Artikel
«Wo jedes Gebäude sein bestimmtes Gesicht haben soll»
Architektonischer Neorealismo in Italien nach dem Zweiten Weltkrieg
Der grossspurigen faschistischen Rhetorik stellten italienische Intellektuelle die wahrheitsgetreue Darstellung des Alltagslebens gegenüber. Dieser «Neorealismo» griff auch auf die Architektur über, die jegliche Monumentalität zugunsten einer neuen Eingängigkeit und Gemütlichkeit aufgab.
2. Dezember 2006 - Vittorio Magnago Lampugnani
In der Zeitschrift «Domus», deren Leitung er gerade von Gio Ponti übernommen hatte, beschwor Ernesto Nathan Rogers im Januar 1946 in einem programmatischen Essay mit dem ebenso lapidaren wie suggestiven Titel «La casa dell'uomo» ein allenthalben rissiges, dem Wind und dem Regen ausgesetztes Haus, das einzig vom Wehgeschrei der Frauen und Kinder erfüllt sei. Die Metapher verwies auf die Architektur tout court, vor allem aber auf jene Italiens. Dabei ging es Rogers nicht einfach um den Wiederaufbau der Häuser und Städte, die durch den Zweiten Weltkrieg zerstört worden waren. Er sah das Land vor allem moralisch beschädigt und forderte zusammen mit der Neugestaltung der italienischen Architekturlandschaft auch jene der Gesellschaft, die sie bewohnen würde: Damit machte sich Rogers zum Sprachrohr und Interpreten einer ganzen Generation jüngerer italienischer Architekten, die sich im Nachkriegs-Italien architektonisch ebenso wie politisch neu zu orientieren versuchten.
KULTURELLE BEFREIUNGSVERSUCHE
Bereits in den dreissiger Jahren hatten einige italienische Schriftsteller begonnen, nach Alternativen zur spätsymbolistischen und spätfuturistischen Literatur, vor allem aber zu der vom Faschismus propagierten hohlen Magniloquenz zu suchen. Dafür knüpften sie am Verismo an, der Ende des 19. Jahrhunderts die schonungslose Darstellung der Wirklichkeit und die unverfälschte Offenlegung ihrer harten Bedingungen auf seine Fahnen geschrieben hatte. Den heroischen Themen der regimefreundlichen Schreibkunst setzten Dichter wie Alberto Moravia oder Elio Vittorini lebensnahe Motive, das Schicksal von kleinen Leuten, die Kämpfe der Arbeiter, Bauern und Partisanen entgegen; der bewusst altertümelnden Sprache eine leicht verständliche Ausdrucksweise; der nationalistischen und zunehmend rassistischen Masseneuphorie die Heroisierung des einzelnen Uomo della strada.
Der italienische Film nahm etwa zur gleichen Zeit eine ähnliche entzauberte Haltung wie die Literatur ein. Noch während die propagandistischen Dokumentarfilme des Istituto Nazionale Luce unter geschickter Verwendung der vom Futurismus und Konstruktivismus entwickelten Bild- und Schnitttechniken die Taten von Mussolini verherrlichten, zeigte Luchino Visconti in «Ossessione» (1942) neben dem Liebesdrama der beiden Hauptdarsteller in betont ruhigen Folgen eine Sequenz von Landschaften, die Italien so zeigten, wie es war, und nicht so, wie es das Regime gern umgestaltet hätte. Nicht die Kraft des Individuums inmitten einer egalisierenden kollektiven Masse stand im Mittelpunkt, sondern das Einzelschicksal einfacher Menschen; nicht zu Stein gewordene monumentale Grösse rahmte die Handlung ein, sondern ebenso schlichte wie stimmungsvolle Landschaftsbilder.
Anfang 1949 wurde mit einem Gesetz, das unter dem Namen «Piano Fanfani» bekannt werden sollte, die INA-Casa gegründet. Die Initiative verfolgte eine doppelte Zielsetzung: Es ging darum, die Wohnungsnot der Nachkriegszeit durch staatlich subventionierte kostengünstige Arbeiterwohnhäuser zu bekämpfen; aber auch und vor allem darum, Arbeitsplätze für die zahlreichen ungelernten Arbeitslosen zu schaffen, die vorwiegend aus Süditalien stammten und von der Industrie nicht aufgenommen werden konnten. Damit stand von vornherein fest, dass das INA-Casa- Programm bevorzugt arbeitsintensive, also traditionelle Bauweisen fördern würde und nicht industrielle Konstruktionstechniken.
Organisatorisch wurde die INA-Casa als autonome Institution innerhalb des INA (Istituto Nazionale delle Assicurazioni) eingerichtet und dem Ministero del Lavoro unterstellt. Finanziert wurde sie über Staatsbeiträge, die zum Teil über den Marshallplan flossen, sowie über Pflichtabgaben der Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Ihre Kompetenzen beschränkten sich auf die Förderung und die Bewirtschaftung eines grossangelegten Bauprogramms für preisgünstige Wohnungen, schlossen aber keinerlei städtebauliche Planungshoheit ein, die weiterhin bei den Gemeinden verblieb. Die Grundstücke wurden auf dem freien Markt erworben, die Wohnungen zur Hälfte vermietet und zur Hälfte verkauft. Die Berechtigung wurde nach komplizierten Schlüsseln ermittelt, wobei Familiengrösse und Bedürftigkeit die wichtigsten Kriterien für Priorität waren.
Zum Leiter des Verwaltungsrats wurde der konservative Baumeister Arnaldo Foschini ernannt und die Direktion des Projektierungsbüros dem rationalistischen Architekten Adalberto Libera anvertraut. Einer der wichtigsten Mitarbeiter war der moderate Modernist Mario De Renzi. Unter ihrer kulturell, aber auch politisch heterogen zusammengewürfelten Equipe verabschiedete die INA-Casa zwei Normenbändchen, die 1949 und 1950 erschienen. Sie artikulierten nicht nur die praktischen, sondern vor allem auch die ideologischen Richtlinien des Bauprogramms.
Im ersten Normenband wird für die Planung zusammenhängender Wohnquartiere eine maximale Dichte von 500 Einwohnern pro Hektare vorgeschrieben, gute Besonnung und Belüftung werden gefordert, und der geschlossene Block mit Innenhof wird abgelehnt. Für die Wohnungen werden die Trennung von Tag- und Nachtbereich, eine geräumige Loggia und ein Abstellraum verlangt. Der finanzielle Aufwand muss minimiert werden, aber nicht auf Kosten der Wohnlichkeit, denn «die Wohnung ist vor allem der Ort, an dem eine Familie wohnt und (. . .) der ihr ausser den primitiven vier Wänden mit einem Dach viele andere kleine Dinge bieten soll (. . .), die zusammen das gemütliche Haus ergeben».
PITTORESKE ARCHITEKTUR
Auf die Berücksichtigung des Genius Loci und der örtlichen Bautraditionen wird besonderer Wert gelegt; daraus ergibt sich vermeintlich zwangsläufig eine pittoreske städtebauliche und architektonische Anordnung: «Das Haus sollte zur Gestaltung der urbanen Umgebung beitragen und sich dabei die geistigen und materiellen Bedürfnisse des Menschen vergegenwärtigen (. . .), der die unendliche Wiederholung desselben Typs von Wohnung, innerhalb deren er seine eigene nur an der Nummer erkennt, weder liebt noch versteht (. . .). Die Gegebenheiten des Bodens, die Besonnung, die Landschaft, die Vegetation, der Farbcharakter werden die entwerferische Komposition beeinflussen, damit die Bewohner der neuen urbanen Kerne den Eindruck haben können, in diesen sei etwas Spontanes, etwas Echtes, etwas unlöslich mit dem Ort, auf dem sie stehen, Verbundenes.»
Der zweite Band von 1950 baut auf den Prinzipien des ersten auf, wendet sie jedoch auf die neue städtebauliche Zielsetzung der INA-Casa an: die in sich geschlossene autonome Arbeitersiedlung mit sämtlichen notwendigen Infrastrukturen. Auch dafür werden neben den gängigen hygienischen Postulaten Forderungen nach Vielfalt und Auflockerung aufgestellt. Um das Ziel der auch moralischen Gesundheit und des auch psychologischen Wohlbefindens zu erreichen, bedarf es eines Städtebaus und einer Architektur, die geeignet sind, die Identität der Bewohner zu fördern. Vorgeschlagen werden «verschiedene urbanistische Kompositionen, (. . .) bewegt, ausgeformt, um so gemütliche und erholsame Umgebungen zu schaffen (. . .), wo jedes Gebäude sein Gesicht haben soll und jeder mühelos sein Haus mit dem Gefühl wiederfinden soll, dass sich darin seine Persönlichkeit widerspiegelt».
Solche Empfehlungen bleiben nicht abstrakt, sondern werden mit konkreten Beispielen untermauert. Historische Stadtfassaden aus Amsterdam und Kopenhagen werden als Exempel «wahrer» spontaner Architektur angeführt, zeitgenössische Siedlungen aus Dänemark und Schweden zur Nachahmung empfohlen. Doch auch Entwürfe, die Teil des ersten INA-Casa-Programms sind, werden nicht ohne Stolz präsentiert: so die Häusergruppe in den Abruzzen von Piero Maria Lugli und die Siedlung Valco San Paolo in Rom von Saverio Muratori und De Renzi.
Es folgen zwanzig städtebauliche Vorschläge, die vor allem Rücksicht auf bestehende Bauten, auf landschaftliche Eigenheiten, auf topographische Besonderheiten und auf örtliche Traditionen nahelegen. Zu den Letzteren gehört auch die Farbe: «Die Rückkehr zum Gebrauch der Farbe, typisch für die italienische Architektur, ist in jedem Fall ratsam (. . .). Besonders bei den Siedlungen, wo die Notwendigkeiten der Ökonomie generell keine besonders vielfältige plastische Gestaltung erlauben, kann die Farbe dazu beitragen, die Wohnung zu individualisieren, die Einförmigkeit einer langen Reihe von Typenhäusern zu brechen und gleichzeitig ein wichtiges Element der Verbindung mit der Umgebung zu bilden.» Anschliessend wird auf Fragen der richtigen Aufteilung der Wohnung und ihrer kostengünstigen Realisierung eingegangen; erneut wird darauf hingewiesen, dass sie den Alltagsbedürfnissen der Arbeiter zu entsprechen haben und dass dafür diese genau eruiert werden müssen.
NEOREALISTISCHES BAUEN
Die beiden ersten Normenbände der INA-Casa legten mit bemerkenswerter Konkretheit und Präzision die ideologischen, sozialen, ökonomischen, technischen und nicht zuletzt kulturellen Strategien der Projekte fest, die im Rahmen des «Piano Fanfani» entstehen sollten. Umgekehrt aber beeinflussten auch die Projekte selbst die Normen, vor allem die des zweiten Bandes. Tatsächlich debütierte die INA-Casa mit kleinen innerstädtischen Wohnanlagen, musste aber bald aufgrund der zu hohen Bodenpreise auf vorstädtische Grundstücke ausweichen. Dort mussten grössere Siedlungen angelegt werden: eben die Überbauungen, die im zweiten Normenband propagiert wurden. Als er gedruckt wurde, befand sich das erste dieser Viertel, das Quartiere Tiburtino in Rom, gerade im Bau: Unter der Leitung von Ludovico Quaroni schuf eine Gruppe junger und jüngster Architekten eine dorfartige Hauskomposition, deren Anlage den romantischen Mythos der spontan gewachsenen Agglomeration und deren traditionelle handwerkliche Details die «heile Welt» der Bauern und Arbeiter nicht ohne Naivität beschwören. 1954 realisierte Mario Ridolfi, der sich selbst als Vorstadtarchitekt bezeichnete, die Wohntürme am Viale Etiopia, wiederum in Rom, die mit ihrer freien Anordnung, ihren ausgetüftelten Grundrissen, ihren schweren geneigten Dächern und ihrer ruppigen Ausführung traditionelle Werte wiederaufleben lassen. Damit hatte der architektonische Neorealismo zwei seiner konkreten Manifeste erhalten.
[ Prof. Dr. Vittorio Magnago Lampugnani ist Ordinarius für Geschichte des Städtebaus an der ETH Zürich und Architekt in Mailand. Als jüngste Publikation ist kürzlich im Quart-Verlag in Luzern sein Buch «Stadtarchitekturen» erschienen. ]
KULTURELLE BEFREIUNGSVERSUCHE
Bereits in den dreissiger Jahren hatten einige italienische Schriftsteller begonnen, nach Alternativen zur spätsymbolistischen und spätfuturistischen Literatur, vor allem aber zu der vom Faschismus propagierten hohlen Magniloquenz zu suchen. Dafür knüpften sie am Verismo an, der Ende des 19. Jahrhunderts die schonungslose Darstellung der Wirklichkeit und die unverfälschte Offenlegung ihrer harten Bedingungen auf seine Fahnen geschrieben hatte. Den heroischen Themen der regimefreundlichen Schreibkunst setzten Dichter wie Alberto Moravia oder Elio Vittorini lebensnahe Motive, das Schicksal von kleinen Leuten, die Kämpfe der Arbeiter, Bauern und Partisanen entgegen; der bewusst altertümelnden Sprache eine leicht verständliche Ausdrucksweise; der nationalistischen und zunehmend rassistischen Masseneuphorie die Heroisierung des einzelnen Uomo della strada.
Der italienische Film nahm etwa zur gleichen Zeit eine ähnliche entzauberte Haltung wie die Literatur ein. Noch während die propagandistischen Dokumentarfilme des Istituto Nazionale Luce unter geschickter Verwendung der vom Futurismus und Konstruktivismus entwickelten Bild- und Schnitttechniken die Taten von Mussolini verherrlichten, zeigte Luchino Visconti in «Ossessione» (1942) neben dem Liebesdrama der beiden Hauptdarsteller in betont ruhigen Folgen eine Sequenz von Landschaften, die Italien so zeigten, wie es war, und nicht so, wie es das Regime gern umgestaltet hätte. Nicht die Kraft des Individuums inmitten einer egalisierenden kollektiven Masse stand im Mittelpunkt, sondern das Einzelschicksal einfacher Menschen; nicht zu Stein gewordene monumentale Grösse rahmte die Handlung ein, sondern ebenso schlichte wie stimmungsvolle Landschaftsbilder.
Anfang 1949 wurde mit einem Gesetz, das unter dem Namen «Piano Fanfani» bekannt werden sollte, die INA-Casa gegründet. Die Initiative verfolgte eine doppelte Zielsetzung: Es ging darum, die Wohnungsnot der Nachkriegszeit durch staatlich subventionierte kostengünstige Arbeiterwohnhäuser zu bekämpfen; aber auch und vor allem darum, Arbeitsplätze für die zahlreichen ungelernten Arbeitslosen zu schaffen, die vorwiegend aus Süditalien stammten und von der Industrie nicht aufgenommen werden konnten. Damit stand von vornherein fest, dass das INA-Casa- Programm bevorzugt arbeitsintensive, also traditionelle Bauweisen fördern würde und nicht industrielle Konstruktionstechniken.
Organisatorisch wurde die INA-Casa als autonome Institution innerhalb des INA (Istituto Nazionale delle Assicurazioni) eingerichtet und dem Ministero del Lavoro unterstellt. Finanziert wurde sie über Staatsbeiträge, die zum Teil über den Marshallplan flossen, sowie über Pflichtabgaben der Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Ihre Kompetenzen beschränkten sich auf die Förderung und die Bewirtschaftung eines grossangelegten Bauprogramms für preisgünstige Wohnungen, schlossen aber keinerlei städtebauliche Planungshoheit ein, die weiterhin bei den Gemeinden verblieb. Die Grundstücke wurden auf dem freien Markt erworben, die Wohnungen zur Hälfte vermietet und zur Hälfte verkauft. Die Berechtigung wurde nach komplizierten Schlüsseln ermittelt, wobei Familiengrösse und Bedürftigkeit die wichtigsten Kriterien für Priorität waren.
Zum Leiter des Verwaltungsrats wurde der konservative Baumeister Arnaldo Foschini ernannt und die Direktion des Projektierungsbüros dem rationalistischen Architekten Adalberto Libera anvertraut. Einer der wichtigsten Mitarbeiter war der moderate Modernist Mario De Renzi. Unter ihrer kulturell, aber auch politisch heterogen zusammengewürfelten Equipe verabschiedete die INA-Casa zwei Normenbändchen, die 1949 und 1950 erschienen. Sie artikulierten nicht nur die praktischen, sondern vor allem auch die ideologischen Richtlinien des Bauprogramms.
Im ersten Normenband wird für die Planung zusammenhängender Wohnquartiere eine maximale Dichte von 500 Einwohnern pro Hektare vorgeschrieben, gute Besonnung und Belüftung werden gefordert, und der geschlossene Block mit Innenhof wird abgelehnt. Für die Wohnungen werden die Trennung von Tag- und Nachtbereich, eine geräumige Loggia und ein Abstellraum verlangt. Der finanzielle Aufwand muss minimiert werden, aber nicht auf Kosten der Wohnlichkeit, denn «die Wohnung ist vor allem der Ort, an dem eine Familie wohnt und (. . .) der ihr ausser den primitiven vier Wänden mit einem Dach viele andere kleine Dinge bieten soll (. . .), die zusammen das gemütliche Haus ergeben».
PITTORESKE ARCHITEKTUR
Auf die Berücksichtigung des Genius Loci und der örtlichen Bautraditionen wird besonderer Wert gelegt; daraus ergibt sich vermeintlich zwangsläufig eine pittoreske städtebauliche und architektonische Anordnung: «Das Haus sollte zur Gestaltung der urbanen Umgebung beitragen und sich dabei die geistigen und materiellen Bedürfnisse des Menschen vergegenwärtigen (. . .), der die unendliche Wiederholung desselben Typs von Wohnung, innerhalb deren er seine eigene nur an der Nummer erkennt, weder liebt noch versteht (. . .). Die Gegebenheiten des Bodens, die Besonnung, die Landschaft, die Vegetation, der Farbcharakter werden die entwerferische Komposition beeinflussen, damit die Bewohner der neuen urbanen Kerne den Eindruck haben können, in diesen sei etwas Spontanes, etwas Echtes, etwas unlöslich mit dem Ort, auf dem sie stehen, Verbundenes.»
Der zweite Band von 1950 baut auf den Prinzipien des ersten auf, wendet sie jedoch auf die neue städtebauliche Zielsetzung der INA-Casa an: die in sich geschlossene autonome Arbeitersiedlung mit sämtlichen notwendigen Infrastrukturen. Auch dafür werden neben den gängigen hygienischen Postulaten Forderungen nach Vielfalt und Auflockerung aufgestellt. Um das Ziel der auch moralischen Gesundheit und des auch psychologischen Wohlbefindens zu erreichen, bedarf es eines Städtebaus und einer Architektur, die geeignet sind, die Identität der Bewohner zu fördern. Vorgeschlagen werden «verschiedene urbanistische Kompositionen, (. . .) bewegt, ausgeformt, um so gemütliche und erholsame Umgebungen zu schaffen (. . .), wo jedes Gebäude sein Gesicht haben soll und jeder mühelos sein Haus mit dem Gefühl wiederfinden soll, dass sich darin seine Persönlichkeit widerspiegelt».
Solche Empfehlungen bleiben nicht abstrakt, sondern werden mit konkreten Beispielen untermauert. Historische Stadtfassaden aus Amsterdam und Kopenhagen werden als Exempel «wahrer» spontaner Architektur angeführt, zeitgenössische Siedlungen aus Dänemark und Schweden zur Nachahmung empfohlen. Doch auch Entwürfe, die Teil des ersten INA-Casa-Programms sind, werden nicht ohne Stolz präsentiert: so die Häusergruppe in den Abruzzen von Piero Maria Lugli und die Siedlung Valco San Paolo in Rom von Saverio Muratori und De Renzi.
Es folgen zwanzig städtebauliche Vorschläge, die vor allem Rücksicht auf bestehende Bauten, auf landschaftliche Eigenheiten, auf topographische Besonderheiten und auf örtliche Traditionen nahelegen. Zu den Letzteren gehört auch die Farbe: «Die Rückkehr zum Gebrauch der Farbe, typisch für die italienische Architektur, ist in jedem Fall ratsam (. . .). Besonders bei den Siedlungen, wo die Notwendigkeiten der Ökonomie generell keine besonders vielfältige plastische Gestaltung erlauben, kann die Farbe dazu beitragen, die Wohnung zu individualisieren, die Einförmigkeit einer langen Reihe von Typenhäusern zu brechen und gleichzeitig ein wichtiges Element der Verbindung mit der Umgebung zu bilden.» Anschliessend wird auf Fragen der richtigen Aufteilung der Wohnung und ihrer kostengünstigen Realisierung eingegangen; erneut wird darauf hingewiesen, dass sie den Alltagsbedürfnissen der Arbeiter zu entsprechen haben und dass dafür diese genau eruiert werden müssen.
NEOREALISTISCHES BAUEN
Die beiden ersten Normenbände der INA-Casa legten mit bemerkenswerter Konkretheit und Präzision die ideologischen, sozialen, ökonomischen, technischen und nicht zuletzt kulturellen Strategien der Projekte fest, die im Rahmen des «Piano Fanfani» entstehen sollten. Umgekehrt aber beeinflussten auch die Projekte selbst die Normen, vor allem die des zweiten Bandes. Tatsächlich debütierte die INA-Casa mit kleinen innerstädtischen Wohnanlagen, musste aber bald aufgrund der zu hohen Bodenpreise auf vorstädtische Grundstücke ausweichen. Dort mussten grössere Siedlungen angelegt werden: eben die Überbauungen, die im zweiten Normenband propagiert wurden. Als er gedruckt wurde, befand sich das erste dieser Viertel, das Quartiere Tiburtino in Rom, gerade im Bau: Unter der Leitung von Ludovico Quaroni schuf eine Gruppe junger und jüngster Architekten eine dorfartige Hauskomposition, deren Anlage den romantischen Mythos der spontan gewachsenen Agglomeration und deren traditionelle handwerkliche Details die «heile Welt» der Bauern und Arbeiter nicht ohne Naivität beschwören. 1954 realisierte Mario Ridolfi, der sich selbst als Vorstadtarchitekt bezeichnete, die Wohntürme am Viale Etiopia, wiederum in Rom, die mit ihrer freien Anordnung, ihren ausgetüftelten Grundrissen, ihren schweren geneigten Dächern und ihrer ruppigen Ausführung traditionelle Werte wiederaufleben lassen. Damit hatte der architektonische Neorealismo zwei seiner konkreten Manifeste erhalten.
[ Prof. Dr. Vittorio Magnago Lampugnani ist Ordinarius für Geschichte des Städtebaus an der ETH Zürich und Architekt in Mailand. Als jüngste Publikation ist kürzlich im Quart-Verlag in Luzern sein Buch «Stadtarchitekturen» erschienen. ]
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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