003 Neue Zürcher Zeitung

Modellstadt mit Inselgefühl und Uhrturmschatten

Graz schenkt sich zum Kulturhauptstadtjahr viel neue Architektur

Die steirische Metropole Graz geniesst den Ruf einer Stadt der Architektur. Im Kulturhauptstadtjahr sind einige neue Projekte zu verzeichnen. Peter Cook und Colin Fournier, Florian Riegler und Roger Riewe oder Vito Acconci wagen - organische wie minimalistische - Brüche im Grazer Kontext. Dieser ist allgemein geprägt vom Dialog einer dekonstruktivistischen Moderne mit dem denkmalgeschützten Altbestand.

«Durch und durch eine unerträgliche Stadt, wunderschön», schreibt der Schriftsteller Franz Schuh über Graz. So viel Graz wie heuer war nie. In den Spätnachrichten des österreichischen Fernsehens meldet sich zur Halbzeit von Graz 03 der «überglückliche» Grazer Bürgermeister zu Wort, der das Kulturhauptstadtdasein unbedingt weiterempfehlen kann. Über fünftausend Presseartikel rund um die Welt, so hat man gezählt, berichteten in den letzten Monaten über die steirische Landeshauptstadt. Graz hat keinen Aufwand gescheut, um sich unter anderem mit neuer Architektur im Zentrum und mit künstlerischen Interventionen selbst an den Ankunftsorten wie Flughafen, Bahnhof und Autobahnen herauszuputzen. So viel Kulturhauptstadt war nie.
Hundert Prozent Stadt?

Graz sei «fast weltauffällig» geworden, bemerkte der Intendant Wolfgang Lorenz. Manchem ist das fast schon zu viel, wie sich im Grazer Haus der Architektur (HdA) zeigt, als bei einer Podiumsdiskussion zur Stadtentwicklung ein Besucher mit dem selbst beschrifteten T-Shirt «Graz 2004» akute Erschöpfung zur Halbzeit demonstriert. Da unterscheidet er sich nicht von den vielen anderen Grazern, denen es bei aller Liebe schon vor längerem zu hektisch wurde im Städtchen. Sie zogen ins Einfamilienhaus in die Grazer Umgebung, offiziell «GU» genannt. Wer erst einmal ein Auto mit GU-Schild fährt, setzt sich dem urbanen Gefühl nur noch bei Bedarf aus.

Graz war seit je eine Modellstadt. Jene mit einer glanzvollen Vergangenheit als Habsburger- Residenz, die Friedrich III. mit Stadtburg, Hofkirche und Dom zum Zentrum des Deutschen Reiches ausbaute. Den Prachtbauten des Barock und der Renaissance verdankt sich eines der grössten und berühmtesten intakten Altstadtensembles im deutschsprachigen Raum, dessen denkmalgeschützte verschachtelte Dächerlandschaft schon beim Anflug auf die Stadt ein Gefühl von idyllischem Nachhausekommen vermittelt. Es mag deshalb erstaunen, dass Graz nun ein «Musterbeispiel einer modernen europäischen Stadt» mit den sich daraus ergebenden Problemen sein soll, wie der Grazer Architekt Harald Saiko erklärt. Er hat gemeinsam mit dem Schweizer Ernst Hubeli und dem Berliner Kai Vöckler eine Ausstellung im HdA über die Identität der europäischen Stadt konzipiert. Die Schau «Grazland - 100% Stadt», Schwerpunkt der HdA-Programmreihe «Europe.cc - Changing Cities», illustriert das «mitteleuropäische Phänomen» der Suburbanisierung. Die anhaltende Zersiedelung macht die europäische Stadt mit ihren aus dem Mittelalter geerbten Strukturen zum Auslaufmodell und führt in der Folge zu einer Verstädterung der Agglomeration. Wobei Forschungsmethoden und Entwurfsstrategien, mit denen Stadtentwicklung analysiert und gestaltet werden können, der sich rasant verändernden Wirklichkeit hinterherhinken. Der in der Schau präsentierte Film «Grazland» zeigt ausserhalb des berühmten historischen Grazer Zentrums eine prototypisch disparat ins Umland wuchernde Stadtagglomeration. Wenn nun ausgerechnet das beschauliche Graz die typischen Merkmale auf Grund der Abwanderung zu beklagen hat, belegt dies höchstens, dass es sich nicht ausschliesslich um ein Problem der Metropolen handelt.

Die Veranstaltung im Haus der Architektur, die nicht Bestandteil des offiziellen Graz-03-Programms ist, passt gut ins aufgeregte Umfeld der Kulturhauptstadt, weil sie auf die Kehrseite der Medaille aufmerksam macht. Die europäische Stadt von heute muss in eigener Sache werben, dabei läuft sie Gefahr, zur Kulisse ihrer selbst und zum touristischen Vergnügungsviertel zu werden. Indirekt stellt sich hier die Frage, inwieweit Kulturhauptstadtprojekte geeignet sind, eine positive Veränderung des Stadtraumes zu bewirken. Gerade Graz prägt seit je ein Hang zur Selbstdarstellung. Was nicht zuletzt als ein Resultat des Daseins «hinter dem Semmering» im Allgemeinen und seiner Randlage während der Teilung Europas im Kalten Krieg im Besonderen erscheint. So bietet sich Graz wahlweise an als ruhiges Rentnerparadies «Pensionopolis» oder als lebendige Studentenstadt, als Stadt der Kultur oder der weiblichen Grazien. Die literarische und später architektonische Avantgarde mit ihrer Bewegung, sich von historischen Vorbildern und kultureller Tradition abzusetzen, rieb sich gern am traditionellen bis reaktionären Grazer Klima. Den Kulturkampf hat man sich in Graz im Image einer Stadt der Gegensätze anverwandelt und im Übrigen gelernt, mit Kritik umzugehen.

Dass Graz als Kulturhauptstadt eine besondere Auffälligkeit zeigt, verdankt sich auch dem besonderen Talent der Selbstinszenierung. Souverän hat man die Gratwanderung, die das Grossprojekt «Kulturhauptstadt Europas» zwischen Seriosität und Populismus bedeutet, gemeistert. Man hat auf Folklore verzichtet und den Schwerpunkt auf nachhaltige Projekte in der Architektur gelegt. Bemerkenswertes ist dabei herausgekommen, zum Beispiel eine Insel in der Mur und ein voraussichtlich im Herbst zu eröffnendes Kunsthaus.

Wie immer gibt es zwar die Schneekugeln mit dem Uhrturm en miniature zu kaufen. Aber selbst beim Souvenir geht in diesem Jahr nichts ohne den schwarzen Doppelgänger, den der Künstler Markus Wilfling dem Grazer Wahrzeichen auf dem Schlossberg zur Seite gestellt hat. Und man staunt darüber, dass die Grazer dem Vernehmen nach den erst mit Misstrauen beäugten Uhrturmschatten gerne für immer behalten würden. Dabei drängt sich beim schwarzen Spiegelbild des hoch über der Altstadt schwebenden Wahrzeichens durchaus die Assoziation an dunklere Zeiten auf, in denen die Stadt sich während des Nationalsozialismus als eine der ersten als «judenfrei» hervortat und dafür gerne den Titel einer «Stadt der Volkserhebung» trug.
Schatten der Vergangenheit

So ist vielleicht das wichtigste Projekt im Rahmen der Kulturhauptstadt eines, von dem man derzeit gar nicht spricht - vielleicht weil es schon vor drei Jahren verwirklicht wurde oder möglicherweise weil der Schatten, den es wirft, doch etwas den Kulturhauptstadtglanz beeinträchtigen könnte. Im Hinblick auf Graz 03 sahen manche politisch Verantwortlichen die Chance, dass Graz sich endlich auch den dunklen Seiten der eigenen Vergangenheit stelle, mit deren Aufarbeitung es sich bisher nicht gerade hervorgetan hatte. Auf gemeinsame Initiative des damaligen Bürgermeisters Alfred Stingl und des Kulturstadtrates Helmut Strobl beschloss der Gemeinderat 1998 einstimmig den Neubau der Grazer Synagoge an jenem Ort, an dem die alte am 9. November 1938 zerstört worden war.

Der neue Bau wurde der Israelitischen Kultusgemeinde am 9. November 2000 als ein offizielles Zeichen gegen das «Vergessen und Verdrängen» übergeben. Das Grazer Architektenpaar Jörg und Ingrid Mayr erarbeitete einen behutsamen Entwurf. Er nimmt die geometrische Ausrichtung auf, wie sie den historischen Bau (1892) des Wiener Architekten Maximilian Katschner in Würfel und Kugel prägte als eine Anlehnung an Sempers berühmte Dresdner Synagoge. Die alten Ziegel, die von den Nationalsozialisten im Garagenbau weiter verwendet worden waren, wurden von Grazer Schülern gereinigt und dienten der Vervollständigung des erhaltenen historischen Fundaments sowie dem ansatzweisen Wiederaufbau der alten Türme, die dem etwas kleineren Neubau vorangestellt sind. So scheint sich der neue Bau aus den Ruinen des alten zu erheben. Ohne die Verpflichtung zur Rückbesinnung, die der Status einer europäischen Kulturhauptstadt mit sich gebracht hat, hätte man wohl noch lange vergeblich auf ein Zeichen gewartet dafür, dass Graz Verantwortung übernimmt für die Ereignisse der Vergangenheit. Zu den seltsamen Begebenheiten einer Kulturhauptstadt mag es gehören, dass die Stadt der Israelitischen Kultusgemeinde zwar den Neubau schenkte, diese die nötigen Sicherheitsvorkehrungen - in Deutschland wäre dies undenkbar - aber grösstenteils selbst tragen muss.
«Friendly Alien»

Der Standort der Synagoge am rechten Mur- Ufer wird nun durch die neuen Projekte Kunsthaus und Mur-Insel belebt und gestärkt. Alle drei dienen städtebaulich der Aufwertung des Flussbereichs sowie des rechts vom Fluss gelegenen Stadtteils, der als ehemaliges Arbeiterviertel jenseits der berühmten historischen Vorzeige-Altstadt bis heute ein Schattendasein fristet. Das noch im Bau befindliche Ausstellungshaus der Architekten Peter Cook und Colin Fournier erscheint im Grazer Kontext als eine in mehrfacher Hinsicht bestechende Lösung. Einerseits wirkt es mit seiner blauen Acrylhülle zeichenhaft und behauptet sich im plastisch anmutenden historischen Stadtkörper. Andrerseits hat es in seiner Verspieltheit etwas Barockes und bekennt sich damit zur alten Substanz. Diese Absetzbewegung bei gleichzeitiger sanfter Einordnung ins Stadtgefüge setzt die Qualität jener etwas missverständlich als Grazer Schule bezeichneten Architekturszene fort, deren Anfänge in die sechziger Jahre zurückgehen. Das Kunsthaus erscheint als ein Fortschreiben der lokalen Architekturtradition mit anderen Mitteln. Es tauscht das dekonstruktivistische Vokabular, mit dem die Grazer Schule sich international etablierte, ein gegen eine organische Form, mit welcher es sich im städtischen Kreislauf verbindet.

Das Blasenartige des Entwurfs war allerdings keine stilistische Entscheidung der Architekten, sondern ist das Ergebnis der jahrelangen und schwierigen Entstehungsgeschichte des Grazer Kunsthauses, das ursprünglich in die Gewölbe des Schlossbergs implantiert werden sollte. Cook und Fournier haben ihren Entwurf für den ersten Wettbewerb - ein flexibles Gebilde, das aus dem Berg in die Stadt mäandert - an den neuen Standort jenseits der Mur transformiert. Wie ein Luftkissen hat es sich über den Fluss bewegt und landete sanft am neuen Ort beim Südtirolerplatz, wo es sich nun an das teilweise erhaltene Denkmal des Eisernen Hauses anschmiegt. Mit dem prägnanten Gusseisenskelettbau aus dem Jahr 1846 geht die neue Architektur eine physische wie funktionelle Verbindung ein. «Alien» nennen es die Architekten auf Grund der Entstehungsgeschichte, «Friendly Alien» korrigierten die Stadtverantwortlichen mit Nachdruck. Das wäre gar nicht nötig, denn das blaue Wesen korrespondiert von ganz alleine gut mit anderen herausragenden Architekturen der Stadt: zum Beispiel mit dem am anderen Ufer der Mur in Sichtweite gelegenen Grazer Kaufhaus Kastner und Öhler. Das gründerzeitliche Juwel, dem das Architektenpaar Szyszkowitz und Kowalski eine leichte und schwebende gläserne Moderne einhauchte, stellt ein Vorzeigestück einer erneuernden Architektur in historischem Umfeld dar.

In der Sichtachse zwischen Kunsthaus und Kaufhaus liegt der zweite aufsehenerregende Bau im Bereich der Mur-Vorstadt, die Mur-Insel des New Yorker Allroundkünstlers Vito Acconci. Wie ein Tragflügelboot schwimmt die filigrane Stahlrohrgitter-Konstruktion nördlich des Mur-Stegs im Wasser. Die als zeitlich begrenzte Installation gedachte Mur-Insel beherbergt ein Café, ein Amphitheater und einen Kinderspielplatz und hat sich zum Lieblingsobjekt entwickelt, für dessen Verbleiben die Grazer sich nun ausgesprochen haben. Derzeit wirft allerdings die Ankündigung des Bundes, als landesweiter Herr der Flüsse eine Wasserpacht von 10 000 Euro pro Jahr einzutreiben, hohe Wellen im Musterort, wo man düpiert darauf hinweist, dass der steirische Kulturhauptstadtglanz ganz Österreich erstrahlen lässt. Von der Mur-Insel aus betrachtet, wirkt die Stadt viel grösser und erhabener. So oder so ist aber das Wichtigste, dass es den Grazern selber gefällt. «Es kost' zwoa vüh, aber 's schaut guat aus», meinte ein junger Grazer nach der ersten Begehung auf die Frage, wie ihm denn das neue Kunsthaus gefalle.

Irgendwie scheint Graz, sonst eher als leicht verschlafene Provinzstadt mit südlichem Charme geliebt, im Kulturhauptstadtjahr ein bisschen über sich selbst hinausgewachsen zu sein. Eine Öffnung nicht nur gegenüber ausländischen Gestaltern wie Cook und Fournier und Acconci ist zu verzeichnen, auch nach innen ist Wagemut angesagt, wo einmal nicht die alte Garde der Grazer Architektur um Günther Domenig aufscheint. So konnte das Grazer Team Florian Riegler und Roger Riewe den Wettbewerb für das Literaturhaus für sich entscheiden. Der minimalistische Entwurf distanziert sich - wie auch das Kunsthaus und die Mur-Insel - vom Grazer dekonstruktivistisch Gewachsenen. Die Architekten haben das historische Palais an der Elisabethstrasse behutsam in den ursprünglichen Zustand zurückgeführt. Hofseitig wurde ihm ein L-förmiger, zweistöckiger Neubau aus Beton zur Seite gestellt, der sich in Habsburger Gelb satt durchgefärbt gibt. Es ist ein lauschiger urbaner Ort geworden, der Altes und Neues harmonisch in Dialog setzt und in seiner Klarheit der Literatur, die hier zu Wort kommen soll, den Vorrang einräumt.
Es geht um die Wurst

Fehlplanungen wie die Neukonzeption des Jakominiplatzes hat Graz an der Schwelle zum neuen Jahrtausend zu vermeiden gewusst. Dem zentralen Knotenpunkt des öffentlichen Verkehrs trieb man in den neunziger Jahren das kleinstädtische Nachkriegs-Ambiente gründlich aus mit einer Heerschar von signalgelb gestrichenen Lichtmasten, die dem Grazer Platz am Eingang zur Fussgängerzone den Flutlichtcharme eines DDR-Grenzpostens verleihen und den Ort so recht verschandeln.

Graz befindet sich immer im Zwiespalt, für eine Provinzstadt zu gross und für eine Metropole zu klein zu sein. So wurde es einem im Vorfeld des Kulturhauptstadtjahres bei der Ankündigung, den Hauptplatz vor dem Rathaus in eine repräsentative «italienische Piazza» verwandeln zu wollen, angst und bange um jene zusammengewürfelte originäre Grazer Mischung von Blumenverkäuferinnen, Strassenmusikanten und Wurstbuden mit Aussicht auf den Schlossberg. Der Würstlstand hat gottlob überlebt trotz Graz 03. Eleganter, normiert und gedrängter zwar präsentieren sich die kleinen Häuschen jetzt, so dass sie die umstehenden, bis in die Gotik zurückreichenden Häuserfassaden und den Blick zum Schlossberg nicht verstellen - vor allem abends, wenn alles nach Markus Pernthalers gelungener Gestaltung schön indirekt beleuchtet ist. Und wer diese Sorge um den Würstlstand am Hauptplatz nicht versteht, dem möchte man eine Geschichte aus der Kindheit entgegenhalten, bei der es um die Wurst geht. Aber da kommt einem prompt ein Bub mit seiner Oma dazwischen, der um die obligate Belohnung nach erschöpfender Einkaufstour bettelt.

Graz bleibt Graz. Ein Ort der Bewegung, auf seltsame Art unverändert. «Bleiben Sie dran, wir sind gleich für Sie da», verspricht die von nettem Vogelgezwitscher begleitete Stimme auf dem Anrufbeantworter des Restaurants «Landhauskeller» und stellt gleich noch das Schmankerl einer «Rindfleischsülze mit Kernöl» in Aussicht. In Gedanken hoffnungsfroh bei den kulinarischen Genüssen, merkt man erst nach einiger Zeit, dass man längst in der Endlosschlaufe hängt und sich auch keiner mehr melden wird. Denn sonntags ist Ruhetag, auch in einer Kulturhauptstadt.

[ Die Ausstellung «Grazland - 100% Stadt» im HdA dauert bis zum 19. Dezember. Begleitpublikation: 100% Stadt. Der Abschied vom Nichtstädtischen. Konzeption: Ernst Hubeli, Harald Saiko, Kai Vöckler. Verlag Haus der Architektur, Graz 2003. 256 S., Euro 19.90 (ISBN: 3-901174-51-6). - Curves and Spikes. Peter Cook und Colin Fournier und Klaus Kada. Kunsthaus und Stadthalle für Graz. Hrsg. Kristin Feireiss, Hans-Jürgen Commerell. Galerie Aedes, Berlin 2003. 60 S., Euro 10.-. ]

24. Mai 2003 Neue Zürcher Zeitung

Am schnellsten war die Schnecke

Deutsches Historisches Museum eröffnet Schauhaus von Pei

In Berlin bot am Freitag die feierliche Eröffnung des neuen Ausstellungsgebäudes von Ieoh Ming Pei für das Deutsche Historische Museum (DHM) eine verhaltene Szenerie. Den Festreden lauschte man nicht im lichtdurchfluteten, erst danach zu besichtigenden Neubau, sondern im Eingangsbereich des in Sanierung befindlichen historischen Zeughauses. Hier wird voraussichtlich im Herbst 2004 mit der Dauerausstellung das Herzstück des Museums eröffnen.

Dass sich der Auftakt nicht zu einer dem Ereignis angemessenen Geste aufschwang, mag auch dem Start in Raten geschuldet sein. Aber die Diskrepanz zwischen der Abwesenheit von Bundeskanzler wie Bundespräsident und den Worten des DHM-Generaldirektors Hans Ottomeyer, der vom «entscheidenden Schritt für die Zukunft» des deutschen Nationalmuseums spricht, war kaum zu übersehen. Als Festredner für die Eröffnungsschau mit dem Titel «Idee Europa. Entwürfe zum ‹ewigen Frieden›» wäre auch Joschka Fischer mit Ambitionen auf den Posten des EU-Aussenministers denkbar gewesen. Schröder entsandte indes die Kulturstaatssekretärin und unterstrich damit den Eindruck, dass er das von seinem Vorgänger, dem Historiker Kohl, mit Enthusiasmus auf den Weg gebrachte Haus lieber aus einer gewissen politischen Distanz betrachtet.

Dabei liesse sich in schwierigen Zeiten schon Staat machen mit der am berühmten Boulevard Unter den Linden gelegenen, dem Regierungsviertel nahen Einrichtung, deren Geburtsstunde 1987 in eine Zeit fiel, als man noch gut und gerne Geld für Kultur ausgab. Die von Kohl im Schatten der Mauer konzipierte Westberliner Museumsidee, gedacht als Antipode zum offiziellen DDR-Geschichtsbild im Zeughaus, wurde von der deutschen Wende überholt. Mit der Erweiterung durch einen Neubau des an den Bund übergegangenen Zeughauses beauftragte der Kanzler in der Folge jenen Architekten, der schon Mitterrands Paris mit dem Ruhmesprojekt einer Glaspyramide für den Louvre verschönert hatte.

Das DHM etablierte sich als erste gesamtdeutsche Kultureinrichtung trotz politischem Widerstand, der sich aus der damaligen Abneigung gegen nationale Gesten erklärt. Die gegenwärtig von verantwortlicher Seite demonstrierte Ignoranz gegenüber dem - neben dem Jüdischen Museum in Berlin - wichtigsten Bundesmuseum erscheint im sechzehnten Jahr seines Bestehens hingegen etwas kleingeistig. Zumal die im Gründungsakt festgeschriebene Verpflichtung auf «Verständigung über die gemeinsame Geschichte von Deutschen und Europäern» aktueller ist denn je. Von der Dynamik der ersten Jahre nach der Wiedervereinigung unter der Leitung von Christoph Stölzl, als die Institution eine vernehmbare Stimme in der Aufarbeitung deutscher Geschichte war, ist kaum noch etwas zu spüren. Die für die Neukonzeption der Dauerausstellung wichtige Zwischenphase prägen Desorientierung und internes Hickhack, befördert durch eine einschneidende Kürzung der jährlichen Bundesmittel, die gegenwärtig 1,2 Millionen Euro betragen.

So erzählt Peis Gebäude vom Schwung der Gründerjahre nach der Wende. Das neue Ausstellungshaus war bereits im Vorfeld der Eröffnung einer der in letzter Zeit in Berlin am heftigsten gelobten Neubauten, weil es eine klassisch anmutende Moderne in die historische Mitte der Stadt bringt. Souverän belehrt der amerikanische Architekt chinesischer Abstammung all jene eines Besseren, die gerne behaupten, dass die Baukunst der Gegenwart nichts zuwege bringe. Peis Schauhaus zählt zwar nicht zu den grossen Innovationen des Architekten. Es erscheint vielmehr als unbeschwertes Alterswerk, das sich in verspielter Formensprache über die Hinterhoflage des zerschnittenen und eingezwängten Grundstücks hinwegsetzt und, den einen oder anderen Vorgänger zitierend, Peis Würfen in Washington und Paris Nachdruck verleiht.

Durch die gläserne, bogenförmige Fassade gen Süden wird das riesige Foyer von Licht durchflutet; den in strenger Klarheit eingesetzten Materialien Kalkstein, Granit und eingefärbter Beton verleiht dies eine haptische, sinnliche Ausstrahlung. Pei vermeidet jede Historisierung, erweist aber mit Ausblicken seinem architektonischen Ahnen Schinkel die Reverenz - und vor allem dem Zeughaus. Die Nordseite des DHM-Stammhauses mit den Plastiken von Schlüter darf, von Peis gläsernem Foyer aus betrachtet, einer Schaufassade gleich auftrumpfen. Allerdings hat Pei Schinkels Maxime, wonach ein Museum «erst erfreuen und dann belehren» soll, derart hochgehalten, dass seine effektvolle Inszenierung in Gestalt des zweckfreien Foyers rund die Hälfte der Gesamtfläche in Anspruch nimmt. Die Enge der vier Ausstellungsetagen, die 2500 Quadratmeter umfassen, dürften in Zukunft sowohl die Kuratoren der Wechselausstellungen wie die Besucher noch zu spüren bekommen.

Weniger Altersmilde hätte man sich bei Peis gläserner Treppenspindel gewünscht, die sich in einem ersten Entwurf geschlossener zeigte. Nun kragt - weniger nüchtern und auf den ersten Blick wohl gefälliger - eine Treppenwindung als fette Wulst aus dem Zylinder, weshalb der Berliner Volksmund in seiner liebenswürdigen Art die Glaswindung bereits zur «Schnecke» gemacht hat. Würde allerdings manch anderes bedächtig und ruhig wie sie seiner Vollendung entgegengleiten, wäre aus der deutschen Hauptstadt wieder so etwas wie Bewegung zu vermelden.

[ Das DHM präsentiert bis zum 22. September eine Pei-Werkschau. Publikation: I. M. Pei - Der Ausstellungsbau für das Deutsche Historische Museum, hrsg. von Ulrike Kretzschmar. Prestel-Verlag, München 2003. 96 S., Fr. 26.-. Eine Besprechung der Ausstellung «Idee Europa. Entwürfe zum ‹ewigen Frieden›» (25. Mai bis 25. August) folgt. ]

2. Mai 2003 Neue Zürcher Zeitung

Bald kein Denkmal mehr

Abriss des Berliner Admiralspalastes?

In Berlin, der verarmten Stadt, ist es keine Seltenheit, dass Gebäude, die man zuerst zum Denkmal erklärt, bei Aussicht auf kaufkräftige Investoren doch zur Disposition gestellt werden. Aktuelles Beispiel ist der Admiralspalast am Bahnhof Friedrichstrasse, in dem bis zum Sommer 1997 das Metropol-Theater seine Spielstätte hatte. Nun ist das Grundstück an zentraler Lage zum Verkauf ausgeschrieben, wobei Kaufgebote unter Berücksichtigung des Denkmalschutzes wie auch beim Wunsch nach einer Aufhebung des Denkmalschutzes willkommen sind. Im Klartext wird damit auch ein Abriss des in seinen neoklassizistischen Fassaden noch original erhaltenen Baus nicht ausgeschlossen. Vorläufig rechnet man allerdings damit, dass das Vorderhaus zur Friedrichstrasse, die Spielstätte des Kabaretts Distel, erhalten bleibt. Die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» wertet die Abrissklausel als Alarmzeichen einer fortschreitenden «heimlichen Entmachtung des Denkmalschutzes» in Zeiten des Spardiktats. Nicht wegzudiskutieren ist einerseits der jahrelange Leerstand der unbenutzten Spielstätte, deren prominente Lage offensichtlich die nötigen Sanierungskosten nicht mehr aufwiegen kann. Andrerseits kann man heute sagen, dass auch die Schliessung des Metropoltheaters nichts an der Misere der Berliner Bühnen änderte und der Verkauf des Grundstückes kaum mehr als ein Tropfen auf den heissen Stein der Berliner Finanzmisere sein wird. Der neoklassizistische, reliefverzierte Bau aus dem Jahr 1910 (Architekten: Heinrich Schweitzer, Wilhelm Cremer & Richard Wolffenstein), der eine im Zentrum Berlins selten gewordene Architekturepoche vertritt und einen Blickfang in der gläsernen Traufhöhen-Ödnis der Friedrichstrasse bietet, wird dann aber verloren sein. Böse Zungen erkennen darin schlicht den hauptstädtischen Lauf der Dinge: Was Berlin heute abreisst, so glauben sie, wird es in fünfzig Jahren kritisch rekonstruieren.

16. Februar 2003 Neue Zürcher Zeitung

Ein Sehnsuchtsort am Ufer der Havel

Zum 200. Geburtstag des Architekten Ludwig Persius

Am 15. Februar 1803 wurde in Potsdam Ludwig Persius geboren, der später als Architekt die dortige Schlösser- und Parklandschaft entscheidend mitgestaltete. Eines seiner reizvollsten Werke ist die Sacrower Heilandskirche, die zu den bedeutendsten Bauten der Schinkel-Schule zählt. Zu DDR-Zeiten stand sie unerreichbar im Todesstreifen.

Eine kleine Kirche wünschte sich König Friedrich Wilhelm IV., «im italienischen Styl mit einem Campanile daneben»: Die Heilandskirche von Sacrow ist bis heute einer der schönsten Orte geblieben, die man sich vorstellen kann. Der «Architekt des Königs» und Schinkel-Nachfolger Ludwig Persius (1803-1845) schuf mit ihr ein Beispiel für jenen Zauber, mit dem Preussen seinen Traum von Arkadien in höchstem Einklang von Architektur und Landschaft verwirklichte.

Das Dorf Sacrow ist slawischen Ursprungs; die Gründer nannten es «sa crowje», zu Deutsch: hinter dem Gebüsch. Um 1775 zeigte sich für das «Ratzenloch» jener havelländische Landgeistliche zuständig, dem man in Fontanes «Wanderungen durch die Mark Brandenburg» begegnet. Ein abgelegenes Nest, wenn auch unweit von Potsdam, ist Sacrow noch heute, auf einer Landzunge im märkischen Kiefernwald, eingeklemmt zwischen Jungfernsee, Sacrower See und Havelbucht. Wäre da nicht Persius' Kirchlein ausserhalb des Dorfes, kämen hier wohl kaum Fremde vorbei.
Ein Kirchenschiff

Wilhelm IV. muss bei einem Streifzug durch den Königswald von der meditativen Schönheit des Ortes angetan gewesen sein. Vielleicht zog den «Romantiker auf dem Thron» aber auch das Wissen hierher, dass Friedrich Heinrich de la Motte Fouqué einst im Gut Sacrow aufwuchs. Als Kind dürfte er öfter an der Bucht inmitten dieser malerischen Schönheit der havelländischen Seenlandschaft gespielt haben. Mag sein, dass hier der Ursprung liegt für den auf Fernwirkung bedachten Blick des späteren romantischen Dichters. Jedenfalls kaufte der König gleich nach seiner Thronbesteigung das Gut Sacrow mitsamt seinem Park am Ufer der Oberhavel, in deren Bucht in alten Zeiten die Fischer vor dem Sturm Zuflucht gesucht haben sollen. «S. Ecclesiae sanctissimi Salvatoris in portu sacro» - die königliche «Kirche des heilbringenden Erlösers im heiligen Hafen» wurde im Volksmund zur Heilandskirche. Im historisierenden Rückgriff auf die frühchristlichen Sakralbauten mit ihren Rundbogenformen fand das politisch-religiöse Selbstverständnis von Wilhelm IV. seinen Ausdruck, der in der urchristlichen Liturgie die Lösung für Preussens kirchenpolitische Probleme zu finden glaubte.

Der Architekt liess das Kirchenschiff mehr schon ins Wasser, als dass er es am Ufer vertäute. Wer durch den Arkadenumgang wandelt, der blickt direkt in den See hinab. Der einsame Bau, der sich in der Havel spiegelt, hat nichts Eitles, eher wirkt er selbstbewusst, von zurückhaltender Fasson. In ihm findet sich die für Persius' Bauweise typische Spannung zwischen kubischer, fast moderner Reduktion und heiteren italianisierenden Anklängen. Ludwig Persius war, so sagt man, Schinkels begabtester Schüler. Noch Student der Berliner Bauakademie, kam er als «Bauconducteur» bei den Kronprinzenschlössern Glienicke und Charlottenhof mit dem strengen Klassizismus in Berührung, bei der Hofgärtnervilla und den römischen Bädern in Sanssouci befiel auch ihn die Sehnsucht nach Italien.

Fast versteckt liegt die Heilandskirche heute in einem von Lenné gestalteten Park. Zuerst taucht beim Gang über die verschlungenen Uferwege der Campanile auf, dann die Kirche selbst. Bei Sonnenschein nimmt die farbige Fassade im horizontalen Wechsel von gelblich-rosa und blau leuchtenden, glasierten Ziegeln das Flimmern des Lichtes über dem Wasser auf. Die Arkaden verleihen dem einfachen Baukörper mit flachem Satteldach Leichtigkeit und illustrieren, wie Schinkels Schüler eine eigene Handschrift ausbildete. Er nahm dem preussischen Klassizismus Schinkels etwas von seinem Gewicht, indem er die Monumentalität in bewegter Heiterkeit aufgehen liess.

Das Kirchlein, das nicht allzu viel kosten sollte, besteht aus einem einfachen Saal mit halbrunder Apsis. Nicht einmal die «Verglasung der Rose mit buntem Glase» erlaubte der König, der bei seinen Besuchen während der Bauzeit (1841-44) immer wieder Änderungswünsche hatte, sich aber im Übrigen über die Arbeit seines Baumeisters «hocherfreut» zeigte, wie Persius einmal in sein Tagebuch notiert. Die Decke, ein blauer Stoffhimmel mit goldenen Sternen, war ebenfalls der preussischen Sparsamkeit geschuldet und ihre Rekonstruktion nach der Wende viel teurer, als es die einer Holzkassettendecke gewesen wäre, wie der Aufseher von der Kirchgemeinde schmunzelnd erklärt. Die Heilandskirche bildete eigentlich das Modell für Persius' Friedenskirche in Sanssouci (1845-48), die als dreischiffiger klosterähnlicher Komplex auftrumpfte und die glanzvollen Jahre der Heilandskirche beendete. Der König und die prinzlichen Herrschaften, auf Sommerfrische in Sanssouci, mussten fürs Gebet nun nicht mehr den Weg nach Sacrow antreten.
Der Blick von ferne

Einmal wurde die Sehnsucht des romantischen Ideals, die sich in dem verwunschenen Ort spiegelt, von der Wirklichkeit eingeholt. Zur Zeit der Berliner Mauer stand die Heilandskirche unerreichbar inmitten des Todesstreifens, auf der Landseite von Mauern umschlossen, zur Wasserseite direkt hinter der schwer bewachten Demarkationslinie. Für die Menschen im Westen wie im Osten, die in Sichtnähe lebten, wurde sie zu einem eigentümlichen Sehnsuchtsort. Die DDR überliess die Kirche dem feuchten Moder. Nur heftiger Bürgerprotest und eine Spendenaktion aus Westberlin rettete sie vor dem Zerfall. Mit dem Ende der DDR wurde die Heilandskirche aus ihrer drei Jahrzehnte dauernden Isolation erlöst. Heute strahlt sie wieder von weitem und lockt einer Wassernixe gleich, die gerade dem See entsteigt. Aus solcher Distanz erscheint der durch die Arkaden abgestufte Bau als Trugbild einer dreischiffigen Basilika.

Der königliche Gartenarchitekt Peter Joseph Lenné mahnte einst, die Sichtachsen nicht aus dem Blick zu verlieren. So sieht man vom Standort der Heilandskirche in Richtung Glienicker Brücke zwei weitere wichtige Bauten von Persius. Vom Schlosspark Glienicke lugt zwischen den Bäumen das Dampfmaschinenhaus (1836-38) herüber, das mit dem mächtigen Wasserreservoirturm die dortige Uferlandschaft prägt als Gegenstück zu Schinkels Grosser Neugierde. Es gehört neben dem Belvedere auf dem Pfingstberg (1847 bis 1852), dem Babelsberger Dampfmaschinenhaus (1844/45) und jenem berühmten von Sanssouci in Gestalt einer Moschee (1841/42) zu den wichtigsten Werken des Potsdamer Baukünstlers, der die Architektur seiner Geburtsstadt nicht zuletzt mit seinen italienischen Turmvillen prägte. Auch das von Schinkel im Stil trutziger Burgen begonnene Babelsberger Schloss, das von Sacrow aus zu sehen ist, führte Persius im Wesentlichen zu Ende. Hier wird die Stiftung Preussischer Schlösser und Gärten das Werk von Ludwig Persius, dessen Geburtstag sich heute zum 200. Mal jährt, demnächst in einer umfassenden Ausstellung präsentieren. Die Heilandskirche von Sacrow aber ist mit nichts zu vergleichen.

12. Dezember 2002 Neue Zürcher Zeitung

Die spanische Linie

Die Architekten Cruz y Ortiz in Berlin

Die schwingenden Bögen über den Gleisen des Bahnhofes Santa Justa in Sevilla (1988-91) bilden sanfte Leitsysteme von Ankunft und Abfahrt. Die in der umliegenden Landschaft weitherum sichtbare Tribüne des Madrider Sportstadions (1989 bis 94) signalisiert als steil abgeschrägtes Dach Öffnung nach aussen und nimmt Bewegung im Inneren auf. Beide Gebäude sind Markenzeichen des Architektenduos Antonio Cruz und Antonio Ortiz aus Sevilla. Die Werke der Spanier sprechen von der Kunst, die zukünftige Funktion eines Gebäudes in die Dynamik der Form zu transformieren. Im Aedes East Forum in den Berliner Hacke'schen Höfen lässt sich dies anhand einer Ausstellung zu Cruz y Ortiz unter dem Titel «Synthese der Architektur» nachvollziehen: Über das vielbeachtete Frühwerk eines Wohnblocks mit nierenförmigem Innenhof in der Altstadt von Sevilla (1974-76) hinaus werden eine Reihe aktueller Bauten und Projekte der vergangenen zehn Jahre präsentiert, so u. a. das Besucherzentrum des Nationalparks Doñana (1999-2002), das durch seine an die Haupthalle angebundenen kleineren Gebäude Ausläufer bildet und in der Dünenlandschaft Wurzeln zu schlagen scheint. Ebenfalls vorgestellt wird das im Bau befindliche Projekt für den Basler Hauptbahnhof (zusammen mit dem Luganeser Architektenteam Sandra Giraudi und Felix Wettstein). Mit einem Übergang zur Erschliessung der Bahngleise wird dem Komplex für die Zukunft eine expressive urbane Rolle zugesprochen. Der synthetische Charakter von Architektur, die Übereinstimmung von Form, Konstruktion und Nutzung zieht sich als Leitmotiv durch das Werk von Cruz y Ortiz. Selbst in der Berliner Schau haben die Architekten ihre Linie verfolgt und ihre Überzeugung ins Bild umgesetzt. Die Inszenierung propagiert eine sinnliche Logik des Ganzen, wo in Tische eingelassene Zeichnungen und Photographien mit den darauf präsentierten Modellen räumliche Spannung erzeugen.


[Ausstellung bis 12. Januar 2003. Katalog Euro 10.-.]

22. November 2002 Neue Zürcher Zeitung

Bauhaus ist nicht gleich Bauhaus

Eine Berliner Ausstellung beleuchtet eine Legende

Anne-Marie Wimmer, Studentin in der Ausbauwerkstatt am Bauhaus Dessau, kehrte nach einem mehrwöchigen Aufenthalt bei einem Lübecker Hersteller desillusioniert wieder an die Schule zurück. In ihrem Bericht gab sie zu Protokoll, dass es für das Bauhaus besser wäre, «Musterbeispiele in die Welt zu setzen», als sich «so krampfhaft» um die Erfindung von gangbaren Massenartikeln zu bemühen. Allzu entfernt erschien Wimmer der Entwurfsvorgang in der freien Wirtschaft vom schöpferischen Ideal. Nach 1930, als die Werkstätten schon geschlossen worden waren und der Unterricht vorwiegend auf Papier stattfand, war solch kritische Selbstreflexion am Bauhaus nicht selten. Wimmers Aussage belegt die Diskrepanz zwischen individuellem künstlerischem Anspruch und dem Programm am Bauhaus, das den auf die Industrie ausgerichteten Designer auszubilden gedachte.

Die Ausstellung «Bauhaus-Möbel: Eine Legende wird besichtigt» im Berliner Bauhaus-Archiv beleuchtet aufschlussreich dieses Spannungsfeld zwischen individueller Kunst und industrieller Vermarktung, zwischen ästhetischer Vorstellung und sozialem Anspruch. Es bot auch Bauhaus- intern immer wieder Raum für Auseinandersetzungen. Der Blick darauf wird heute von dem missverständlichen Stilbegriff des «Bauhauses» verstellt, der Einheitlichkeit suggeriert, wo eigentlich Vielfalt herrschte. Das Bauhaus war eine Ausbildungsstätte, die im Lehrbetrieb Produkte mit Experimentiercharakter hervorbrachte und nicht fertige Entwürfe. So gesehen erweist sich die längst allgemein gültige Bezeichnung der «Bauhaus-Möbel» zwar als gut zu vermarktendes Label, hat aber mit den tatsächlich am Bauhaus entstandenen Objekten oftmals nichts zu tun.
Stilbegriff

Gerade jene berühmten «Klassiker der Moderne», mit denen man heute das Bauhaus am prominentesten vertreten glaubt, sind ausserhalb des Schulbetriebs als persönliches Werk entstanden. Die sogenannte Breuer-Krise illustriert, wie diffus die Entwicklung am Bauhaus selbst zwischen künstlerischer Entfaltung, Vermarktung und populärer Aneignung verlief. Der Tischlereimeister Marcel Breuer verweigerte dem damaligen Bauhaus-Leiter Walter Gropius das Recht, seine Möbel am Bauhaus herzustellen und zu vertreiben. Trotzdem wurden die Stahlrohrmöbel von Breuer, dem die Berliner Ausstellung aus Anlass seines 100. Geburtstags gewidmet ist, zum Inbegriff dessen, was man gemeinhin unter «Bauhaus» versteht.

Die Entgrenzung des Begriffs begann, wie der Kurator Christian Wolsdorff im Katalog darlegt, um 1928: Mit dem aufkommenden Begriff eines «Bauhaus-Stils» begann die Abkoppelung der Bezeichnung von der Institution. Das zweite prominente Beispiel, wie privater Auftrag und Schule vermengt wurden, stellt neben Breuer der letzte Bauhaus-Direktor, Ludwig Mies van der Rohe, dar. Seine modernen Bauten und Projekte wurden als Bauhaus-Werke deklariert, obwohl sie davor und teilweise als Gegenbewegung zum Bauhaus entstanden. Den effektvollen Auftakt der Schau macht denn auch unter anderem seine Stahlbandsessel-Variante, die er 1929 schon vor seinem Direktorat in Dessau als Vorläufer des Barcelona- Chair entworfen hatte.

Die Ausstellungsmacher argumentieren klug, indem sie die ausgestellten Objekte - darunter einige komplette Wohnensembles - auf die Handschrift ihrer Entwerfer zurückzuführen versuchen. Skizzen, Photographien und Plakate dokumentieren zudem die heterogenen Positionen von damals. Deren einziger gemeinsamer Nenner wäre am ehesten in der asketischen Moderne, in der Abkehr vom Dekorativen zu finden. Die Schau erschliesst die Entwicklung und das weitere Umfeld des Bauhauses von den Standorten Weimar und Dessau und vom allgemeineren Blickwinkel «Bauhaus extern». Dabei trifft man vor allem in der Auftragsproduktion auf Erscheinungsbilder, die man kaum für Produkte des Bauhauses halten würde, weil sie in ihrer behäbigen und etwas provinziellen Art der mit dem «Bauhaus-Stil» verbundenen Klarheit, Funktionalität und Eleganz entgegenlaufen.
Wohngeschmack

Die Ausstellung zeichnet nach, wie der bürgerliche Wohngeschmack der Auftraggeber vor allem in den Anfängen der Schule nicht mit deren Willen zur Avantgarde Schritt hielt. Auf der einen Seite steht der künstlerische Anspruch, wie er sich beispielsweise in Gestalt von Breuers «Lattenstuhl» (1924) äussert. Auf der anderen Seite finden sich die bei der Tischlerei von privater Seite bestellten Einrichtungen, die auf praktischen Nutzen ausgerichtet sind und ein zurückhaltendes Erscheinungsbild «bis hin zur Hässlichkeit» aufweisen, wie in der Ausstellung ironisch bemerkt wird. So zeigt etwa Walter Determanns Wohnküchenentwurf (1919) eine rustikale, blumenverzierte Bauernstube. Die 200 Exponate vom Bett über den fast zeitgenössisch mobil wirkenden «Junggesellenschrank» von Josef Pohl (1929) bis hin zum Blumenständer stammen grösstenteils aus der Sammlung des Bauhaus-Archivs und illustrieren die Heterogenität, die sich abhängig von der Entwerferpersönlichkeit entwickelte und in der frühen Weimarer Phase Einflüsse von Expressionismus, De Stijl und Art déco zeigt. Vor allem unter dem Direktor Hannes Meyer bezog man am Bauhaus mit der «Analyse gesellschaftlicher Faktoren» zunehmend Aspekte der Technisierung und Politisierung mit ein.

Selten gestaltete sich die Liaison von Künstlerhandschrift und Auftraggeberpersönlichkeit so harmonisch wie bei Marcel Breuers Ess- und Schlafzimmer für Nina und Wassili Kandinsky, das mit seiner Form- und Farbgebung die Lehre des Malers umzusetzen suchte (1926). Oft merkt man den Objekten die Anstrengung an, dem (spiess)bürgerlichen Wohngeschmack Rechnung zu tragen, wie bei Lily Reichs auf Gemütlichkeit getrimmtem Stahlrohr-Polstersessel (1936). Jede Epoche generierte nicht nur einen architektonischen Stil, sondern richtete sich auf ihre Art wohnlich ein. Die vorbildliche Berliner Schau macht entlang der 14-jährigen Geschichte der Möbelwerkstatt auch die Veränderung des Publikumsgeschmacks deutlich, dem sich das Bauhaus nicht entziehen konnte. So konnte der Anspruch, im reinen Geiste der eigenen Lehre zu produzieren, nicht aufrechterhalten werden. Damit setzte der unaufhaltsame Niedergang der Schule ein. Diese musste unter dem politischen Druck des NS-Regimes 1933 endgültig geschlossen werden. Interessant erscheint, dass sich der einzelne Künstler, wie die Beispiele Mies van der Rohe und Breuer belegen, von der Schule lösen musste, um jene charakteristische Handschrift herauszubilden, welche die grossen Würfe hervorbrachte. Oder mit den Worten Christian Morgensterns: «Wenn ich sitze, will ich nicht sitzen, wie mein Sitz-Fleisch möchte, sondern wie mein Sitz-Geist sich, sässe er, den Stuhl sich flöchte.»

Claudia Schwartz

[ Ausstellung bis 10. März. Katalog: Bauhaus-Möbel. Eine Legende wird besichtigt. Hrsg. Bauhaus-Archiv Berlin, Berlin 2002. 440 Abb., 336 S., Euro 14.95 (Euro 9.50 in der Ausstellung ]

5. Oktober 2002 Neue Zürcher Zeitung

Öffnen Sie das Tor!

Für die Deutschen ist es ein Nationalsymbol, für die Berliner das schönste Streitobjekt. Das Brandenburger Tor, dessen Hüllen nach zweijähriger Sanierung am Tag der deutschen Einheit gefallen sind, bietet seit der Wende Stoff zu Diskussionen. Damals entschied man sich bei der Restaurierung der Quadriga für den Originalzustand vor dem Krieg und brachte das Eiserne Kreuz, das die DDR hatte entfernen lassen, wieder in Viktorias Siegeskranz an, begleitet von einer heftigen Debatte, ob ausgerechnet ein Symbol deutschen Militarismus hoch auf dem Wahrzeichen Berlins prangen dürfe.

Auch die Sanierung ging nicht ohne Gezeter vonstatten. Die Geschichte des Denkmals, seit Carl Gotthard Langhans den Bau 1791 fertigstellte, bot vier Varianten. Man entschied sich für die pure «Steinsichtigkeit». Dass man nicht mehr Fragen des nationalen Selbstverständnisses erörterte, sondern die Gestalt des Tores zur Geschmacksfrage wurde, die Passanten durch Münzeinwurf entschieden, mag man als Zeichen der Abkehr vom deutschen Sonderweg lesen. Welche Hauptstadt auf der Welt würde die Farbgebung ihres Wahrzeichens Touristen überlassen?

Dabei böte das Brandenburger Tor einigen Anlass zum Nachdenken über den deutschen Patriotismus. Wie kein anderes Bauwerk ist das Tor Nationalsymbol, doch haben daran andere Nationen nicht geringeren Anteil als die Deutschen selbst. Der Architekt Langhans erdachte sein Bauwerk als Öffnung des «alten Zopfstils» hin zur griechischen Klassik. Napoleon entführte die Quadriga nach Paris, wo sie acht Jahre als Sinnbild nationaler Schmach dienen musste. Erst dies befeuerte den Nationalstolz so, dass Preussen nach der Revanche die zurückgeholte Viktoria mit Eisernem Kreuz, Eichenlaub und gekröntem Adler dekorierte. Und erst die von der Sowjetunion verfügte Abschnürung der Osthälfte Berlins machte das Tor zum Symbol der deutschen Teilung, später zu jenem der deutschen Einheit.

Der sowjetische Satellitenstaat DDR liess die Ruinen der Gebäude abtragen, die das Tor eingerahmt hatten. Es entstand eine Ödnis an der Sektorengrenze zu Westberlin; nach dem Mauerbau konnten nur ostdeutsche Grenzsoldaten zu dem einsam im Sperrgebiet stehenden Tor gelangen. Es wurde zur Projektionsfläche für die Sehnsucht nach Einheit. Vom Westen aus rief Reagan Gorbatschew zu: «Öffnen Sie das Tor, reissen Sie die Mauer nieder.» Die Mauer ist gefallen, die Baulücken sind in pseudohistorischer Rekonstruktion fast geschlossen. Es bleiben die Erinnerung und der Berliner liebster Streit ums Brandenburger Tor. Vor kurzem entschied sich der Senat zu seiner Schliessung für den Autoverkehr, doch es fehlt nicht an Stimmen, die einmal mehr fordern: «Öffnen Sie das Tor.»

17. September 2002 Neue Zürcher Zeitung

Schöngerechnet

Das Berliner Schlossprojekt schrumpft

Wo man erst mit Museen, Bibliothek und einem Veranstaltungszentrum so viel wie möglich hineinpackte, wird schon wieder ausgelagert: Das Nutzungskonzept für das zur Rekonstruktion empfohlene Berliner Schloss steht wieder zur Disposition. Die Experten haben sich nach neuesten Ergebnissen um 40 000 Quadratmeter vertan, als sie ein Nutzungsvolumen von 100 000 Quadratmetern errechneten. Grund für den Lapsus soll eine zu niedrig bemessene Raumhöhe sein. Man überlegt nun, die Berliner Zentral- und Landesbibliothek, neben den Staatlichen Museen zu Berlin und den Sammlungen der Humboldt-Universität einer der drei potenziellen Nutzer, wieder auszuladen oder nur ausgewählte Bibliotheksbestände zu integrieren. Beim neubarocken Traumschloss bahnt sich hiermit schon in der frühesten Planungsphase eine der typischen Berliner Kompromisslösungen an. Das Schlossprojekt steht nicht zuletzt in der Kritik, weil es lange Zeit an Vorstellungen über eine sinnvolle Nutzung fehlte, die der schönen Hülle einen Inhalt gegeben hätten. Die nachgereichte, nicht sehr überzeugende Mischnutzung beginnt schon wieder zu bröckeln. Die Tatsache, dass sich eine Kommission von Experten bei der Angabe von Nutzungsflächen um fast das Doppelte verkalkulierte, ist ein Skandal, wenn man bedenkt, dass der Expertenbericht immerhin als Grundlage für die Abstimmung im Bundestag diente (NZZ 5. 7. 02). Die Kommissionsempfehlung für den Wiederaufbau fiel mit einem Mehr von nur einer Stimme ohnehin äusserst knapp aus. Man kommt in Anbetracht der neuesten Entwicklungen nicht umhin, den Expertenbericht als Schönrechnung zu deuten.

27. Juli 2002 Neue Zürcher Zeitung

Raumschiff Architektur über Berlin

Der 21. UIA-Weltkongress sucht eine Baukultur der Zukunft

Zum Auftakt betonte der Kongresspräsident Andreas Gottlieb Hempel die Fähigkeit der Architektur, «seelische Empfindungen» zu nähren, und der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder mahnte die Architekten, sich anzustrengen, damit die Menschen ein besseres Leben hätten. So manchem der gegen 6000 Kongressteilnehmer - Architekten, Ingenieure, Soziologen, Historiker und Publizisten - dürfte dieser heilige Ernst im Laufe der Woche noch in den Ohren geklungen haben, während er sich im klimatisierten Internationalen Congress Centrum (ICC) in Berlin wiederholt und trotz Rollkragenpullover fröstelnd in den Gängen verirrte.


Regionale Bausteine

Man hätte sich kaum einen skurrileren Ort für das Nachdenken über die Städte von morgen und das Leben in ihnen vorstellen können als das ICC. Der aluminiumbewehrte Koloss aus den siebziger Jahren steht wie ein Relikt der einstigen technoiden Utopien am Rande der westlichen City. Das urbane Leben findet anderswo statt. Manche Asiaten filmten die obligaten Erinnerungsbilder denn auch einfach im Foyer von den Plakatwänden ab, die Berlins neue Architektur mit Hochglanz zur Geltung brachten. Freilich passte der bunkerartige Bau in seiner anachronistischen Zukunftseuphorie durchaus zum Thema des Weltkongresses, der noch vor drei Jahren in Peking «Die Architektur des 21. Jahrhunderts» ausgerufen hatte. Der gemeinsam von der Union Internationale des Architectes (UIA) und dem Bund Deutscher Architekten (BDA) veranstaltete Kongress unter dem Thema «Ressource Architektur» wurde schon im Vorfeld durch schwindende Ressourcen beim BDA und Pleite-Gerüchte belastet und war geprägt von einem wohl nur teilweise dem finanziellen Desaster geschuldeten organisatorischen Dilettantismus.

Das diesjährige Konferenz-Motto legte der versammelten Zunft nahe, sich jenseits der ästhetischen Aufgabe vermehrt auf soziale und ökologische Verantwortung zu verständigen. Damit hatte man sich ohnehin schon Meilen entfernt von den ideologischen, nur um sich selbst kreisenden Berliner Architekturdebatten. Kam hinzu, dass sich umgekehrt hauptstädtische Institutionen wie die Staatlichen Museen ungerührt zeigten von der Anwesenheit Tausender Architekturinteressierter und die Tore des Alten Museums, wo die Schau mit Architektenzeichnungen aus zwei Jahrhunderten den Höhepunkt des Rahmenprogramms bildete, pünktlich um sechs Uhr schlossen. Es waren die kleinen Galerien, die in Anlehnung an Sigfried Giedions Buch «Raum, Zeit, Architektur» dem kopflastigen Architekturmarathon nächtens mit den Mitteln der Kunst urbanes Leben einhauchten.


Weltmassstab

Der Weltkongress, der am Freitag zu Ende ging, nahm die Leitgedanken früherer Konferenzen auf und teilte das Stadtthema mit der Weltkonferenz «Urban 21» vor zwei Jahren. Nicht neu sind die Fakten globaler Umweltprobleme und sozialer Ungleichverteilung. Baukultur, so die Veranstalter, hiesse demzufolge auch, dass die Baugestalter ihre ethischen Grundsätze im Hinblick auf die inneren Widersprüche der globalen Gesellschaft befragen. Ein wissenschaftliches Komitee, dem unter anderem Thomas Herzog, Matthias Sauerbruch, Jörg Schlaich und Donata Valentien angehören, veröffentlichte im Vorfeld ein Grundsatzpapier. Es will die Architekten in die Pflicht kultureller Werte nehmen, die über den ökonomischen und ästhetischen Selbstzweck hinausweisen. Was sich in der Forderung des Präsidenten der Uno-Umweltorganisation UNEP, Klaus Töpfer, nach einer «neuen globalen Friedenspolitik gegenüber der Menschheit, der Umwelt und den Kulturen» noch etwas theoretisch anliess, wurde eindringlich untermauert von Tai Kheng Soon (Singapur), der die Architekten in seinem Vortrag dazu aufrief, sich als Teil einer modernen, humanen, lebensgerechten - und damit: politischen - Kultur zu verstehen.

Durch die Referate und Diskussionen der sehr allgemein gehaltenen Veranstaltungsblöcke «Stadt und Gesellschaft», «Natur und gebaute Umwelt», «Innovation und Tradition», «Raum und Identität» zogen sich wie ein Leitfaden die Begriffe Wachstum, Überbevölkerung, Risiken der Weltzivilisation, Umwelt, Bürgerinitiativen, intelligente Systeme, Sozialverträglichkeit. Man hüpfte in fünf Tagen um die Welt - von der Wasserwirtschaft in den argentinischen Pampas über die Transformation des öffentlichen Raumes in den «Blauen Städten» Ostsibiriens hin zum Berliner «Kompetenzzentrum Plattenbau».

Der Münchner Architekt Thomas Herzog belegte am Beispiel des Florentiner Palazzo Pitti, dass bei der Entwicklung selbstregulierender Systeme die Hochtechnologie von morgen auf die Ressourcen der Ahnen zurückgreifen kann. Der Stuttgarter Ingenieur Jörg Schlaich betonte die Ressource «Arbeitsbeschaffung» für Schwellenländer. Bei seiner Ausführung, wie die weltweite Energiefrage mit Windkraftwerken in der Wüste zu lösen sei - «Stellen Sie sich vor, Sie verschwenden stündlich so viel Energie, wie Sie nur können, und die Betreiber in den armen Ländern profitieren auch noch davon» -, wurde es einem denn doch wind und weh.


Globale Unterschiede

Ein in den vergangenen Jahren noch nicht derart ausgeprägter Trend zur Verortung machte sich bemerkbar: Globales Denken kann nur in regionalem Handeln Wirkung zeitigen, da die Probleme diametral verschieden sind. So leidet die 16-Millionen-Menschen-Stadt Schanghai unter Landflucht und Überbevölkerung. Sie gehört zu den fünf Mega-Citys und wird laut Vereinten Nationen im Jahr 2015 schätzungsweise 23 Millionen Einwohner zählen. Währenddessen beklagt man zum Beispiel in deutschen Städten - insbesondere im Osten - einen Bevölkerungsrückgang und zunehmenden Leerstand.

Das Wissen um das globalisierte ökologische Zusammenwirken kann dabei als Grundlage dienen, ortsbezogene Konzepte so zu variieren, dass sie allgemeinen Nutzen besitzen. Gleichzeitig befördern diese die Identität der Architekturen, wo der internationale Stil in gleichförmiges Design mündet. Die Ressourcen der Architektur können jene der Natur nicht ersetzen. Aber es ist ein grosses Potential vorhanden, diese umsichtiger und schonungsvoller zu nutzen. Der grosse Andrang von Teilnehmern aus dem Osten und aus Schwellenländern belegte die Dringlichkeit des Themas für jene Regionen. Irgendjemand warf dann die späte Frage auf, warum sich denn kaum Stararchitekten an der Diskussion um eine Baukultur für die Zukunft beteiligten. Peter Eisenman war gerade im Begriff zu erklären, dass für ihn die Ressource der Architektur in der Idee des Architekten liege. Da neigte sich die Konferenz aber schon ihrem Ende zu.


[ Zum Kongress erscheint ein Weissbuch: Resource Architecture. Main Kongress. Report and Outlook. UIA Whitebook 2002. Verlag Birkhäuser, Basel 2002. ]

23. Juli 2002 Neue Zürcher Zeitung

Architektur-Marathon

Der UIA-Weltkongress tagt in Berlin

Ab heute ist Berlin für eine Woche Schauplatz des 21. Architektur-Weltkongresses. Zum ersten Mal findet die 1948 in Lausanne von der Union Internationale des Architectes (UIA) gegründete Veranstaltung damit in Deutschland statt. Die Hauptstadt an der Spree, die in Sachen Baukunst mit der Empfehlung für eine Rekonstruktion der einstigen Hohenzollern-Residenz in ihrem Zentrum gerade einen Schritt zurück in altehrwürdige Tage gemacht hat, wagt nun unter dem Titel «Ressource Architektur» immerhin theoretisch den Blick in die Zukunft. Zur heutigen Eröffnung des Spektakels, das bis zum Freitag dauert, wird auch Bundeskanzler Gerhard Schröder zu einer Ansprache erwartet. Mit der derzeit geschätzten Teilnahme von 4000 Architekten aus über 90 Ländern mussten die Veranstalter zwar ihre ursprünglich auf mehr als das Doppelte bezifferten Erwartungen schon empfindlich zurückschrauben. Dennoch wurde die Grossveranstaltung bereits im Vorfeld weit beachtet: Das riesige Programm bietet neben Diskussionsforen und Workshops in der ganzen Stadt Ausstellungen und weitere Rahmenveranstaltungen.


[Informationen findet man unter www.uia-berlin2002.com]

20. Juli 2002 Neue Zürcher Zeitung

Baumeister der Demokratie

Günter Behnisch in zwei Berliner Ausstellungen

Geht es um die Frage nach einem angemessenen Bauen für die Demokratie, fällt schnell der Name des Stuttgarter Architekten Günter Behnisch. Der von ihm stammende Münchner Olympiapark (entstanden 1967-72 in Zusammenarbeit mit Otto Frei und Fritz Auer) und der Deutsche Bundestag in Bonn (1972-92) gelten als Paradebeispiele einer bundesdeutschen Nachkriegsarchitektur, die in menschlichem Mass und offener Geste einen neuen gesellschaftspolitischen Ausdruck für öffentliche Bauten suchte. Als «Mentor einer antiautoritären Architektur» oder «Baumeister der Rheinischen Republik» hat man den 1922 in Dresden geborenen Architekten infolgedessen auch bezeichnet. Umgekehrt gelten seine Werke auch als Symbole der Identitätssuche in der alten Bundesrepublik.

Aus Anlass von Behnischs 80. Geburtstag zeigt die Galerie Aedes in Berlin eine ausführliche Werkschau in zwei Teilen: Während Aedes West am Savignyplatz unter dem Titel «Günter Behnisch zum 80. Geburtstag» eine breit angelegte Rückschau bietet, stellt Aedes East in den Hackeschen Höfen das Schaffen aus jüngerer Zeit des seit 1989 neu formierten Büroteams Behnisch, Behnisch & Partner (mit Sohn Stefan Behnisch und Günther Schaller) vor. Architekturmodelle, Skizzen, Zeichnungen und Photographien umkreisen ein teilweise visionär anmutendes Lebenswerk, für das Umsicht im Umgang mit Benutzern und Umwelt charakteristisch ist. Herauszulesen ist auch die mutige Handschrift eines Baukünstlers, der sich - wie das Beispiel der neuen Berliner Akademie der Künste am Pariser Platz zeigt - nicht gegen die eigene Überzeugung von steinernen Vorschriften gängeln lässt.


[ Ausstellung bis 25. August. Kataloge je Euro 10.-. ]

13. Juli 2002 Neue Zürcher Zeitung

Ausgrabungen am barocken Überbau

Reaktionen auf den Berliner Willen zur Schlossfassade

Eigentlich war man sich im Vorfeld der Debatte im Deutschen Bundestag über die Zukunft des Berliner Schlossplatzes einig, dass zu der Frage bereits alles gesagt sei. Trotzdem findet die Resolution des Parlaments für die teilweise Rekonstruktion der einstigen Residenz der Hohenzollern (vgl. NZZ 6. 7. 02), die wohlgemerkt nicht die Realisierung bedeuten muss, ein enormes Echo. Den Anlass zu erneuter Diskussion gibt vor allem die Eindeutigkeit des Votums für die historisierende Architektur.


Jenseits der Vergangenheit

Die klare Mehrheit hat also für eine Reparatur von Berlins historischem Zentrum gestimmt, die Spuren der Geschichte in harmonischer Anmutung begradigt. Das hätte für den nahe beim Regierungsviertel gelegenen Stadtteil ein trügerisches Erscheinungsbild zur Folge, das spätere Generationen nicht mehr an seine Schleifung im 20. Jahrhundert durch Nationalsozialismus und SED-Regime erinnert. Die Schlossbefürworter, die in der städtebaulichen Heterogenität des Ortes das oberste Gebot für eine Rekonstruktion sehen, zeigen sich zufrieden über eine solch «kluge Entscheidung» («Frankfurter Allgemeine Zeitung»). Nun könne endlich mit den Grabungen nach den für die Nachbildung unentbehrlichen Schlosstrümmern auf dem Flakbunkerberg begonnen werden, schwärmt auch «Die Welt» und macht deutlich, dass die wirklichen Probleme nun erst begonnen haben dürften: Es gibt keine Erfahrungen mit einem vergleichbar aufwendigen bauplastischen Programm, auf die man zurückgreifen könnte. Einigkeit herrscht in der Fachwelt nämlich darüber, dass die Rekonstruktion der Fassaden, wie sie Schlüter und Eosander in ihrem Selbstverständnis als Bildhauer-Architekten schufen, unvergleichbare Ansprüche stellt.

Welche geschichtspolitische Gesinnung, so fragen sich die Kritiker, steht hinter dem Faible für die architektonische Vorvergangenheit? Noch vor zwei Jahren glaubte man im Bekenntnis des Kanzlers zum Schloss («einfach weil es schön ist») ein neues Machtsymbol am Horizont der misstrauisch beäugten Berliner Republik aufsteigen zu sehen, die in der Suche nach historischer Selbstvergewisserung eine heile nationalgeschichtliche Kontinuität vorspiegle. Mittlerweile scheint man eher geneigt, die Liebe zum Feudalen in einer unspezifischen Gefühlslage zu begründen. Die «Süddeutsche Zeitung» («SZ») registriert eine Sehnsucht nach einer Vergangenheit, die «sehr von jener abweicht, aus der man tatsächlich kommt». Wenn einerseits das an die Verbrechen der Gestapo erinnernde Projekt «Topographie des Terrors» tatsächlich erneut gefährdet sein sollte, wie die «FAZ» am Freitag berichtete, während andrerseits der rasche Aufbau der Hohenzollern-Residenz propagiert wird, deutet dies jedenfalls nicht auf eine ausgewogene Geschichtspolitik Berlins.

Die «Tageszeitung» («taz») erkennt im Hang zum Barock den oft zitierten «symbolischen Normalisierungsschub». Sie schreibt ihn allerdings weniger dem in letzter Zeit oft diskutierten neuen nationalen Selbstverständnis der Deutschen zu, sondern interpretiert ihn vielmehr als geschichtliche Indifferenz einer rot-grünen Regierung, die als erste deutsche Politikergeneration den Krieg nicht mehr erlebt habe. In der Tat ist kaum zu befürchten, dass ein Flickwerk aus Schlosshülle und Betonkern, eine «disneyhafte Simulation» («Die Zeit»), zum ideologisch gefärbten Überbau heranwachsen könnte.


Die Zukunft der Architektur?

In die Richtung gehen auch jene Kommentare, die in der unverhältnismässigen Symbolhaftigkeit des Schlosses eine Entsprechung zu den hochgeschraubten Erwartungen an Berlin nach der Wende sehen. Die Sinnstiftung, die man der Hauptstadt im Wiedervereinigungsprozess zutraute, war enorm; die Zukunftsvision einer Stadt im Aufbruch wird nun durch die Rückwendung zum Alten konterkariert. Pikanterweise fällt die Empfehlung zusammen mit dem gross angekündigten Architektur-Weltkongress (UIA) Ende Juli über die Zukunft der Baukunst, an dem sich die Gastgeberstadt Berlin als moderne Architekturstadt präsentieren möchte.

Jene, die vom Anblick des Potsdamer Platzes in ihrem Wunsch nach «urbanem Heil» enttäuscht seien, erwarteten dieses jetzt von der Schlosskopie, mutmasst die «SZ». Vielfach wurde betont, dass die Entscheidung eine «politische Niederlage» («Berliner Zeitung») für die zeitgemässe Architektur sei, deren Vertreter grösstenteils mit Bedauern und Empörung reagieren und von einer «sehr traurigen Entscheidung für Berlin» (Daniel Libeskind) oder gar von einem «Skandal» (Wolf Prix) sprechen.

Mit dem Bekenntnis zum Schloss endet das Märchen, das Berlin seit der Wende als die zukunftsweisende Metropole unserer Tage preist. So setzt sich laut «taz» nun auch architektonisch eine Geisteshaltung zwischen Grössenwahn und Lethargie durch, die Berlin über Jahre hinweg «zum Schlusslicht hat werden lassen».

6. Juli 2002 Neue Zürcher Zeitung

Der Weisheit letztes Schloss

Berlin hüllt das Herz in barocke Fassaden

Den Schlusspunkt unter einen zwölfjährigen Streit sollte der Deutsche Bundestag mit seiner Entscheidung für die teilweise Rekonstruktion des Hohenzollern-Schlosses in Berlin-Mitte setzen. Dieser Eindruck wurde von Voten wie jenem von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) unterstrichen, der erklärte, ein weiteres Hinauszögern einer ästhetischen Festlegung bedeute «eine Blamage für die Politik». Schloss, aus, Amen, schien sich denn die klare Mehrheit zu sagen: Sie plädierte am Donnerstagabend, wie kurz gemeldet, in einem Entscheid quer durch alle politischen Lager für eine teilweise Rekonstruktion der Fassaden, wie sie die Baumeister Schlüter und Eosander einst schufen. Damit folgte man einer im April ausgesprochenen Expertenempfehlung (vgl. NZZ 22. 4. 02). Auch wenn es sich dabei nur um eine vorläufige Beschlussempfehlung und nicht um den Startschuss zum definitiven Baubeginn des 770 Millionen Euro teuren Projektes handelt: Der Königsweg eines offenen Architekturwettbewerbs, der historischen neben zeitgenössischen Entwürfen eine Chance gegeben hätte, ist damit ein für alle Mal versperrt.

Das Berliner Parlament, das sich nach den Abstimmungen zu Reichstagsverhüllung und Haackes umstrittenem Erdtrog einmal mehr mit den Künsten befasste, konzentrierte sich auf geschichtspolitische Argumente. Von «historischer Selbstvergewisserung», «Kult der offenen Wunden» oder «nostalgischer Rückwendung» war denn die Rede. Kaum mehr hörte man gottlob jenes Ost-West-Ressentiment, das die Frage um die zukünftige Gestalt des Schlossplatzes nach der Wende ideologisierte, indem Palast der Republik und Schloss gegeneinander ausgespielt wurden. Zwar versuchte die PDS mit einem Änderungsantrag, eine Integration von «Erichs Lampenladen» in den Neubau festschreiben zu lassen. Allerdings war mit dem bereits zuvor bestehenden Konsens einer Ausrichtung des Neubaus nach Grundriss und Kubatur des Schlosses der Abriss des DDR-Gebäudes bereits besiegelt.

Das Berliner Schloss, man darf es nun wieder so nennen, soll das Areal in Nachbarschaft zur Museumsinsel auf der Spreeinsel wieder füllen, wo 1950 das SED-Regime den Feudalbau sprengen liess. Derzeit baut man hier in direkter Nachbarschaft die Kommandantur wieder auf, irgendwann soll auch Schinkels Bauakademie wiedererstehen. Die Künstlichkeit der historischen Anmutung in Berlins Mitte endet also noch nicht bei Adlon und Kronprinzenpalais. Etwas zurechtgebogen wirkte in diesem Zusammenhang der architekturkritische Einwand gegen das Moderne, wonach in Berlin in den vergangenen zehn Jahren so viel zeitgenössische Bauten entstanden seien wie nirgendwo sonst. Da glaubte man Frank O. Gehrys DG-Bank-Gebäude am unweit gelegenen verödeten Pariser Platz spotten zu hören. Es setzt dem historisierenden Berliner Willen zu Traufhöhe und Naturstein, der noch fast jedem zeitgenössischen Kunststück die Flügel stutzte, subtil ein Denkmal.

Man muss nicht so weit gehen wie die «Süddeutsche Zeitung», die am Freitag die symbolische Überhöhung des langjährigen Streites sogleich wieder aufnahm und im deutschen Willen zum Barock eine «nationalromantische Stimmung» erkannte. Zumindest aber lässt sich bei dem buchstäblich historischen Beschluss der Abgeordneten ein an der Berliner Tourismuswerbung geschulter Blick ablesen, der nicht müde wird, die Schönheit der Stadt im Überlieferten zu suchen und den von geschichtlichen Brüchen scheinbar verschonten Gendarmenmarkt als schönsten Platz Berlins anzupreisen. So hüllt die deutsche Hauptstadt ihr Herz in Barock, während Anhänger der hohen Baukunst unserer Zeit auch in Zukunft nach Bilbao oder Sydney pilgern.

22. April 2002 Neue Zürcher Zeitung

Das Schlossgefühl

Mit Empfehlungen geht die Berliner Debatte weiter

Seit der Wiedervereinigung dauert die Diskussion um einen möglichen Wiederaufbau des Berliner Schlosses an. Eine internationale Expertenkommission hat nun ihre Empfehlung für eine teilweise Rekonstruktion abgegeben. Vor allem der vorgeschlagene Nachbau der barocken Fassaden ist umstritten. Die Politik will ihre Entscheidung erst nach Überprüfung der Nutzungs- und Finanzierungskonzepte fällen.

Neuzugezogene sehen sich in Berlin meist nach kurzer Zeit mit der Frage konfrontiert, wie sie es denn mit dem Schloss halten. Ein leichtfertiges Achselzucken, so lernt man schnell, provoziert mit Sicherheit nächtelange, hochemotionale Ausführungen, egal, ob das Gegenüber einen Wiederaufbau befürwortet oder ablehnt. Zum Ausgleich neigende Charaktere haben fortan ein sorgfältig abgewogenes Dafür und Dawider im Gepäck. Diesen Anschein machte jedenfalls Hannes Swoboda, der aus Wien stammende Vorsitzende der Kommission Historische Mitte Berlin, als er den Abschlussbericht an Bundesbauminister Kurt Bodewig übergab. Bei Aufnahme seiner Arbeit in Berlin, so der Architekt und Europapolitiker, habe er «gemeint, man müsse etwas ganz Neues bauen», aber nun beschliesse er sie als «moderater Schlossbefürworter».

Seit der Wiedervereinigung scheiden sich die Geister an der Frage, ob die einstige Hohenzollernresidenz wieder aufgebaut werden soll oder ob nicht doch vielleicht zeitgenössische Architektur der deutschen Hauptstadt im Europa des 21. Jahrhunderts besser ansteht. Hinter der ästhetischen Diskussion um Berlins prominenteste Ödnis verbirgt sich eine ideologische Auseinandersetzung. Der Ort, an dem die DDR-Spitze 1950 den im Krieg schwer beschädigten Barockbau als Symbol feudaler Herrschaft sprengen liess, soll zum Paradeplatz der Wiedervereinigung stilisiert werden: Mit Preussens Glanz und Gloria will man die Irrungen deutsch-deutscher Geschichte camouflieren. Nur so ist zu verstehen, weshalb auf der einen Seite der Spreeinsel die angebliche Leidenschaft für eine historische Baukunst, die real nicht existiert, derart heftig aufbricht, während auf der anderen Seite kein Förderverein Spruchbänder hochhält für Preussens schönstes Architekturensemble auf der Museumsinsel, deren Sanierung in der hoch verschuldeten Stadt chronisch gefährdet ist.


Kulissenarchitektur

Die Schlossfrage wurde in den vergangenen zehn Jahren so etwas wie die Berliner Glaubensfrage. Mit ihr lässt sich umgekehrt viel über Berliner Befindlichkeiten in Erfahrung bringen: über die Beschädigungen, die einer Stadt im Laufe ihrer Zeit dauerhaft zugefügt wurden, über geschichtliche Unbehaustheit und die Sehnsucht nach dem Alten, über Ressentiments in Ost und West. Als die Diskussion nach zehn Jahren nur noch um sich selbst kreiste, weil alles gesagt schien, reichten die Staatlichen Museen den Vorschlag nach, ihre in Dahlem beheimateten aussereuropäischen Sammlungen in einem dereinstigen Bau auf dem Schlossplatz unterzubringen.

Das grösste Problem war endlich angesprochen: Keiner wusste bis dahin, was in den herbeigeredeten Prunkbau denn eigentlich hineinkommen sollte. Schon höhnten die Gegner, wie denn ozeanische Totenmasken in ein Preussenschloss passten, ohne freilich zu begründen, weshalb diesen eine moderne Architektur besser zu Gesicht stehen sollte. Ein Ende der erbitterten Debatte um den Schlossplatz, den man symbolisch «zur Mitte der Republik» aufgeladen hatte, war nicht abzusehen. Die Bundesregierung setzte zur Klärung eine internationale Kommission Historische Mitte Berlin ein. Diese schliesst nun ihre von der Öffentlichkeit mit Interesse verfolgte Arbeit nach mehr als einem Jahr mit einer «Empfehlung» ab.

Die Experten sprechen sich für einen Bau aus, der in Grundriss, Kubatur, drei Fassaden, Schlüterhof und Stülers Kuppel dem Zustand des Schlosses vor seiner Zerstörung gleichkommt. Die schönste Seite nach Osten, ein malerisches Ensemble aus der Renaissancezeit, wird nicht mehr wiederherzustellen sein. Im Innern sollen einzelne altehrwürdige Räume (zum Beispiel der weisse Saal oder Schlüters berühmtes Treppenhaus) das Neue ergänzen. Eine vollständige Rekonstruktion, so viel steht also fest, wird es nicht geben. Es soll vielmehr eine Architektur sein, die zwar nicht das wiederaufgebaute Schloss darstellt, die aber, steht man davor, zumindest so aussieht - etwas für das Schlossgefühl, wenn man so will.

Als potenzielle Nutzer des neuen Ortes bieten sich neben den Staatlichen Museen die Humboldt-Universität mit ihren wissenschaftsgeschichtlichen Sammlungen sowie die Landesbibliothek an. Zum angestrebten «Dialog der Kulturen» sollen zudem Cafés, Restaurants, Läden und Veranstaltungssäle beitragen. Alles in allem übersteigt das die Raumverhältnisse des ehemaligen Schlosses um das Dreifache, womit wir beim typischen Berliner Kompromiss wären, der die gerade mit offenen Armen empfangenen Institutionen teilweise gleich wieder auslagert: in den Marstall zum Beispiel oder in neu zu Errichtendes. Skepsis weckt auch der in diesem Zusammenhang geäusserte Vorschlag, den berühmten Schlüterhof zu überdecken sowie den Eosanderhof zu überbauen. Das mächtige Schlossgeviert würde damit seine Transparenz einbüssen. Auch die von der Kommission «wo möglich» zur Nachahmung empfohlene alte Geschosshöhe dürfte dem Platzmangel geopfert werden, was die äussere Fassadengliederung vollends zum Trugbild machen würde.


Der Lauf der Geschichte

Zu begrüssen wäre der Vorschlag, die einstige städtebauliche Fassung wiederherzustellen, deren Bürgerhäuser unter Wilhelm II. dem Kaiser-Wilhelm-Nationaldenkmal weichen mussten; sie rangen dem Schloss Verhältnismässigkeit ab. Der Palast der Republik soll abgerissen werden, wobei dem Neubau denkmalswürdige Teile (zum Beispiel der Volkskammersaal) implantiert würden. Die SED baute übrigens einst das rekonstruierte Schlossportal, von dessen Balkon aus Karl Liebknecht 1918 die sozialistische Republik ausgerufen hatte, ins Staatsratsgebäude ein. Dieses, wohl das anmutigste DDR-Bauwerk, soll erhalten bleiben. Somit könnten Passanten vielleicht dereinst zwei Rekonstruktionen des einen Portals vergleichen: das Liebknecht-Portal der DDR und ein neues Eosander-Portal der Berliner Republik, die sich bei aller Gleichheit ja irgendwie doch grundsätzlich unterscheiden müssten. Die Nachbarschaft von Schlossfassade und Staatsratsgebäude würde ausserdem deutlich machen, wie die DDR in ihrem staatlichen Repräsentationsbau in königlicher Raumhöhe die Gliederung jenes Prunkbaus zitierte, den sie zuvor zerstört hatte.

Vielleicht lässt sich bei dem Projekt ja doch mehr historische Erkenntnis über das Wahre im Falschen gewinnen, als man anfänglich vermutete. Der Bundesbauminister und der Regierende Bürgermeister von Berlin bedankten sich bei der Übergabe im Staatsratsgebäude jedenfalls höflich für die wertvolle «Entscheidungsgrundlage», die der Kommissionsbericht für die Politik darstelle. Es gelte jetzt, die Nutzung und Finanzierung des auf rund 700 Millionen Euro geschätzten Projektes abzuklären. Berlin hat, wie man weiss, kein Geld, und ob man im fernen Süden und im Westen der Bundesrepublik dieses Projekt mit Steuergeldern unterstützen will, bleibt fraglich. Laut Expertenbericht soll ein Drittel der Mittel durch die öffentliche Hand, der Rest durch Investoren, private Anleger und Sponsoren aufgebracht werden. Über Letztere lässt sich jetzt schon sagen, dass sie ihre Unterstützung von einer historischen Fassade abhängig machen. Zur Fassadenfrage - die Kommission hatte sich mit einem äusserst knappen Mehr von nur einer Stimme für Barock entschieden - wollte sich wiederum der Bundesbauminister lieber nicht äussern. Die Abklärungen zu Nutzung und Finanzierung, sagte er, würden ein Jahr dauern. Von deren Ergebnissen hingen am Ende auch die Vorgaben für einen Architekturwettbewerb und die Frage nach der äusseren Gestalt ab.

Währenddessen demonstrierte draussen vor dem Staatsratsgebäude vorsorglich schon einmal ein versprengtes Grüppchen «für die Wiedererrichtung des Schlosses». Unweit davon erinnerte die Initiative «Berliner Unwille» mit einer Performance an das historische Ereignis von 1448, als die Berliner ihren Unwillen gegen den Bau der ersten Hohenzollernresidenz kundtaten und den Schlossplatz fluteten, indem sie die Schleusen des Spreekanals öffneten. So hat alles ein Ende, nur das Berliner Schloss hat zwei.

9. Februar 2002 Neue Zürcher Zeitung

Beton statt Schiefer

An der letzten Sitzung des Kuratoriums für das Denkmal für die ermordeten Juden Europas hat sich Peter Eisenman nun definitiv für Beton als Material für die zu errichtenden Stelen ausgesprochen. Die Erwägung des Architekten, eventuell Schiefer statt Beton zu verwenden, hatte zuvor für Aufregung gesorgt, weil damit Kosten- wie Zeitplan für das Mahnmalprojekt in Berlin gefährdet gewesen wären (NZZ 23. 1. 02). Die Geschäftsführerin Sibylle Quack rechnet damit, dass im Frühsommer die Bauarbeiten für den dem Denkmal angegliederten unterirdischen «Ort der Information» beginnen.

23. Januar 2002 Neue Zürcher Zeitung

Schiefer statt Beton?

Peter Eisenmann irritiert mit neuen Ideen für das Holocaust-Mahnmal

Man mag es kaum mehr als einen Zufall bezeichnen, dass just zu diesem Zeitpunkt erneut ein Streit um das Denkmal für die ermordeten Juden Europas auszubrechen droht. Noch nie stand die Realisierung des umstrittenen Projektes so konkret bevor; selbst die geschmacklose Werbekampagne des Fördervereins mit dem in eine photographierte Alpenlandschaft eingeblendeten Satz «Den Holocaust hat es nie gegeben» war schon fast wieder vergessen, und die Musealisierung des Plakates im Rahmen der derzeitigen Holocaust-Ausstellung in Berlin (NZZ 21. 01. 02) erschien als Beleg für die erfolgreiche Wende des langjährigen Vorhabens zum Guten: In diesem Frühjahr soll das mit 2700 Stelen an einen jüdischen Friedhof erinnernde Denkmal in den Bau gehen. Seit einigen Monaten stehen auf dem Mahnmalsgelände zwischen Brandenburger Tor und Potsdamer Platz Stelen in verschiedenen Grössen und Farbschattierungen zur Probe.

Zu Steinen des Anstosses wurden nun hellgraue Blöcke aus Schiefer, wo als Material ursprünglich Beton geplant war. Der Architekt Peter Eisenman, so ist zu vernehmen, lasse diese Materialproben durchführen, weil er offenbar Befürchtungen hat, dass bei schlechter Verarbeitung die Oberfläche nicht die gewünschte Qualität aufweisen könnte. Die Gerüchte verursachten umgehend grosse Aufregung in Berlin, wo solche Einwände an den fatalen Streit um den Neubau von Peter Zumthor für die Gedenkstätte Topographie des Terrors erinnern. Hier hatte nicht zuletzt der Wunsch des Architekten nach möglichst weissem Beton das Projekt in zeitliche und finanzielle Bedrängnis gebracht, so dass bis zum heutigen Tag, an dem eigentlich schon längst alles fertig sein sollte, auf dem ehemaligen Gestapo-Gelände nichts als zwei einsame Treppenhäuser stehen.

Die Geschäftsleiterin der Stiftung für das Denkmal, Sibylle Quack, zeigt Verständnis für die Sensibilität in der Öffentlichkeit, erklärt aber den Schiefertest als ein legitimes Gedankenspiel des Architekten, der sein Projekt bis zuletzt zu optimieren versuche - in rein materialtechnischem Sinne. Dies mutet seltsam an bei einem erfahrenen Architekten wie Eisenman und in Anbetracht der symbolischen Tragweite des Mahnmalsprojektes, zumal Beton, beschichtet oder unbeschichtet, kein neues, gewissermassen bis zur letzten Minute unberechenbares Material darstellt. Die Verwendung von Schiefer würde den Charakter des Denkmals verändern, nicht nur auf Grund der ausgeprägten Oberflächenstruktur des Gesteins, sondern vor allem, weil die hohen Stelen aus Teilen zusammengefügt werden müssten - und so keine Monolithe mehr wären.

Peter Eisenman, heisst es, habe in Anbetracht der Aufregung gegenüber der Stiftung am Montagabend bereits versichert, die Idee mit dem Schiefer nicht weiter zu verfolgen, da sie den geplanten Kosten- wie Zeitrahmen gefährden würde. Die Bauarbeiten sollen also planmässig im Frühjahr beginnen. Noch ist jedoch die Bauausschreibung gestoppt wegen «technischer Optimierungsvorschläge im Hinblick auf die Oberflächenbehandlung der Betonstelen».

14. Januar 2002 Neue Zürcher Zeitung

Ein Klassiker in Berlin

Mies van der Rohe im Alten Museum

Allmählich bringt die Kunst das Leben auf die Museumsinsel zurück. Schon seit einiger Zeit lockt der wunderschön rekonstruierte Lustgarten vor Schinkels Altem Museum die Menschen im Sommer in Scharen auf die Berliner Spreeinsel. Aber erst seit der Wiedereröffnung der Alten Nationalgalerie vor wenigen Wochen liegt eine besondere Magie über dem Ort, eine Verheissung auf jene Zukunft, in der die fünf berühmten Museen als Ensemble wiederhergestellt sein werden. Die Berliner stehen in diesen Tagen in eisiger Kälte stundenlang Schlange, um sich eines ihrer schönsten Häuser des Spätklassizismus, die Alte Nationalgalerie, wieder anzueignen. Gleich nebenan im Alten Museum findet sich ein weiterer Höhepunkt mit der Ausstellung über die «Berliner Jahre 1907-1938» von Ludwig Mies van der Rohe, die vom New Yorker Museum of Modern Art übernommen worden ist (NZZ 14. 7. 01). Eine schöne Koinzidenz, war es doch der Geist des Klassizismus, der den Meister der Moderne zeitlebens umtrieb. Insbesondere die preussische Tonart Karl Friedrich Schinkels hatte es Mies van der Rohe angetan. Ihm erwies er mit seinem genialen Spätwerk, der Neuen Nationalgalerie am Kulturforum in Berlin (1965-68), seine Reverenz. Die Schau setzt ihren Schwerpunkt in der Verwurzelung in dieser architektonischen Tradition. Die ausgesprochen stilvoll gehaltene Präsentation nimmt einen effektvollen Auftakt mit der Vision des (unrealisiert gebliebenen) Hochhauses in der Friedrichstrasse in Gestalt eines hochfliegenden Plexiglasmodells, um dann die frühen Werke der Berliner Zeit Revue passieren zu lassen: In den grossbürgerlichen Villen und Häusern deutet sich jenes Formenvokabular an, das der 1886 in Aachen geborene Architekt bei seiner Emigration nach Amerika 1938 im Gepäck trug und das er zu jener Architektursprache ausformulierte, die ihn zum Meister der klassischen Moderne werden liess. Die in vorbildlicher Weise um räumliche Anschaulichkeit bemühte Schau findet eine unabkömmliche Ergänzung durch den anspruchsvollen Begleitband.


[Bis 10. März. Begleitbuch: Mies in Berlin - Ludwig Mies van der Rohe. Die Berliner Jahre 1907-1938. Hrsg. Terence Riley und Barry Bergdoll. Prestel-Verlag, München 2001. 392 S., 595 Abb., Fr. 117.- (EUR 69.- in der Ausstellung).]

1. Dezember 2001 Neue Zürcher Zeitung

Deutschland - ein Kunstmärchen

Wiedereröffnung der Alten Nationalgalerie in Berlin

Die prächtige vorgelagerte Freitreppe ist ohne Funktion, sie dient einzig der Ästhetik und als Sockel für das Reiterstandbild König Friedrich Wilhelms IV.: Dieses Gebäude sollte die Liebe zur deutschen Kunst beheimaten und dem Willen zum Einheitsstaat Gestalt verleihen. Entstanden ist es im 19. Jahrhundert dank einer Bürgerinitiative, weshalb dem König der Name der «National-Galerie» lange nicht behagte. Im 20. Jahrhundert schrieb ihr Mies van der Rohes Neue Nationalgalerie die Rolle der grossen Schwester zu. Von Anfang an war die Alte Nationalgalerie zu mehr geboren, als «nur» Museum zu sein. So blickt sie erhaben auf ihre berühmten Nachbarn, auf Schinkels Altes Museum und Stülers Neues Museum. Sie ist die kapriziöse Prinzessin unter den Königshäusern auf der Museumsinsel. Nun strahlt ihre gereinigte Sandsteinhaut wieder und ist leicht gerötet. Am Sonntag wird die Alte Nationalgalerie nach umfassender Sanierung wieder eröffnet - erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg sind dann ihre Bestände wieder vereint.


Kunst und Bau des 19. Jahrhunderts

Friedrich Wilhelm IV., der die Spreeinsel zu einer «Freistätte für Kunst und Wissenschaft» machen wollte, skizzierte die Alte Nationalgalerie - in Anlehnung an Gillys Entwurf eines Denkmals für Friedrich II. und Klenzes Walhalla in Donaustauf - als hoch auf einen Sockel gestellten Pseudoperipteros. Der königliche Architekt Friedrich August Stüler verlieh der pompösen Idee mit seinem Entwurf (1862-65) die Klarheit und Eleganz, die Schinkel ihn gelehrt hatte. Nach seinem Tod übernahm Johann Heinrich Strack die Ausführung des Baus (1866-76) in spätklassizistischem Formenkanon.

Der Griff zur architektonischen Pathosformel des antiken Tempels war Ausdruck der damaligen deutschen Sehnsucht nach einer politischen Einheit der Nation. Die Architektur folgte nicht den funktionalen Geboten eines Museums, sondern dem repräsentativen Gestus eines Nationaldenkmals; mit diesem Umstand sollte jeder der renommierten Museumsdirektoren ringen. Als der Nationalstaat mit der Gründung des deutschen Kaiserreiches noch während der Bauarbeiten Wirklichkeit wurde, schrieb man der 1876 eröffneten Galerie im Giebel mit dem Jahr der Reichsgründung 1871 auch gleich das Programm mit ein: «Der Deutschen Kunst MDCCCLXXI».

Den Gründungsmythos dieses Museums als Ort des geeinten Deutschlands möchte der Generaldirektor der Staatlichen Museen zu Berlin, Peter-Klaus Schuster, wiederbeleben. Von «der deutschen Anstrengung im Museums-Kosmos» spricht er in Anspielung auf die voraussichtlich zehn Jahre dauernde Sanierung der Museumsinsel, in deren Rahmen die 140 Millionen Mark teure Wiederherstellung der Alten Nationalgalerie zwar ein gewichtiges Moment, aber eben erst den Anfang darstellt. Wenn Schuster von Geyers Skulpturenfries im Treppenhaus - mit den bayrischen und preussischen Königen auf dem Doppelthron, flankiert von ihren Künstlern - als der «Geburtsurkunde des deutschen Kulturföderalismus» schwärmt, dann muss selbst der Kulturstaatsminister schmunzeln und das Pathos auf den Boden eines «zentralen» und «nicht zentralistischen» Ereignisses zurückholen. Nida-Rümelin hofft im Übrigen, dass die Deutschen die Museumsinsel als «ihren» und nicht «als Berliner Kulturbesitz» ansehen und bringt damit eine Entwicklung auf den Punkt, die sich in der Hauptstadt im Dunstkreis von Reichstag, Regierungsviertel und Schlossplatz seit einiger Zeit abzeichnet: die Teilung in bundesrepublikanisches und berlinisches Terrain. Der Museumsinsel - Weltkulturerbe, Prestigeobjekt der Bundesrepublik und Erbe Preussens - kommt hier als löchrigem und geldverschlingendem Riesenschiff die leidige Rolle der Manövriermasse zu.

Den Anfang der Alten Nationalgalerie bildete das Vermächtnis des Sammlers und Bankiers Wagener. Der bürgerliche Bilderreigen wuchs unter Direktoren wie Max Jordan, dem Schweizer Hugo von Tschudi oder Ludwig Justi - oft im Zwist mit dem Kaiser und gegen den Versuch wilhelminischer Verherrlichung - zu einer beachteten Sammlung internationaler Kunst heran, die den Bogen spannt von der Französischen Revolution bis zum Ersten Weltkrieg. Allerdings gelang es bei diesem «Schrein für die Kunst der Nation» nie, die Lücken zu schliessen, die in der ursprünglichen Privatsammlung angelegt waren.

So bringt Berlin mit Geschick den eigenen Vorzug ins Licht, eine «Sammlung des 19. Jahrhunderts in einem Haus des 19. Jahrhunderts» (Schuster) zeigen zu können. Und tatsächlich erweist sich die Alte Nationalgalerie nun als ein gemeinsames Paradestück von Kunst und Bau. Der Architekt (HG Merz, Stuttgart) beweist einen subtilen Umgang mit dem vorgefundenen disparaten Zustand. Dieser rührt von diversen frühen Umbauten wegen chronischen Platzmangels und zur Verbesserung der Ausstellungsbedingungen, von Kriegszerstörung und DDR-Wiederaufbau her. Man hat das Haus in die alte Pracht zurückgeführt, eine auffallend kühle Moderne hinzugefügt und gleichzeitig die für das Gebäude charakteristischen Zeitschichten herausgearbeitet.


Bilder und Räume

So tritt man hier eine wunderbare Reise durch die Ungleichzeitigkeit einer Epoche entlang an 440 Gemälden und 80 Plastiken an. Dabei erlaubt der parataktische Verlauf von Bildern und Räumen, von Brüchen und Wechseln, die Spannungen der Kunst einer Zeit hervorzuheben: Während der Rundgang der Bilder chronologisch im dritten Geschoss mit der Goethezeit beginnt und im Erdgeschoss mit dem fassungslosen Rot und Gelb von Beckmanns «Kleiner Sterbeszene» (1906) einen irritierenden Ausklang findet, «altert» die Architektur, ihrem unterschiedlichen Zerstörungsgrad entsprechend, von oben nach unten. Die Gegenläufigkeit ist ein gewagtes Spiel. Ein verblüffendes Ensemble aus der Zeit um 1900 ergibt sie im ersten Geschoss, wo Runge-Ranken und Jugendstilornamente mit den Bildern des Fin de Siècle zusammenlaufen.

Die kleinen Kabinette, die sich in der nördlichen Apsis über die drei Stockwerke ziehen, erweisen sich als die Juwelen des Hauses. Ihre intime Bürgerlichkeit und eine dezente Stoffbespannung der Wände verleiht den kleinformatigen Bildern eine berückende Ausstrahlung: den Romantikern Blechen, Krüger, Hummel wie der biedermeierlichen Leuchtkraft von Eduard Gaertners Berliner Veduten oder dem breit aufgefächerten Werk Menzels. Zu den Höhepunkten gehören die beiden durch den Umbau im dritten Geschoss neu gewonnenen, dem Werk Schinkels beziehungsweise Caspar David Friedrichs gewidmeten, in dezentem Grau gehaltenen Räume. Die Strahlkraft von Caspar David Friedrichs restaurierter Gebirgslandschaft «Der Watzmann» macht das Fehlen seines «Kreuzes im Riesengebirge», das auf Grund eines Berliner Kleinkrieges im Schloss Charlottenburg verblieben ist, umso ärgerlicher. Man kann nur hoffen, dass dieser Unsinn bald behoben und das Bild in den hier versammelten Friedrich-Reigen heimgeholt wird. Als Schwachpunkt erweist sich die Oberlichtdecke der beiden Cornelius-Säle im zweiten Geschoss, welche die Deutschrömer und die französischen Impressionisten in ein schlechtes Licht rückt. Die tiefen Valeurs von Böcklins «Toteninsel» werden übertönt, und selbst Manets «Wintergarten» oder sein «Landhaus im Rueil» verzagen in der Unruhe von Wandfries, Täfelung, Bespannung und grellem Licht.

Ansonsten macht staunen, wie die Erzählung der Bilder dem aufgeregten Disput der unterschiedlichen architektonischen Schichten des Gebäudes standhält. Mit einem klassizistischen Paukenschlag empfängt Schadows monumentales Grabmal des Grafen von der Mark im Treppenhaus; meditativ wirkt der Raum mit den Fresken der Casa Bartholdy; ein wunderbarer, gleichsam angehaltener Moment des Realismus in Deutschland verdankt sich Liebermanns «Gänserupferinnen», seiner «Flachsscheuer» und Uhdes «Heideprinzesschen»; die Disziplinen suchen den Dialog in Schadows letzter Marmorarbeit «Ruhendes Mädchen» (1826) mit dem «Inneren des Palmenhauses» (1832/33) von Blechen. Im ersten Geschoss kündigt sich der Aufbruch in die Moderne an mit einem ganzen Panorama von Menzel, mit Leistikows Hauptwerk der Berliner Secession, «Grunewaldsee», mit den blank liegenden Nerven der Jahrhundertwende in Kolbes «Goldener Insel», Franz von Stucks «Sünde», Corinths «Frau mit Rosenhut».

Von Waldmüllers klarsichtiger «Praterlandschaft» fällt der Blick noch einmal durch den Friedrich-Saal mit dem ewigen Eis vom «Watzmann», hindurch zum gegenüberliegenden Gang mit Blechens kalter «Gebirgsschlucht im Winter», wo das kleine Licht der Berghütte unerreichbar scheint - und wieder zurück zum lichten Blick Waldmüllers. Wo die Kunst in den Sichtachsen Trost findet, darf man sie zu Hause wissen.


[Erstmals findet sich der Kernbestand der Nationalgalerie in einem Katalog: Nationalgalerie Berlin. Das XIX. Jahrhundert. Katalog der ausgestellten Werke. Staatliche Museen zu Berlin und Verlag E. A. Seemann, Leipzig 2001. 541 Abb., 472 S., EUR 19.90; als CD-ROM EUR 12.90. ]

15. September 2001 Neue Zürcher Zeitung

Ein Gedächtnis für die Zukunft

Zwei Jahrtausende deutsch-jüdische Geschichte in Berlin

Die Eröffnung des Jüdischen Museums wurde überschattet von den Terroranschlägen in den USA. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges fühlen sich die Berliner mit den Amerikanern eng verbunden. So blieben viele kulturelle Einrichtungen geschlossen, auch das Jüdische Museum an den ersten beiden seiner vorgesehenen Eröffnungstage. Seit Donnerstag ist es nun allen zugänglich.

Ein Vierteljahrhundert dauerte es von der Idee eines Jüdischen Museums für das damalige Westberlin über das integrative Modell einer jüdischen Abteilung innerhalb des Stadtmuseums bis zur Eröffnung einer eigenständigen Institution. Durch die Wende kam dem Projekt unvermittelt eine nationale Bedeutung in der neuen alten Hauptstadt zu; aber erst in den vergangenen vier Jahren nahm es Gestalt an. Der Direktor Michael Blumenthal hat es mit weltläufiger Souveränität befördert. Der Architekt Daniel Libeskind hat es mit seiner spektakulären Architektur in die Wirklichkeit geholt. Diesen Erfolg muss man hochhalten in Anbetracht der zögerlichen Entwicklung der beiden anderen grossen Erinnerungsprojekte in der Stadt, des Holocaust-Denkmals und der Mahnstätte «Topographie des Terrors».

Seit der Einweihung des Libeskind-Baus vor zweieinhalb Jahren pilgerten 350 000 Besucher durch das leere Haus. Die expressive Architektur wurde in kurzer Zeit zum übermächtigen Symbol, so dass manche seine Funktionstüchtigkeit als Museum bezweifelten oder die Freihaltung des Hauses von Exponaten als Gleichnis für den unwiederbringlichen Verlust jüdischen Lebens forderten. Die nun eröffnete Dauerausstellung widerlegt die Einwände, wonach sich die eigenwillige Architektur mit ihrem verzerrten Grundriss und ihren intensiven Raumerlebnissen nicht als Ausstellungsgebäude eigne. Sie macht allerdings auch deutlich, dass der Bau nach einem subtilen Umgang und einer Reduktion der gestalterischen Mittel verlangt.

Man betritt das Museum durch das barocke Kollegiengebäude und gelangt über eine Treppe ins Untergeschoss, wo sich die «Achse des Holocausts» und die «Achse des Exils» kreuzen. In einer Reverenz an die Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem, in der Namen gegen das Vergessen stehen, sind den Wänden die Orte der Vernichtung und der Zuflucht eingeschrieben. Dazwischen, hinter Glas, zwei, drei letzte Dinge, Spuren eines Schicksals. Der Inhalt einer Brieftasche, welche die jüdischen Nachbarn bei ihrer Deportation noch schnell vom Wagen warfen, zwei Passfotos, eine Visitenkarte; die zurückgebliebene Hausbewohnerin hat sie aufgehoben zum Gedächtnis. In der «Achse des Exils» betrachtet man die fünf Reisepässe der Irma Markus, ausgestellt zwischen 1939 und 1960 in verschiedenen Städten der Welt - Zeugnisse einer Identität, die mit Stempeln beglaubigt ist und in der Fremde doch verloren zu gehen droht.


Gute Ansätze in 13 Kapiteln

Mit dem stillen Auftakt haben sich die Ausstellungsmacher ganz nach der Architektur gerichtet. Im Weiteren legten sie diesen Willen zur Beschränkung ab. Schon dem «Memory Void», einem jener hermetischen Betonschächte, die das Gebäude durchschlagen, glaubte man, einen Inhalt geben zu müssen: Die Installation «Shalechet» (Gefallenes Laub) des israelischen Künstlers Menashe Kadishman besteht aus 10 000 Eisenscheiben am Boden: 10 000 Gesichter mit weit aufgerissenen Mündern. Das Kunstwerk wirkt geschmäcklerisch und konterkariert den von der Architektur beschworenen Verlust.

Ein wenig von der anfänglichen Zurückhaltung hätte dem Hauptteil der Schau in den beiden Obergeschossen gut getan - nicht nur in Anbetracht der sich konkurrenzierenden Exponate, sondern auch was die aussergewöhnliche Architektur anbelangt, die nun hinter all den Einbauten, eingezogenen Wänden, abgehängten Decken und unmotiviert die Räume verstellenden Treppen kaum mehr erkennbar ist. Die Ausstellung auf 3000 Quadratmetern Fläche zeichnet streng chronologisch entlang von 13 Kapiteln und anhand von 3900 Exponaten (davon rund 1600 Originale und 560 Leihgaben) die Spuren jüdischen Lebens im Kontext jüdischer und deutscher Geschichte von der Römerzeit bis heute nach.

Einen Reigen von Handschriften präsentiert der Abschnitt über das Mittelalter. «Das Buch Sinai» aus dem Jahr 1391 des Rabbiners Meir ben Baruch aus Rothenburg gibt als eines der ältesten erhaltenen Dokumente jener Zeit Einblick in die religiöse Gedankenwelt der Juden. Worms, Speyer und Mainz stehen für frühe jüdische Gemeinden. Mit Photographien ist die Geschichte der Wormser Synagoge, des ältesten jüdischen Gotteshauses in Mitteleuropa (bis zu seiner Zerstörung 1938), nacherzählt. Dabei verpasst man die Chance eines kurzen Abrisses zur Synagogenarchitektur im Allgemeinen und lässt den nach dem Krieg wieder errichteten Sakralbau lieber im raumgreifenden Hauskino als 3D-Animation durch die mittelalterliche Stadt schweben. Die kostbare vorübergehende Leihgabe des Apostolischen Museums in Rom wurde dagegen so unscheinbar zwischen andere Exponate placiert, dass man sie kaum findet: Die Abschrift (10. Jh.) eines Dekrets von Kaiser Konstantin aus dem Jahr 321 belegt die Existenz von jüdischen Bürgern im römischen Köln.


Der Wille zur Unterhaltung

Hier zeigen sich schon die Schwächen des Konzeptes, das vor allem unterhaltend und anschaulich sein will. Vieles wird kurz gestreift, ohne Akzentuierung präsentiert man eine auf die Länge ermüdende, bunte Gleichförmigkeit. In nur eineinhalb Jahren musste die Ausstellung eingerichtet werden; der aus Neuseeland berufene Projektleiter Ken Gorbey macht selbst kein Hehl daraus, dass noch einiges verbessert und vertieft werden muss.

Unverständlich ist, warum in einem Berliner Museum die jüdischen Aufklärer um Moses Mendelssohn keinen adäquaten Raum erhalten haben. Kaum deutlich wird, wie beschwerlich der Weg in die Emanzipation, Assimilation und in den Aufstieg ins Bürgertum zwischen 1870 und 1933 war. Und die Wechselbeziehung von jüdischen und nichtjüdischen Intellektuellen findet sich gerade einmal im Bonmot von Henriette Herz: «Der Geist ist ein gewaltiger Gleichmacher.» Dagegen feiert man die Berliner Kaufhauskultur, die sich mit den Namen Wertheim und Tietz und dem Kaufhaus des Westens («KaDeWe») verbindet, ausgiebig mit Leuchtschriften und aufgeblasenen Bildern. Für die Tatsache, dass sich die Juden von der bürgerlichen Gesellschaft kaum unterscheiden, gibt es eine ganze Wand, tapeziert mit anonymen Familienporträts als Zeitbildern. Nicht dargelegt wird der interne Streit zwischen Orthodoxen und Reformern. Den Zionismus vertritt das Porträt von Theodor Herzl. Für den vom Gesellschaftlichen sich zunehmend ins Ideologisch- Politische verfestigenden Antisemitismus steht, völlig unkommentiert, Julius Langbehns Werk «Rembrandt als Erzieher». Die Rolle eines Vorläufers, die Langbehns Ausrottungsjargon für die nationalsozialistische Rassenideologie spielte, wird nicht thematisiert.

Damit unterwandert die Schau letztlich ihren eigenen populären Anspruch, «für ein sehr breites Publikum» etwas Aufklärendes bieten zu wollen. Aus schlicht in die Vitrine gestellten Büchern oder gehängten Porträts - wie sie hier im Übrigen, mit wenigen Zitaten unterlegt, für das ganze jüdisch-deutsche Geistesleben herangezogen werden: eine Art name dropping - zieht der Unwissende keine Information und wohl ebenso wenig Unterhaltung. - Wie der Zickzackkurs von Libeskinds Bau die Unwägbarkeit und Vielschichtigkeit jüdischen Lebens gleichsam verinnerlicht hat, so laufen in der Ausstellung Lebenswelten, antisemitische Bedrohung, Emanzipationskurs stichwortartig nebeneinander her. Dabei findet man ein Gleichgewicht zwischen historischen Dokumenten, Zeitbildern, Judaica und den Hilfsmitteln moderner Ausstellungstechnik. Dazwischen bietet das «Museum für die ganze Familie» überall Grotten und Spielecken «nur für Kinder», wobei Letztere die Terminals des «Learning Center» im Foyer mehr faszinieren dürften. Mit der notwendigen Zurückhaltung bei den erzählerischen Mitteln werden Nationalsozialismus, Massenflucht und Massenmord sowie die Zeit nach 1945 bis hin zur jüdischen Gegenwart in Deutschland dokumentiert.


Annäherungen

In Berlin gab es schon einmal ein Jüdisches Museum. Es eröffnete an der Oranienburger Strasse 1933 nur wenige Tage vor der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler. Den Fundus für die Ausstellungen bildeten die Sammlungen der Mitglieder der Jüdischen Gemeinde, die damals als eine der bedeutendsten in Europa rund 140 000 Mitglieder zählte. Schon nach sechs Jahren kam nach dem Novemberpogrom 1938 das Ende für das erste Jüdische Museum der Stadt. 1945 lebten noch 8000 Juden in Berlin. Bald werden in ganz Deutschland wieder 100 000 Juden leben, Berlin entwickelt sich wieder zum jüdischen Zentrum und ist nach einer Erhebung des Jüdischen Weltkongresses in New York nicht zuletzt wegen der Zuwanderer aus dem Osten die prozentual am schnellsten wachsende Jüdische Gemeinschaft ausserhalb Israels.

Das neue Jüdische Museum knüpft als «Sinnbild jüdischer Kultur» an die Tradition seines Vorgängers an. Von einem Wandel in der deutsch-jüdischen Beziehung haben manche im Vorfeld der Eröffnung, etwas hochgegriffen, geredet. Von einem neuen Fokus Deutschlands auf die jüdische Geschichte kann man sprechen, weil das Museum erstmals seit 1945 eine andere Sicht auf die jüdische Geschichte zeigt, insofern die Shoah als ein Kapitel in einer langen Zeitspanne dargestellt ist und die Rolle der Juden nicht auf die der Opfer beschränkt ist. Im Übrigen kommt dem Haus als erster überregional ausgerichteter derartiger Einrichtung in Deutschland Bedeutung nicht allein als historisches Museum zu, sondern als Ort der zukünftigen Annäherung, der Toleranz lehrt im Zusammenleben verschiedener Bevölkerungsgruppen. An diesem hohen Anspruch muss sich die Ausstellung messen lassen.