nextroom.at

Artikel

27. Juni 2006 Neue Zürcher Zeitung

Selbstbewusste Bescheidenheit

Restaurierung von Rino Tamis Biblioteca cantonale in Lugano

Die von Rino Tami zusammen mit seinem Bruder Carlo Ende der dreissiger Jahre gebaute Kantonsbibliothek in Lugano gilt als erste grosse Leistung der modernen Tessiner Architektur. Nun ist das Gebäude umfassend restauriert worden.

Jung, nämlich gerade erst 29 Jahre alt, war Rino Tami, als er 1936 zusammen mit seinem Bruder Carlo den Projektwettbewerb für eine neue Kantonsbibliothek in Lugano für sich entscheiden konnte. Der Bau, den er daraufhin am See realisierte, ist zum ersten Hauptwerk der neuen Tessiner Architektur geworden. Vor Ort fehlte es nicht an kritischen Stimmen zu diesem «hässlichen Betonkasten». In «Casabella» hingegen, der wichtigen Architekturzeitschrift des Nachbarlandes Italien und Plattform des Rationalismus und Funktionalismus, wurde der Neubau mit viel Lob vorgestellt. Giuseppe Pagano attestierte Tami jene «orgogliosa modestia», die dem italienischen Architekturkritiker eine Grundvoraussetzung jeder ehrlichen Architektur war.

Meisterliches Jugendwerk

Zwei Jahrzehnte später begegnen wir dem Begriff in Tamis Antrittsvorlesung an der ETH wieder, wo er über die Wahrheit in der Architektur sprach; diese werde von drei Koordinaten - Ort, Zeit, Person des Architekten - bestimmt, sagte er. Er kam dabei auf das heikle Zusammenspiel von persönlichem Ausdruck und Einordnung zu reden. Der Gegensatz sei scheinbar, erklärte er. Es müsse sich allerdings der Architekt in einem schwierigen Akt stolzer Bescheidenheit darauf besinnen, was ihn an der Gemeinschaft teilhaben lasse, für die er tätig sei. Das ist die Richtschnur, an die sich der im Übrigen undogmatische Tami gehalten hat, von der Bibliothek über die Einfamilienhäuser, Wohnblöcke, das Radiostudio und die Kirche Christo Risorto bis - als begleitender Architekt - zur Autobahn. Der Tessiner, der fast nur in seinem eigenen Kanton gewirkt hat, wird im Allgemeinen dem schweizerisch gedämpften Rationalismus zugerechnet.

Wenn wir im Parco Ciani dem Seeufer entlang auf die Biblioteca cantonale zugehen, empfängt sie uns freundlich, obgleich in sich gekehrt, wie es einem Ort der Lektüre und Vertiefung entspricht. Baumkronen werfen ihre Schatten auf die viergeschossige Mauer des Magazintraktes und spiegeln sich in den fein gezeichneten Fensterscheiben des Lesesaals im abgewinkelten Trakt. Der Bau steht so selbstverständlich in diesem alten Park wie die Bäume und Sträucher rundherum, schlicht und selbstbewusst. Der Eingang befindet sich auf der Gegenseite - in eine streng mit einfachen Fenstern klar rhythmisierte, asketische Front gefügt. Im Innern überzeugt die einfache, der Logik der Arbeitsabläufe folgende Räumlichkeit. Tami hatte sie seinerzeit mit einer einfachen Skizze erläutert: in der Mitte - als Herz der Bibliothek - die Bücherausgabe, links der Lesesaal, rechts die Kataloge, dahinter die Magazine. Meisterwerk von unübertrefflicher Eleganz aber ist die Perle des Hauses: die elliptisch geschwungene Treppenanlage, die hinaufführt zu den Büros und Arbeitsräumen.

Wie geht man mit einem solchen Bau um, wenn veränderte Bedürfnisse zu befriedigen sind und sich eine Restaurierung aufdrängt? Schon in den siebziger Jahren wurde eine Erweiterung ins Auge gefasst. 1980 legte Tami selber Entwürfe vor, doch liess die Zonenordnung keine neuen Volumen zu. In den neunziger Jahren wurden dann die Kantonsbibliothek, Weidemeyers Teatro San Materno in Ascona und Tamis Kirche Sacro Cuore in Bellinzona als erste moderne Bauten vom Kanton auf die Liste der schützenswerten Werke gesetzt. Aus dem Wettbewerb für ein Restaurierungsprojekt ging der Vorschlag der Architekten Francesco und Michele Bardelli hervor, der einen rücksichtsvollen Umgang mit Tamis Erbe versprach.

Zurückhaltender Ausbau

Äusserlich tritt die Erneuerung kaum in Erscheinung. Den neuen Raumbedürfnissen wurde entsprochen, indem einerseits mit Compactus- Schränken die Kapazität der Magazine erhöht wurde. Anderseits wurden im Untergeschoss zusätzliche Leseräume eingerichtet und unter dem Vorplatz Räume für das Archiv Prezzolini neu geschaffen. Letztere öffnen sich gegen Süden, doch wird die Fensterzeile durch ein Raster senkrecht gestellter Granitbalken verdeckt. Die Raumeinteilung blieb im Wesentlichen bewahrt; das umgestaltete Untergeschoss richtet sich nach dem Schema des Parterres. Lediglich die Abwartwohnung und die bisherigen Toiletten mussten der neuen Treppe ins Untergeschoss und einem Büro für den Direktor weichen. Die Architekten haben auch diese Änderung nicht benützt, sich in Szene zu setzen. Eine von Davide Cascio geschaffene Kombination von Neonskulptur und Wandgrafik fügt sich glücklich in das nüchterne neue Treppenhaus, das den Blick zum See freigibt. Mit grösster Sorgfalt ist der schöne Lesesaal mit seiner leicht gegen die Fensterfront ansteigenden Decke in jedem Detail in der ursprünglichen Gestalt wieder hergestellt worden. Die Tische sind wieder zweiplätzig und stehen wieder in der einstigen Anordnung. Tischlampen und Stühle sind den vielleicht von Tami entworfenen, jedenfalls von ihm ausgewählten nachgebildet. Die neuen Räume behaupten in ihren einfachen Konturen mit Möbeln in warmem Rot ihren eigenen Charakter, ohne einen Gegensatz zu betonen. Dem etwas kahl geratenen Korridor verleiht ein langsam dem Farbenspektrum folgend sich wandelndes Licht eine leicht verspielte Atmosphäre.

Nicht sichtbar ist der beträchtliche technische Aufwand, den die Restaurierung des Gebäudes erforderte: die angesichts der weit grösseren Lasten nötige Verstärkung der tragenden Elemente, die neuen Leitungssysteme und die leichtere Konstruktion der Decke des Lesesaals, für die, wie sich erst bei den Bauarbeiten überraschend zeigte, Tami eine etwas altertümlich massive Lösung gewählt hatte. Mit Verweis auf diese Erfahrungen hält Tita Carloni in seinem Beitrag in der Publikation, die zur Wiedereröffnung der Bibliothek erschienen ist, die Schaffung einer auf die Restaurierung moderner Bauten ausgerichteten Disziplin für wünschbar. Dort erfährt man auch Interessantes zu der Entstehung der Kantonsbibliothek, zu der das Tessiner Gesetz für die gymnasiale und höhere Bildung von 1844 die Voraussetzungen schuf. Die Aufhebung der Klöster lieferte den Grundstock der Sammlung. Zahlreiche Schenkungen liessen den Bestand auf heute 300 000 Bände anwachsen, darunter die 20 000 Drucke im «Fondo antico», die auf die Zeit vor 1850 zurückgehen. Als Gegengewicht zum anfänglich stark theologisch ausgerichteten Bücherbestand richtete Luigi Lavizzari die «Libreria Patria» ein, die vor allem im Tessin oder von Tessinern publizierte Bücher sammeln sollte. Eine Reihe von grösseren und kleineren Archiven, Briefsammlungen und Nachlässen (Ennio Flaiano, Francesco Chiesa, Giuseppe Zoppi, Guido Calgari. Romano Amerio und andere) sind schliesslich im «Archivio Prezzolini» vereinigt.

[ Progetto Biblioteca. Spazio, storia e funzioni della Biblioteca cantonale di Lugano. Hrsg. Biblioteca cantonale di Lugano. Edizioni Le Ricerche, Losone 2005. 160 S., Fr. 20.-. ]

6. Mai 2005 Neue Zürcher Zeitung

Rhythmen des Werdens und Vergehens

Massimo Carmassis Restrukturierung in Pisa

Nachdem 1944 Bomben hinter der Kirche San Michele in Borgo ein Stück der Altstadt von Pisa zerstört hatten, wurde zwischen den Ruinen ein Parkplatz angelegt. 1985 konnte mit der Realisierung von Massimo Carmassis Projekt begonnen werden. Obwohl die Neubauten viel beachtet wurden, stehen sie noch immer leer.

Wer in Pisa nicht nur den Dom, das Baptisterium und den Schiefen Turm anschaut, wird auf seinen Rundgängen auch an der Kirche San Michele in Borgo vorbeikommen. Die Geschichte der Kirche soll bis in die karolingische Zeit zurückreichen. Die heutige Fassade mit den drei eleganten Säulengeschossen über drei fein gestalteten Portalen stammt aus der Zeit des Übergangs von der Romanik zur Gotik. Sie wird von zwei leicht vorspringenden Wohnhäusern eingerahmt. Der Vorplatz verbreitert hier - unweit des Ponte di Mezzo und der Piazza Garibaldi - die lebhafte Ladengasse Borgo stretto. Als 1944 der Arno während 45 Tagen mitten in Pisa die Kriegsfront bildete, fielen bei einem Luftangriff auf die Brücke auch Bomben auf die Kirche und die dahinter befindlichen Häuser. Ein Seitenschiff und die an die Rückwand angebaute, seit der Säkularisierung Ende des 18. Jahrhunderts als Schule genutzte Klosteranlage wurden zerstört.

Schwierige Lage nach dem Krieg

Die Kirche wurde bald wieder aufgebaut. Hinter der Kirche hingegen wurde vom Kloster weggeräumt, was der Krieg hatte stehen lassen. Damit wurde der Blick frei auf die Rückwand der Kirche. Früher hatten - abgesehen vom kleinen Klosterhof - zusammenhängende Bauten bis zur Via degli Orafi die Sicht auf die Kirchenrückseite verdeckt. Nach der ersten Räumung wurde ein Platz frei, wie es ihn bisher nicht gegeben hatte und für den es nun Konzept und Funktion zu finden galt. Fürs Erste eroberten ihn die Autos, und während sich die Planungen ablösten, blieb das Bild des von Ruinen umstandenen Parkplatzes bis in die achtziger Jahre erhalten.

1975 richtete der damals 32-jährige Toskaner Massimo Carmassi in der Stadtverwaltung ein Studien- und Projektierungsbüro ein, das er bis in die neunziger Jahre leitete. Es verlieh der urbanistischen Reflexion neue Impulse. Carmassi hatte bereits zuvor mit seiner Frau Gabriella, die ebenfalls als Architektin tätig ist, baugeschichtliche Studien durchgeführt. Das neue Büro ging daran, umfassendere baugeschichtliche und urbanistische Grundlagen zu erarbeiten. Diese zielten darauf ab, das Bauerbe, unter anderem die erhaltenen Befestigungen, in die Stadtentwicklung einzubeziehen und zur Geltung zu bringen. Eine erste Initiative des Programmes für Altstadterneuerung war dem Areal hinter der Kirche San Michele zugedacht, damals die «gewiss am meisten heruntergekommene Zone des historischen Zentrums». Die Bauarbeiten begannen 1985.

Das erste von Carmassis San-Michele-Projekten sah Neubauten über den stehengebliebenen Ruinen vor. Dann wurde der Wunsch laut, auch der Kirche gegenüber eine Häuserzeile zu erstellen. Damit konnte die Via degli Orafi als enge Gasse wieder hergestellt werden. Gleichzeitig entstand so ein geschlossener Hof. Die vier Flanken des unregelmässigen Vierecks stellten völlig verschiedene architektonische Aufgaben. Der dominierenden Rückfassade der Kirche gegenüber musste von Grund auf neu gebaut werden. Auf beiden Flanken erhoben sich noch Ruinen, auf der einen standen einige Mauern, auf der anderen Reste von Turmhäusern («case-torri»).

Alt und Neu

Es bot sich die Möglichkeit, Alt und Neu auf verschiedenste Weise ins Verhältnis zu bringen. Der altstädtische Kontext erlaubte oder erforderte strukturelle und gestalterische Entsprechungen und Assoziationen. Wichtig wurde das Vorbild der auf den prekären Pisaner Baugrund abgestimmten Konstruktion der Turmhäuser. Carmassi hat seine Formensprache, wie sie sich an seiner Wohnüberbauung Pontedera oder der Friedhoferweiterung San Pietro (beide in Pisa) ablesen lässt, in intimer Auseinandersetzung mit der Baugeschichte entwickelt. Sie eignet sich - wie der von ihm bevorzugte Backstein -, in Einklang mit historisch überkommenen Elementen gebracht zu werden, ohne die Eigenständigkeit einzubüssen. Die Neubauten entlang der Via degli Orafi haben ihre versteckte «historische Verankerung» darin, dass sie auf Fundamenten stehen, die nach der seinerzeitigen Planierung wieder freigelegt wurden.

Das Äussere der Neubauten wirkt asketisch, gegen die Via degli Orafi hin geradezu klösterlich abweisend. Hinter der Fassade entfalten zwei zu eigentlichen Gassen bis unter das Dach hochgezogene Durchgänge und Hohlräume um die Rundtürme der Wendeltreppen eine vielfältige Raumstruktur, die man vom Hof aus - in Teilstücken erspähend - mehr nur erahnt als wirklich durchschaut. Holz (für Jalousien und Decken) sowie Glas und Metall (für die Ladenräume im Erdgeschoss) bestimmen die inneren Bauteile. Eine der «Gassen» ist - schief ins Gebäude gestellt - auf die Rückfassade der Kirche ausgerichtet. Vom Hof aus hingegen sieht man durch die einzige Lücke der Umbauung einen benachbarten Wohnturm. Im Hof kontrastiert der kräftig rote Ziegelstein der neuen Mauern zur hellen Fassade der Kirche und steht in variierender Spannung zu den bleicheren Mauerresten unterschiedlichen Alters.

Rundbögen des neuen obersten Geschosses, die auf der Nordseite leicht zurückgesetzt hinter der alten Mauer aufragen, wecken entfernte Assoziationen an den einstigen Kreuzgang oder an die doppelschaligen Pisaner Kirchenfassaden. Carmassi variiert - mit der «Dialektik der Epochen» spielend - mannigfaltig das Gestaltungsprinzip der zwiefachen Oberfläche (unter anderem mit den hinter die Maueröffnungen zurückversetzten Fenstern). Auf der Südseite ist vor einen der hier gegeneinander versetzten, an Turmbauten erinnernden Baukörper skulptural ein noch gedeckter Ruinenrest gestellt. Ein paar Mauerstücken ist die unregelmässigen Krone des Zerfalls belassen. Der ursprünglich als in den Platz eingelassene Rampe vorgesehene Zugang zur Krypta fällt dahin, weil die Mittel für die Restaurierung des mit Fresken aus dem zehnten Jahrhundert geschmückten, aber einen Meter hoch mit Wasser gefüllten Bauwerks fehlen. Bewegt man sich im Hof, so fasziniert die Abwechslung und Vielfalt der Ansichten und Perspektiven, die die Ruhe und Ausgewogenheit des Gesamteindrucks nicht beeinträchtigen.

Die schönen Bilder der im vergangenen Jahr in Wien mit dem Sonderpreis des Brick Award 2004 ausgezeichneten Anlage wecken Erwartungen, die vor Ort leicht enttäuscht werden können. Ist Carmassis Werk doch nach nunmehr 20-jähriger Bauzeit noch immer nicht vollendet. Durchgänge und Schaufenster sind verrammelt; und seit einigen Jahren ruhen die Arbeiten. Einige Häuser stehen innen noch im Rohbau. Andere wären praktisch bezugsbereit, weisen aber die ersten Folgen von Vandalismus auf. Dem Platz fehlt der Belag. Säulen, die zur Erinnerung an den Kreuzgang aufgestellt werden sollen, liegen noch am Boden.

Die Geschichte ist nicht zu Ende

Es mangelte uns die Geduld, in den Mäandern der Pisaner Politik und Verwaltung herauszufinden, was schief gelaufen ist und was die Behörden davon abgehalten hat, ein Projekt, das in der Fachwelt auf Interesse stösst, nicht abzuschliessen. Bei einem so komplexen Werk sind mancherlei Konflikte möglich, und die Kredite haben mit Sicherheit nicht gereicht. Carmassi hat die Stadt seiner Väter schon in den neunziger Jahren enttäuscht verlassen und ist nach Florenz übergesiedelt. Mit dem komplexen San-Michele-Projekt schlägt sich seither die Architektin Dunia Andolfi engagiert herum. Sie gehörte schon in den Anfängen zu Carmassis urbanistischem Team und hatte wesentlichen Anteil an den baugeschichtlichen Studien. Die Stadt will, des Unternehmens müde, die Liegenschaft abstossen. Damit ist der Ausgang ungewiss.

Ein unlängst publizierter Werkkatalog macht deutlich, dass dem San-Michele-Projekt in Carmassis Gesamtschaffen ein besonderer Stellenwert zukommt. Im Gespräch mit dem Architekten spürt man, wie sein Denken noch immer um dieses Projekt kreist, das ihn mit Grundfragen des Werdens und Vergehens konfrontiert hat. Kann Vergänglichkeit in der modernen Welt noch präsent sein? Es kam die Rede auf Carmassis grosses Vorbild Kahn und - in Florenz - natürlich auch auf Brunelleschi. Der grosse Renaissancearchitekt vollzog den Schritt von den Bauwerken, die sich über weite Zeiträume in Osmose mit der Geschichte entwickelten, zu den bis in ihre Einzelheiten gedachten und bestimmten Projekten. Auch für Carmassis ins Ganze einbezogene Ruinen ist die Vergänglichkeit zu Ende. Es sei denn, die Geschichte holt das Projekt ein, bevor es abgeschlossen ist.

2. August 2002 Neue Zürcher Zeitung

Kommunizierender Campus

Architektonische Aufbruchstimmung in Lugano

Der Campus der Tessiner Universität in Lugano ist nach gut zweijähriger Bauzeit bezogen und steht zur Einweihung bereit. Das Gespann Galfetti/Könz war für die Konzeption und die Aula magna verantwortlich. Zudem zeugen vier weitere Universitätsgebäude von einer neuen Aufbruchstimmung unter den jungen Tessiner Architekten.

Das Tessin hat einen hochschulpolitischen Parforceritt hinter sich. Anfang der neunziger Jahre sprossen neue Ideen für eine Tessiner Universität. Botta lancierte das Konzept einer Architekturakademie in Mendrisio. Lugano plädierte für eine Wirtschafts- und Kommunikationsfakultät. Dann überstürzten sich die Ereignisse. 1995 schuf der Kanton mit einem Hochschulgesetz die Basis für eine Universität. Im gleichen Jahr errichtete die Stadt Lugano eine Stiftung für eine Fakultät. Im Herbst 1996 wurden in Lugano die ersten Vorlesungen gehalten. Heute studieren 1500 Studenten an der Università della Svizzera italiana. Der Rhythmus, der die Gründung der Tessiner Universität bestimmte, wurde auch bei den Arbeiten auf dem Campus in Lugano eingehalten. Mitte 1998 konnten die Arbeiten eines Architekturwettbewerbs juriert werden. Ende 1999 fuhren die Bagger auf dem Gelände auf.


Ein offener Campus

Die Stadt Lugano hatte sich rechtzeitig auf das Tessiner Hochschulzeitalter vorbereitet und das alte Stadtspital mit einem grösseren Areal für eine künftige Universität reserviert. Weiter meldete sich im rechten Moment eine grossherzige Spenderin, Cele Daccò, die es mit 17 Millionen Franken der Universitätsstiftung erleichterte, das 40-Millionen-Bauvorhaben rasch und forsch zu realisieren. Die Spenderin drängte mit fünf für die theologische Fakultät bestimmten Millionen, diese private, von der Universität der italienischen Schweiz institutionell getrennte Hochschule in den Campus zu integrieren, und sie schlug als Architekt der ganzen Anlage Aurelio Galfetti vor. Galfetti zog es vor, sich auf das Gesamtkonzept und die Projektierung der Aula zu beschränken und für vier Universitätsbauten einen Wettbewerb unter jungen Tessiner Architekten auszuschreiben. Galfetti tat sich mit Jachen Könz zusammen. Dieses Gespann entwickelte den Masterplan, projektierte die Aula, begleitete den Wettbewerb und organisierte und kontrollierte den Baufortgang.

Das rechteckige Areal, auf dem der Campus entstand, befindet sich im Quartier Molino nuovo, und zwar zwischen der Via Madonnetta und der in Via Giuseppe Buffi umgetauften Via Ospedale (umgetauft nach dem vor zwei Jahren verstorbenen Staatsrat, der sich als Erziehungsdirektor so sehr verdient um die Universität gemacht hat). Mit den schmalen Seiten stösst das Grundstück an den Viale Cassarate - die Allee, die den Fluss dieses Namens säumt - und an den Corso Elvezia. Letzterer ist eine der Hauptachsen, die vom See her das Gebiet erschliessen, in das sich die Stadt im 20. Jahrhundert ausbreitete. Das Quartier blieb, obwohl keine zehn Gehminuten von der «Bankencity» entfernt, urbanistisches Hinterland. Lugano ist nach dem See orientiert. Das «Landesinnere» kommt schwer zu seinem Recht. Der Campus fügt sich nun in die vom See bis zum Stadion reichende «grüne Achse», die das Quartier Molino nuovo, das jetzt zum Universitätsviertel wird, an das Zentrum anbinden soll.

Als Galfetti seinen Auftrag bekam, sah er sich mit einem von mancherlei Bauten besetzten Areal konfrontiert. Das prominenteste Gebäude, das einstige Spital, hatte die Universität bereits bezogen. Es handelt sich um einen langgestreckten Bau (1905 bis 1909 nach Plänen von Giuseppe Ferla entstanden) mit einer markanten Eingangspartie in der Mitte und zwei durch Zwischentrakte mit Säulengalerien abgesetzten Flügeln. Weiter hat der Palazzo Rezzonico an der nordwestlichen Ecke einen gewissen Stellenwert im Erinnerungsschatz des Quartiers; es wurde im späten 19. Jahrhunderts von M. Fontana als Altersheim errichtet und diente später verschiedenen sozialen und kulturellen Zwecken. Die weniger bedeutenden Bauten wurden beseitigt.

Einige Vorarbeit für ein Campus-Konzept hatte bereits Peter Zumthor zusammen mit Studenten geleistet. Er entwarf die Idee eines Parkes mit Pavillons, die nicht den Fakultäten, sondern den Funktionen (Bibliothek, Hörsäle, Labors) zugewiesen werden sollten. Galfetti entwickelte Konzept und Masterplan auf dieser Linie weiter. Der Campus sollte sich als allgemein zugänglicher Park der Stadt öffnen. Einer der ersten «symbolischen» Entscheide war, die alte hohe Umzäunung zu entfernen und durch ein niederes Mäuerchen zu ersetzen. Die Universität soll mit ihrer Umgebung kommunizieren.


Regel und Rhythmus

Das alte Spitalgebäude, Grundstock des Campus, bildet zusammen mit der Aula magna und dem quadratischen Bau der theologischen Fakultät von Michele Christen die lange Basis eines U, das nun die Grünfläche einfasst. Von Anfang an wurden bauliche Akzente in den Ecken vorgesehen, die dem Spitalgebäude gegenüberliegen. In der einen beherbergt das alte Rezzonico-Gebäude mit dem angefügten schmalen Neubau von Giorgio und Michele Tognola Bibliothek und Lesesäle. Im neuen Teil sind zwischen den flachen Pfeilern auf drei Etagen kleine Nischen für Lesetische angeordnet. Auf den quadratischen Scheiben, die diese gegen aussen abschliessen, lässt eine Aluminiumabdeckung nur den Rand und in der Mitte zwei kleine schmale Fenster offen. Die Fassade lässt mit ihrem eigenwilligen Raster, an klösterliche Abkehr gemahnend, die Lesezellen erahnen. In der andern Ecke des Terrains steht der höchste Neubau, in dem sich die Computerarbeitsplätze befinden, das siebengeschossige «Laboratorio» von Sandra Giraudi und Felix Wettstein mit seiner leicht um eine Betonstruktur gelegten Glashülle.

Parallel zur Hinterseite des alten Spitals - diesem sehr nahe gerückt - steht der längliche Trakt der Hörsäle von Lorenzo Martini und Donatella Fioretti, dessen einfache Quaderform das intensive Rot der von hellen Längsbändern unterbrochenen Glasverkleidung belebt. Hinter dem zweiten Spitalflügel ist Platz für einen weiteren Bau gleichen Volumens reserviert. So entwickelt sich um zwei lange schmale «Höfe» ein verdichteter Bereich, von dem sich die Weite der Grünanlage erst recht abhebt. Die Individualitäten der Architekten sind eingefangen sowohl im streng geregelten Gesamtkonzept als auch im freien Rhythmus der Aussenräume und dem Zusammenspiel der diszipliniert eingesetzten Ausdrucksmittel, der prägnanten «Grafik» der Bibliothek (reizvoll am Abend, wenn die Innenräume erleuchtet sind), der temperamentvollen Farbigkeit der Hörsäle, der Eleganz des «Laboratorio» und der feinen Gliederung der theologischen Fakultät.

Galfetti hat neben dem Masterplan das Projekt der Aula magna beigetragen, die sich bescheiden im Boden verkriecht, als solle die ganze Aufmerksamkeit den anderen Universitätsbauten überlassen werden. Aber wen macht eine Grube nicht neugierig? Der Bau treibt ein raffiniertes Spiel mit dem Oben und dem Unten, dem Innen und dem Aussen und regt an zum Einblick in die Tiefe. Die Aula ist in den Boden eingelassen, um die Sicht in den Campus von der Stadt her offen zu halten. Die Decke der Aula dient als Piazza. Als «Gebäude» sichtbar ist nur der Vorraum, der als gläserner Pavillon aus dem Boden ragt. Er verbindet - halb Treppenhaus, halb Vestibül - das gewachsene Terrain mit dem Niveau der Aula. Das leichte Dach hängt an zwei Stahlträgern. Den transparenten Pavillon und die Piazza begrenzen auf zwei Seiten Folgen kurzer Betonstellwände. Zwei tragen die beiden Stahlträger, die andern eine Pergola. Vom Aussen- zum Innenraum wechselt man durch einen wie ein Motto an die Glaswand gelegten Türrahmen. Extravaganteste architektonische Attraktion des Aulakomplexes ist die schräg in den Vorraum gestellte, monolithische gerade Treppe, die eine Niveaudifferenz von fast elf Metern überwindet. Der Weg in den Untergrund geschieht wahrlich nicht verschämt, sondern wird zelebriert, als solle jeder, der hinuntersteigt, feierlich seine Portion Tag oder Nacht mit sich hinabtragen. Die Aula sodann ist eine 500 Personen Platz bietende Halle, auch sie klar und streng konzipiert. Licht fliesst den Betonwänden entlang herab, diffundiert in den asketischen Raum und verleiht ihm diskrete Würde.

Der Campus ist offen gedacht, und schmale Fussgängerwege führen von allen Seiten in ihn hinein. Die Universitätsbauten aber sind nur vom Campus her zugänglich. Der Eingang des früher dem Corso Elvezia zugewandten Rezzonico-Gebäudes wurde geschlossen. Nur das Hauptgebäude betritt man durch das alte Portal, auf das die Via Lambertenghi (das Rückgrat der «asse verde») zuführt. Wirklich dem Stadtkern zugewandt ist heute allerdings die Ecke am Corso Elvezia, wo schon Enea Tallones Kirche Sacro Cuore aus den zwanziger Jahren einen Akzent setzt, weiter die auffällige, etwa zwanzigjährige Casa della Giovane von Livio Lenzi steht und nun Galfetti mit Aula und Piazza den Campus mit der Stadt in Kontakt bringt.

24. Juli 2002 Neue Zürcher Zeitung

Junge Tessiner Architekten

Die Schweizer Szene in „Casabella“

Die italienische Architekturzeitschrift «Casabella» widmet dieses Jahr einigen Ländern monographische Ausgaben. Nach Italien und Portugal ist nun in der vor wenigen Tagen erschienenen Juninummer die Schweiz an der Reihe (Ende Juli folgt Japan). Da «Casabella»-Chefredaktor Francesco Dal Co in Venedig und an der Architekturakademie in Mendrisio lehrt, überrascht es nicht, dass die Tessiner Architektur im «Schweizer Heft» gut vertreten ist. Charakteristisch für die architektonische Produktion in der Südschweiz (oder für deren Wahrnehmung) ist wohl, dass alle drei in diesem Heft präsentierten Einfamilienhäuser aus dem Tessin stammen. Den Auftakt setzt aber der interessante Campus der Universität der italienischen Schweiz in Lugano, für den Aurelio Galfetti und Jachen Könz - auf Grund eines Konzeptes von Peter Zumthor - den Masterplan ausgearbeitet haben. Dieser bildete die Basis für einen unter höchstens vierzigjährigen Tessiner Architekten ausgeschriebenen Wettbewerb für vier Bauten. Nicoletta Ossanna Cavadini zeichnet die Entstehung der Tessiner Hochschule nach, Dal Co interpretiert die von Galfetti projektierte, in den Boden «eingegrabene» Aula. Von den vier weiteren Hochschulbauten werden zwei vorgestellt, nämlich der Trakt der Hörsäle der beiden Büros Bruno-Fioretti-Marquez und Martini sowie die Bibliothek von Giorgio und Michele Tognola. Besprochen werden im Heft weiter die Einfamilienhäuser von Roberto Briccola in Campo Vallemaggia, von Sabina Snozzi Groisman und Gustavo Groisman in Pura und von Giovanni Guscetti in Besazio. Die Präsentation wird abgerundet durch das neue Migros-Einkaufszentrum in Luzern von Diener und Diener, die Waschanstalt in Zürich Wollishofen von Angélil Graham Pfenninger und Scholl sowie das Sportzentrum in Zug von Bétrix & Consolascio. Weitere Beiträge des Heftes sind Gaudí, dem Kunstpalast von Oswald Mathias Ungers in Düsseldorf und der neuen Umbauung der Piazza San Michele in Borgo in Pisa gewidmet.


[Casabella. 701. Arnoldo Mondadori Editore, Segrate Milano. Giugno 2002. 108 S., Fr. 30.-.]

3. Mai 2002 Neue Zürcher Zeitung

Licht und Sinn in Brissagos Kirchen

Ein Pfarrer als Bauherr

Insgesamt 54 Jahre hat Don Annibale Berla, Jahrgang 1922, in Brissago verbracht. Er war nicht nur Seelenhirte, sondern musste sich auch um rund ein Dutzend Kirchen und Kapellen kümmern. Darunter befinden sich zwei herrliche Renaissancebauten.

Als Berla 1946 nach dem Priesterseminar Vikar in Brissago wurde, hatte die Kirche Madonna di Ponte dringendst ein neues Dach nötig, ein Geschäft, das der in die Jahre gekommene Prevosto Antonio Galli gerne seinem jungen Adlatus überliess. Als die Kirche ihr neues Dach hatte, musste sie innen und aussen restauriert werden. Nach dieser einen Beretta-Kirche kam die andere, die Dorfkirche, an die Reihe. Die kleineren Kirchlein und Kapellen mussten instand gesetzt werden. In Porta war der Zerfall so weit fortgeschritten, dass Berla einen Neubau durchsetzte. Erst als auch die Kirche und die Wegkapellen des Sacro Monte wieder in neuer Pracht erstrahlten, legte Don Annibale sein Amt nieder und kehrte vor anderthalb Jahren ins Bleniotal zurück.


Renaissance der Renaissance

Die Restaurierung der Kirche Madonna di Ponte, mit der sich der junge Priester als Erstes konfrontiert sah, war ein komplexes Unternehmen. Virgilio Gilardoni bezeichnet die Kirche in den «Monumenti d'arte del Canton Ticino» als «eines der klarsten Zeugnisse lombardisch-toskanischer Renaissance am Lago Maggiore». Mit dem Bau beider Kirchen von Beretta wurde im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts angefangen, doch zogen sich die Bauarbeiten in den wilden Zeiten, die damals in Brissago herrschten (samt Mord und Brandschatzung), in die Länge. Giovanni Berettas Sohn Pietro vollendete schliesslich die Pfarrkirche um 1600 im Sinne des Vaters. Die Madonna di Ponte ist - unter anderem mit dem Wechsel von Kreuz- und Tonnengewölbe - dynamischer konzipiert als die strengere Pfarrkirche, in der sich die drei quadratischen Joche mit dem von der Kuppel überwölbten Presbyterium zu einem langgestreckten Raum fügen.

Die Madonna di Ponte stand bereits unter Schutz, als die Restaurierung vorbereitet wurde. Die von Linus Birchler präsidierte Eidgenössische Kommission für historische Kunstdenkmäler war involviert. Für die kantonale Kommission engagierte sich vor allem Piero Bianconi, während der Präsident, Francesco Chiesa, offenbar eher im Hintergrund blieb. Alberto Camenzind repräsentierte beide Ebenen. Die Projektierung war Rino Tami übertragen, der sie im Wesentlichen dem jüngeren Peppo Brivio überliess, als dessen Arbeit diese Restaurierung gilt. Camenzind plädierte, Brivios Projekt folgend, für eine «architektonische Restaurierung», in der sich - im Unterschied zur «historischen» - die verschiedenen Elemente der «Hierarchie der dominierenden Architektur» unterzuordnen haben. Dieser Weg wurde, gegen Bedenken Chiesas, eingeschlagen.


Architektonische und liturgische Mitte

Ältere Fotos zeigen, wie spätere Ergänzungen den ursprünglichen Kirchenraum verändert hatten. Barocke Dekorationen um einen der Seitenaltäre wucherten förmlich aus der Nische ins Schiff hinaus. Hinter dem Hauptaltar wurden Fresken aus dem 16. Jahrhundert entdeckt. Man entschloss sich zu massiven Eingriffen. Für den Hauptaltar, einen der prunkvollsten der Region, wurde eine vom Schiff getrennte, durch eine Türöffnung (anstelle des ursprünglich geplanten Korridors) erreichbare neue Kapelle erstellt. Die Pfarrkirche wurde später von Luigi Snozzi nach ähnlichen Grundsätzen restauriert. Unter anderem wurde der im 19. Jahrhundert veränderte Apsisbereich rekonstruiert.

Im Gespräch mit Berla taucht immer wieder der 8. August 1952 auf. Das Datum, an dem Camenzind seinen Bericht ablieferte, hat sich Don Annibale tief eingeprägt. Da habe er gespürt, dass die Weichen gestellt waren. Die gewählte Lösung bedeutete den Rückgriff auf die Renaissance, für die das Herz des jungen Priesters schlug. Sie öffnete zugleich den Weg für die Placierung eines neuen Altars unter der Kuppel. Dafür war er eingetreten, damit sich «il centro liturgico al centro architettonico» befinde. Damit war der Altar von der Wand weggerückt und konnte die Messe dem Volk zugewandt zelebriert werden, wie es dann ein Jahrzehnt später das zweite Vatikanum einführte.

Von jenem 8. August schlägt Berla in seinem inneren Kalender den Bogen zur Einweihung der restaurierten Kirche, im Tessin gewiss die erste mit neu gestelltem Altar. Ohne mit der Wimper zu zucken, erzählt der Achtzigjährige, habe Bischof Jelmini in der neuen Weise die Messe gelesen, wozu damals längst nicht alle Bischöfe bereit gewesen wären. Jelmini war da offener. Sein Name bleibt ja auch mit der damals entstandenen Kirche San Nicolao, einem modernen Bau von Giuseppe Antonini in Lugano-Besso, verbunden. Vom frei stehenden Altar, dem Lesepult und dem Stuhl des Priesters rückte Berla von da an nie mehr ab. In der Kirche des Sacro Monte liess er nicht locker, bis - zum Ärger der Denkmalschutzkommission - der bestehende Altar verkürzt und ein freistehender aufgestellt war.

Eine Restaurierung ist das Ergebnis eines komplizierten gruppendynamischen Prozesses. Don Berla, ohnehin eher verschlossen und von diskreter Natur, äussert sich bescheiden über die Rolle, die er darin zu spielen hatte. Doch er wusste, was er wollte und wovon er sprach. Er verfolgte aufmerksam die Diskussionen zur Liturgiereform ebenso wie die über die neue Kirchenarchitektur. Er reiste nach Strassburg und Brüssel zu Liturgiewochen und fuhr den neuen Kirchenbauten nach, nach Ronchamps, nach Branzate bei Mailand, zur Notre-Dame de Toute Grâce auf dem Plateau d'Assy und anderswohin - «bis 1954 auf dem Motorvelo, nachher im VW». Er wusste, was in Deutschland und in der Deutschschweiz vor sich ging, und liess sich anregen von den Bauten von Fritz Metzger und von Hermann Baur (der 1950 in der Basler Michaelskirche den Chor für die Zelebration gegen das Volk angelegt hatte). Es kommt nicht von ungefähr, dass man in der Pfarrkirche Glasgemälden von Hans Stocker begegnet.

Architektonisch und liturgisch wollte er auf die Ursprünge zurückgreifen und in die Zukunft blicken. Es drängte ihn zur Renaissance zurück, vor den Barock, vor die Gegenreformation, zu Klarheit und Transparenz. Ästhetisches und Religiöses gehören bei ihm zusammen. Mit Gespür zog er Architekten bei, die heute zur ersten Tessiner Garde gehören. Auf Tami und Brivio folgten Snozzi und Cavadini. Für den neuen Altar in der Pfarrkirche holte er Giovanni Genucchi, der im Nachbardorf von Ponto Valentino lebte. Genucchi schuf, den neunzig Zentner schweren Block aus dem Bleniotal zurückhaltend bearbeitend, ein Meisterwerk, ganz der «Philosophie» Berlas gemäss. «Man wollte», schrieb dieser, «nicht eine Skulptur zum Altar, sondern ganz einfach einen Altar durch eine Skulptur kostbarer machen.»

Neben und nach den beiden grossen Kirchen machte sich Berla an kleinere Renovierungen. Auch der profane Liegenschaftenbesitz der Pfarrgemeinde kam an die Reihe. Zusammen mit Snozzi realisierte er den Baukomplex zwischen der Pfarrkirche und der Kantonsstrasse. Berla hätte der Casa Bianchini nicht allzu sehr nachgeweint; Snozzi rettete sie auf seine Weise, indem er den Charakter der Fassade - sie formal dem benachbarten Neubau unterwerfend - völlig veränderte. Zum Abschluss wagte sich Berla nochmals an zwei bedeutendere Projekte: die neue Kirche in Porta und die Restaurierung des Sacro Monte.

Das Kirchlein San Bartolomeo von Porta war schon früher verkürzt worden, damit die Strasse verbreitert werden konnte, und befand sich in einem bedenklichen Zustand. Immerhin schlug Snozzi eine Lösung vor, die den Bau zwar massiv verändert, aber teilweise erhalten hätte. Berla drängte auf eine radikalere Lösung und wandte sich auf Empfehlung Snozzis an Cavadini. Dieser projektierte einen kubischen Neubau (NZZ 3. 4. 98), der nun zu den interessantesten modernen Bauwerken im Tessin gehört.


Tessiner Spannungsfelder

Die Restaurierung des Sacro Monte - die Kirche hat unter Snozzis Leitung ihre rührende Festlichkeit zurückgewonnen - brachte Berla die Befriedigung, den lang gehegten Wunsch, dass Fra Roberto Pasotti die seit langem leeren Wegkapellen neu ausmale, erfüllt zu sehen. Der Kapuziner aus dem Kloster Bigorio hat die Aufgabe auf eigenwillige Weise angepackt und - wie Azzolino Chiappini interpretierte - mit grossen Gesichtern, die manchmal die ganze Bildfläche füllen, eine eigentliche «teologia del volto» entfaltet. Dem Kreuzweg, den Erdrutsche um drei Wegkapellen gebracht hatten, wurde dafür eine neue zugefügt, die nach Berlas Programm - eher ungewöhnlich für einen Kreuzweg - die Auferstehung darstellt. Sie besetzt nun als einfacher Betonblock den steilen Hang, den man, aus der Kirche tretend, bisher ganz natürlich vor sich hatte, wie es der subtil im waldigen Tobel inszenierten Anlage wohl besser entsprochen hatte.

Was in der Ära Berla restauriert und gebaut wurde, hat nicht nur Begeisterung ausgelöst. Die Ablehnung reicht von Bernhard Anderes' Urteil , die Madonna di Ponte sei «in übelster Weise purifiziert» worden, bis zu jenen Einheimischen, Zugewanderten und Touristen, die den Verlust der alten Kirche von Porta noch nicht verschmerzt haben und es nicht über sich bringen, ihren Fuss in die neue zu setzen. Wie auch immer: Wie sich in Brissago ein halbes Jahrhundert lang architektonischer und theologischer Erneuerungswille - zu einem guten Teil im Spannungsfeld von Renaissance und Barock - gegenseitig befruchtet und durchgesetzt haben, ist ein eindrückliches und spannendes Kapitel der Tessiner Geistes- und Kunstgeschichte.

Auf dem Vorplatz der Pfarreikirche, von dem aus sich der Blick über den Langensee weitet, stehen noch die über 400-jährigen Zypressen, die in der Bauzeit gepflanzt wurden. Welch ein Auftakt zum Kirchenraum, in dem Beretta «den Tonfall und die Modelle Brunelleschis im lombardischen Geschmack des sanften Kontrastes des Lichtes» (Gilardoni) aufzunehmen verstand! Nach einem Rundgang durch das von spekulativen Zufällen malträtierte Brissago atmet man freier auf in einem so kohärenten Raum, den so spürbar der Wille bestimmte, Sinn Gestalt zu geben. Da lässt sich die Linie ziehen nach Porta, wo der Kirchenraum auf das Wesentliche, auf wenige Elemente (Altar, Lesepult, Stuhl) und Mauerschlitze, auf Sinn und Licht reduziert erscheint.

Nun lebt Berla wieder in Ponto Valentino. In der Pension, die seine Mutter einst führte, sind Wohnungen eingerichtet worden. Nur wenige Schritte sind es zur kreuzförmigen Kapelle S. Francesco Saverio, die Cavadini restauriert hat. Dort liest Berla gerne die Messe, wenn er nicht in anderen Kirchen des Tales Priester vertreten muss. Die eine oder andere von ihnen wünscht er sich etwas heller und weniger museal. Er führte uns auch ins Nachbardorf Largario, wo sich die reizvolle elliptische Kirche Pietro e Paolo in bedenklichem Zustand befindet und eine Restaurierung dringendst nötig hat . . .

13. Oktober 1999 Neue Zürcher Zeitung

Blick ins urbanistische Räderwerk

Der Architekt Alphonse Laverrière in Lausanne

Die Archives de la construction moderne der ETH Lausanne widmen dem Architekten Alphonse Laverrière, der Lausanne in der ersten Jahrhunderthälfte mit prominenten Bauten entschieden mitgestaltet hat, eine Ausstellung und einen Katalog. Diese sind das Ergebnis einer zehnjährigen Auseinandersetzung mit Laverrières mehr als 50 000 Dokumente umfassendem Archiv.

Letzte Ruhestätte vieler Bewohner von Lausanne ist der Cimetière du Bois-de-Vaux. Dieser Friedhof gilt gemeinhin als das ausgereifteste Werk von Alphonse Laverrière (1872-1954). Mit der als Hauptachse durch die ganze Anlage geführten Allee ist dem Architekten hier ein überzeugendes Beispiel für die von ihm geforderten «grandes ordonnances» gelungen, denen sich Lausannes Topographie so sehr widersetzt. Von Laverrière stammen auch der Pont Chauderon (1901), der jüngst restaurierte Bahnhof (1908-16), das heutige Bundesgericht (1922-27) mit seinem neoklassizistischen Zug und das Hochhaus Bel- Air/Métropole (1929-31), neben der Kathedrale das bekannteste Bauwerk der Stadt, dessen Erstellung eine heftige Polemik (mit Ramuz an vorderster Front) auslöste, ein Waadtländer Wellenschlag der amerikanischen Wolkenkratzer.


Ein halbes Jahrhundert Lausanne

Das Werk, das den Namen des in Carouge geborenen Laverrière zuerst bekannt machte, war das Reformatoren-Denkmal (1908-17) in Genf. Laverrière war - auch auf eidgenössischer Ebene - vielfältig aktiv und engagiert, lehrte an der Zürcher ETH und gehörte zu den Gründern der 1913 nach dem Vorbild des Werkbundes ins Leben gerufenen welschen Vereinigung für Kunst und Industrie, «Œuvre», die sich allerdings progressiveren Ideen nur wenig öffnete (was Le Corbusier veranlasste, sich nach anfänglichem Engagement zurückzuziehen). Laverrière fand Zugang zur Neuenburger Uhrenindustrie. Die Zusammenarbeit mit Favre-Jaccot («Zenith») erstreckte sich in den zwanziger Jahren vom Projekt für eine Fabrik in Le Locle über die Gestaltung von Uhrengeschäften in verschiedenen Städten - im Sinne eines einheitlichen Markenauftritts - bis zu Entwürfen für Pendulen. Den Schwerpunkt seiner Tätigkeit bildete aber Lausanne, wo sich Laverrière 1901 einrichtete; sein letztes Projekt, ein Verwaltungsgebäude neben dem Bahnhof, wurde in den Jahren 1948 bis 1950 ausgeführt. Nicht nur die Anzahl seiner Bauten ist bedeutend; er konnte vor allem an städtebaulich wichtigen Standorten sowohl im Zentrum als auch in den Entwicklungszonen projektieren. Selten hat ein Architekt eine Stadt in dieser Weise mitgestaltet.

Seine Arbeiten hörten über die Polemiken zu Lebzeiten hinaus nicht auf zu irritieren, und das nicht nur der verwirrlichen Stilvielfalt des Eklektikers wegen. Man hat schlicht Mühe, den ausgewogenen Payot-Bau hinter der Kirche Saint-François, der über Jahrzehnte die Buchhandlung dieses Namens beherbergte, und den Bel-Air-Turm unter einen Hut zu bringen, von den nicht realisierten Verwaltungstrakten ganz zu schweigen, die er hinter der Kathedrale projektierte und denen die halbe Cité geopfert werden sollte.

Dieser vielfältigen Persönlichkeit widmen nun die Archives de la construction moderne (ACM) der ETH Lausanne eine Ausstellung, zu der ein gewichtiger Katalog erschienen ist. Ein Falzprospekt schlägt einen Rundgang durch die Stadt - vorbei an sechzehn Grünanlagen und Bauten Laverrières - vor. Ausstellung und Katalog sind die Frucht einer zehnjährigen Auseinandersetzung mit dem gut 50 000 Dokumente umfassenden persönlichen Archiv Laverrières, das die Nachkommen des Architekten 1989 den ACM anvertraut haben.

Laverrière dokumentierte sein Schaffen mit so viel Eifer und Akribie, wie er seine Karriere mit Geschick und Umsicht förderte und konstruierte. Eine Abteilung der Ausstellung zeigt, wie er mit besonders angefertigten Darstellungen an seinem Image arbeitete, für die Photos seiner Bauten mit Sorgfalt die fähigsten Photographen heranzog, in renommierte Fachperiodika Eingang fand und anhand des «Argus» Erfolgskontrolle betrieb. Das auch auf Selbstdarstellung angelegte persönliche Archiv wurde den jungen ACM zum Lehr- und Übungsstück, an dem sie, wie der Archivleiter, Pierre Frey, im ersten Beitrag des Kataloges darlegt, ihre Prinzipien und Methoden entwickeln konnten. In den weiteren Aufsätzen des Katalogs versuchen mehrere Autoren mit minuziösen Untersuchungen einzelne Aspekte der brillanten Architektenkarriere zu erhellen, die - wie Armand Brulhart in seinen Ausführungen über Laverrières Ausbildungszeit anmerkt - die ziemlich hilflosen Zeichnungen in der Jugend nicht vorausahnen liessen.


Mechanismen der Stadtentwicklung

ie Aufsätze analysieren die vielfältigen Beziehungsnetze, in denen sich Laverrière bewegte und die bei den verschiedenen Projekten wirksam wurden. Die Absolventen der Pariser Ecole nationale supérieure des Beaux-Arts, an der Laverrière zwischen 1892 und 1901 seine Ausbildung erhalten hatte, übten in der Westschweiz massgeblich Einfluss auf die Gestaltung der Wettbewerbe aus und entwickelten eine beträchtliche Fähigkeit, diese auch zu gewinnen. Zeit seines Lebens blieb Laverrière mit Jean Taillens (Partner unter anderem bei den Projekten für das Reformatoren- Denkmal und den Bahnhof) befreundet; die Rolle, die Taillens in diesem Umfeld spielte, geht zwar nach Frey aus Laverrières Archiv nicht deutlicher hervor, doch dürfte der Beitrag seines Talentes beträchtlich gewesen sein. Auffällig sind die Begabung Laverrières zur Zusammenarbeit (z. B. mit Ingenieuren und Technikern beim Bahnhof oder beim Pont Chauderon) und auch die Bereitschaft zur Berücksichtigung von «Kundenwünschen», die bei dem vom Zürcher Unternehmer Eugen Scotoni gebauten Bel-Air-Turm offenbar weit reichte. Laverrière verstand es, die Fäden in der Hand zu behalten. Interessengruppen wie die Vereinigung «Œuvre», die er zwei Jahrzehnte lang präsidierte, waren ihm da ein nützliches Instrument.

Jedenfalls erfordert Laverrières Schaffen eine differenzierte Beurteilung, zu der dieser Katalog - im Sinne eines «offenen Systems» - kritische Anstösse geben will, ohne sie schon vorzunehmen. Indem die Aufsätze unter anderem in detaillierten Projektierungsgeschichten versuchen, das ganze Zusammenspiel der «building practitioners» in die Untersuchungen einzubeziehen, gewähren sie - fast mehr als ein Bild Laverrières entstehen zu lassen - Einblicke in das urbanistische Räderwerk einer Stadt, die eine komplexe Topographie vor ganz ausserordentliche städtebauliche Probleme stellt, seit sie um 1800 herum ihre alten Konturen zu überwuchern begann. (Bis 28. Oktober)


[ Katalog: Alphonse Laverrière. 1872-1954. Parcours dans les archives d'un architecte. Hrsg. Pierre Frey. Presses polytechniques fédérales de Lausanne, Lausanne 1999. 273 S., Fr. 49.50. ]