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Vorherrschaft des Plans
Das Architektenduo Van den Broek und Bakema in Rotterdam
Innerhalb der niederländischen Nachkriegsarchitektur nehmen J. H. Van den Broek und J. B. Bakema eine zentrale Position ein. Zusammen leiteten sie in Rotterdam ein international einflussreiches Architekturbüro. Ihrer Entwurfsarbeit, die sich zwischen Architektur und Urbanismus bewegte, widmet das Nederlands Architectuur Instituut in Rotterdam eine grosse Ausstellung.
15. März 2000 - Johann Christoph Reidemeister
Vom Wilhelmina-Pier im Rotterdamer Hafen liefen einst die Schiffe der Holland Amerika Lijn (HAL) in Richtung Amerika aus. Der ganze Pier war bebaut mit Hallen und Verwaltungshäusern; und seit 1937 arbeitete das Architekturbüro Van den Broek und Bakema an den Plänen für einen neuen Passagierterminal. Doch das Projekt erfuhr durch den Krieg eine Verzögerung, so dass sich der zweigeschossige Sichtbetonbau mit den sechs markant geschwungenen, auf die Wogen des Meers anspielenden Dachwellen erst 1949 über dem Ufer der Maas erhob. Seither durchliefen die Reisenden eine fordistisch durchorganisierte Abfertigungsmaschinerie, die noch vor dem Ablegen auf die Modernität und Effizienz Amerikas einstimmte und die ersehnte Ferne gewissermassen schon hier stattfinden liess.
Die Architekten bildeten die Richtung der Passagierströme vom Land zum Wasser in quergelegten Hallen nach. Zu beiden Seiten füllt ein quadratisches Fensterraster die 18 Meter weiten Betonbögen. Die zwei Geschosse sind gegeneinander versetzt und lassen an den Längsseiten Arkaden oder einen als Reling geschmückten Vorsprung entstehen. Nach aussen bilden sie die funktionale Trennung ab: Im unteren Geschoss drehte ein Gepäckband seine Kreise, während die Passagierzone in den Hallen im ersten Stock untergebracht war, zu der eine freischwebende Betontreppe in pointierter Leichtigkeit hinaufführt. Der Purismus der weiss getünchten Wände, die Transparenz der Verglasung und die Stahlbetonkonstruktion lassen keinen Zweifel daran, dass dies kein Ort des Ankommens, sondern des Aufbruchs sein wollte.
Aufbruch in die Nachkriegsmoderne
Den Architekten dieses gebauten Sprungbretts in die Nachkriegsmoderne widmet derzeit das Nederlands Architectuur Instituut (NAI) in Rotterdam eine erste umfassende Retrospektive. Das Bild dieser Stadt haben Van den Broek und Bakema massgeblich mitgeprägt, besonders in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Das Bombardement durch die deutsche Luftwaffe im Mai 1940 zerstörte den Stadtkern Rotterdams bis auf wenige Gebäude. Im Rahmen des Wiederaufbaus entlud sich die seit dem Beginn des Jahrhunderts gewachsene Faszination für eine durchorganisierte moderne Welt, wie sie in J. J. P. Ouds Siedlungen schon in den zwanziger Jahren realisiert worden war, mit aller Wucht. Doch Wesen und Dimension der Planungen der Nachkriegszeit unterschieden sich deutlich von den ambitionierten frühen Projekten, bei denen architektonischer Gestaltungswille Hand in Hand mit sozialreformerischen Anliegen ganz neue Formen hervorbrachte.
Bei den Strukturplänen Van den Broeks und Bakemas schwebt dagegen fast immer ein organisatorischer Furor über einer Agglomeration von Betonbauten. Funktionalität und Sachzwänge wie Wohnungsnot und knappe Mittel führten zu einer Nüchternheit im architektonischen Anspruch, der bald schon zu seelenlosen Bettenburgen führte. Zuflucht vor der Bewältigung der drängenden Aufgaben suchten Van den Broek und Bakema nicht zuletzt im planerischen Schematismus. Ihre Baukörper gruppierten sie gemäss imaginierter geometrischer Gesetze zu abstrakten Beziehungskompositionen. Hohe und niedrige Häuser im Wechsel garantierten die kontrollierte Strukturierung der Bauaufgabe ebenso wie der Dialog zwischen bebauten und freien Flächen. Eine Art Piet Mondrian in Stahlbeton war das Resultat. Doch die Rechnung ging nicht immer auf, denn der Betrachter stand nicht vor einem Gemälde, sondern ging auf vorgezeichneten Wegen. Die feinen Balancen wandelten sich zu drückender Starre.
Der ab 1946 geltende Rotterdamer Stadtbebauungsplan von Van Traa ermöglichte es Van den Broek und Bakema, erstmals ihre Konzepte umzusetzen. Die von ihnen erbaute und schnell zu einer Ikone der Fünfziger-Jahre-Architektur avancierte Geschäftspassage entlang der «Lijnbaan» genannten Fussgängerzone stellte das neue Herz einer Zukunftsstadt dar und zugleich ein Modell für andere Städte Europas. Standardisierung und Vorfabrikation waren die Schlagworte einer Nachkriegsmoderne, die einer neuen Gesellschaft ihre Form geben wollte. Zweigeschossige Pavillons nehmen die 65 Geschäfte auf, die sich den Raum hinter den Fassaden aus vorgefertigten Betonelementen mittels variabel einziehbarer Backsteinmauern aufteilen. Arkaden, eingefasste Blumenbeete und eine gezielte Pflästerung bestimmen den Gesamteindruck. Büro- und Wohnraum erhalten ihre eigenen Gebäude, die sich hinter der Geschäftsstrasse auftürmen.
Den stadtstrukturierenden Wiederaufbau propagierten Van den Broek und Bakema in gross angelegten Projekten auch noch in den siebziger Jahren. Als «Stadtreparaturen» verliessen Vorschläge das Büro, die mit durchgehenden Superblocks entlang der Hauptverkehrsachse eine Spange in das Stadtgewühl warfen, die aber wie eine Mauer teilte, statt wie beabsichtigt zu einen. Die gigantischen Apartmentriegel waren Kerngedanke der an den Metabolismus erinnernden Kraftvisionen Bakemas, der mit ihnen im Gepäck umherreiste. Doch sie fielen alle durch, ob in Amsterdam, Berlin, Frankfurt, Tel Aviv oder Zürich. Niemand war mehr mit diesem Konzept zu beglücken. Der Vergleich mit dem HAL-Terminal oder den frühen Privathäusern, zumeist von Van den Broek, verdeutlicht die Trendwende innerhalb des Büros. Die architektonische Gestaltung individueller Bauaufgaben wurde zugunsten der Planung ganzer Städte aufgegeben.
Hermetische Ausstellung
Die Ausstellung konzentriert sich nicht immer zu ihrem Vorteil auf Arbeiten und Denken Bakemas. Das Werk Van den Broeks steht ebenso im Hintergrund, wie die Historie des Büros überhaupt unterschlagen wird. Nicht zwei gleichgesinnte Baumeister haben über dem Zeichenbrett zusammengefunden, sondern eine Abfolge wechselnder Partnerkonstellationen ergibt in Wirklichkeit eine Generationengeschichte höchster Brisanz. Die Rollen der Architekten-Paare besetzten nacheinander Brinkman, Brinkman & Van der Vlugt, Brinkman & Van den Broek, Van den Broek & Bakema. Die Chance, mit einer Betrachtung der vier Architekten zusammen nicht nur eine Chronik des Bauens in Rotterdam seit den zwanziger Jahren und den dominierenden Einfluss dieses Büros entwerfen zu können, sondern den Weg der Architektur des vergangenen Jahrhunderts von individueller Gestaltung zu zunehmend standardisierten Massenkonzeptionen nachzeichnen und daran den Konflikt zwischen architekturimmanenten Ansprüchen und gesellschaftlich bedingten Umständen erfahrbar machen zu können, wurde nicht wahrgenommen.
Statt dessen dokumentiert die Schau Entwürfe und Modelle, ohne sie in Problematik und Wollen der Zeit einzuordnen, so dass das ungeübte Auge an der Sparsamkeit vieler Arbeiten in Unverständnis und Desinteresse abzurutschen droht. Wer nicht bereit ist, sich der vielen offenen Fragen selbst anzunehmen, läuft Gefahr, ohne grossen Gewinn den Parcours durch die in erläuternden Gitterkäfigen untergebrachten und über luftige Rampen verknüpften Periodenräume wieder zu verlassen.
Johann Reidemeister
Die Ausstellung im NAI dauert bis zum 24. April. Der Katalog: Van den Broek en Bakema. 1948-1988. Architectuur en stedenbouw. Hrsg. Hans Ibelings. NAI Publishers, Rotterdam 2000. 203 S., hfl. 49.50.
Die Architekten bildeten die Richtung der Passagierströme vom Land zum Wasser in quergelegten Hallen nach. Zu beiden Seiten füllt ein quadratisches Fensterraster die 18 Meter weiten Betonbögen. Die zwei Geschosse sind gegeneinander versetzt und lassen an den Längsseiten Arkaden oder einen als Reling geschmückten Vorsprung entstehen. Nach aussen bilden sie die funktionale Trennung ab: Im unteren Geschoss drehte ein Gepäckband seine Kreise, während die Passagierzone in den Hallen im ersten Stock untergebracht war, zu der eine freischwebende Betontreppe in pointierter Leichtigkeit hinaufführt. Der Purismus der weiss getünchten Wände, die Transparenz der Verglasung und die Stahlbetonkonstruktion lassen keinen Zweifel daran, dass dies kein Ort des Ankommens, sondern des Aufbruchs sein wollte.
Aufbruch in die Nachkriegsmoderne
Den Architekten dieses gebauten Sprungbretts in die Nachkriegsmoderne widmet derzeit das Nederlands Architectuur Instituut (NAI) in Rotterdam eine erste umfassende Retrospektive. Das Bild dieser Stadt haben Van den Broek und Bakema massgeblich mitgeprägt, besonders in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Das Bombardement durch die deutsche Luftwaffe im Mai 1940 zerstörte den Stadtkern Rotterdams bis auf wenige Gebäude. Im Rahmen des Wiederaufbaus entlud sich die seit dem Beginn des Jahrhunderts gewachsene Faszination für eine durchorganisierte moderne Welt, wie sie in J. J. P. Ouds Siedlungen schon in den zwanziger Jahren realisiert worden war, mit aller Wucht. Doch Wesen und Dimension der Planungen der Nachkriegszeit unterschieden sich deutlich von den ambitionierten frühen Projekten, bei denen architektonischer Gestaltungswille Hand in Hand mit sozialreformerischen Anliegen ganz neue Formen hervorbrachte.
Bei den Strukturplänen Van den Broeks und Bakemas schwebt dagegen fast immer ein organisatorischer Furor über einer Agglomeration von Betonbauten. Funktionalität und Sachzwänge wie Wohnungsnot und knappe Mittel führten zu einer Nüchternheit im architektonischen Anspruch, der bald schon zu seelenlosen Bettenburgen führte. Zuflucht vor der Bewältigung der drängenden Aufgaben suchten Van den Broek und Bakema nicht zuletzt im planerischen Schematismus. Ihre Baukörper gruppierten sie gemäss imaginierter geometrischer Gesetze zu abstrakten Beziehungskompositionen. Hohe und niedrige Häuser im Wechsel garantierten die kontrollierte Strukturierung der Bauaufgabe ebenso wie der Dialog zwischen bebauten und freien Flächen. Eine Art Piet Mondrian in Stahlbeton war das Resultat. Doch die Rechnung ging nicht immer auf, denn der Betrachter stand nicht vor einem Gemälde, sondern ging auf vorgezeichneten Wegen. Die feinen Balancen wandelten sich zu drückender Starre.
Der ab 1946 geltende Rotterdamer Stadtbebauungsplan von Van Traa ermöglichte es Van den Broek und Bakema, erstmals ihre Konzepte umzusetzen. Die von ihnen erbaute und schnell zu einer Ikone der Fünfziger-Jahre-Architektur avancierte Geschäftspassage entlang der «Lijnbaan» genannten Fussgängerzone stellte das neue Herz einer Zukunftsstadt dar und zugleich ein Modell für andere Städte Europas. Standardisierung und Vorfabrikation waren die Schlagworte einer Nachkriegsmoderne, die einer neuen Gesellschaft ihre Form geben wollte. Zweigeschossige Pavillons nehmen die 65 Geschäfte auf, die sich den Raum hinter den Fassaden aus vorgefertigten Betonelementen mittels variabel einziehbarer Backsteinmauern aufteilen. Arkaden, eingefasste Blumenbeete und eine gezielte Pflästerung bestimmen den Gesamteindruck. Büro- und Wohnraum erhalten ihre eigenen Gebäude, die sich hinter der Geschäftsstrasse auftürmen.
Den stadtstrukturierenden Wiederaufbau propagierten Van den Broek und Bakema in gross angelegten Projekten auch noch in den siebziger Jahren. Als «Stadtreparaturen» verliessen Vorschläge das Büro, die mit durchgehenden Superblocks entlang der Hauptverkehrsachse eine Spange in das Stadtgewühl warfen, die aber wie eine Mauer teilte, statt wie beabsichtigt zu einen. Die gigantischen Apartmentriegel waren Kerngedanke der an den Metabolismus erinnernden Kraftvisionen Bakemas, der mit ihnen im Gepäck umherreiste. Doch sie fielen alle durch, ob in Amsterdam, Berlin, Frankfurt, Tel Aviv oder Zürich. Niemand war mehr mit diesem Konzept zu beglücken. Der Vergleich mit dem HAL-Terminal oder den frühen Privathäusern, zumeist von Van den Broek, verdeutlicht die Trendwende innerhalb des Büros. Die architektonische Gestaltung individueller Bauaufgaben wurde zugunsten der Planung ganzer Städte aufgegeben.
Hermetische Ausstellung
Die Ausstellung konzentriert sich nicht immer zu ihrem Vorteil auf Arbeiten und Denken Bakemas. Das Werk Van den Broeks steht ebenso im Hintergrund, wie die Historie des Büros überhaupt unterschlagen wird. Nicht zwei gleichgesinnte Baumeister haben über dem Zeichenbrett zusammengefunden, sondern eine Abfolge wechselnder Partnerkonstellationen ergibt in Wirklichkeit eine Generationengeschichte höchster Brisanz. Die Rollen der Architekten-Paare besetzten nacheinander Brinkman, Brinkman & Van der Vlugt, Brinkman & Van den Broek, Van den Broek & Bakema. Die Chance, mit einer Betrachtung der vier Architekten zusammen nicht nur eine Chronik des Bauens in Rotterdam seit den zwanziger Jahren und den dominierenden Einfluss dieses Büros entwerfen zu können, sondern den Weg der Architektur des vergangenen Jahrhunderts von individueller Gestaltung zu zunehmend standardisierten Massenkonzeptionen nachzeichnen und daran den Konflikt zwischen architekturimmanenten Ansprüchen und gesellschaftlich bedingten Umständen erfahrbar machen zu können, wurde nicht wahrgenommen.
Statt dessen dokumentiert die Schau Entwürfe und Modelle, ohne sie in Problematik und Wollen der Zeit einzuordnen, so dass das ungeübte Auge an der Sparsamkeit vieler Arbeiten in Unverständnis und Desinteresse abzurutschen droht. Wer nicht bereit ist, sich der vielen offenen Fragen selbst anzunehmen, läuft Gefahr, ohne grossen Gewinn den Parcours durch die in erläuternden Gitterkäfigen untergebrachten und über luftige Rampen verknüpften Periodenräume wieder zu verlassen.
Johann Reidemeister
Die Ausstellung im NAI dauert bis zum 24. April. Der Katalog: Van den Broek en Bakema. 1948-1988. Architectuur en stedenbouw. Hrsg. Hans Ibelings. NAI Publishers, Rotterdam 2000. 203 S., hfl. 49.50.
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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