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Kakofonie der Megalopolis
Auf der Suche nach der Urbanität der Städte des 21. Jahrhunderts
12. Juli 2008 - Joachim Güntner
Als der Dokumentarfilmer Walther Ruttmann 1927 die «Sinfonie der Grossstadt» auf Zelluloid zu bannen suchte, wählte er dazu Berlin. Die deutsche Metropole galt ihm als Exempel einer Moderne, in welcher der städtische Tagesablauf bei allem Tempo noch gegliedert, die Differenz von Stadt und Land noch erhalten, das Nacheinander von Arbeit und Musse als Moment sozialer Ordnung kenntlich blieb. Der Film zeigt Dynamik, jedoch kein uferloses Chaos, und Urbanität hat hier ein menschliches Gesicht.
Schrumpfstädte und Megacitys
Heute würde ein auf Modernität erpichter Filmemacher eine andere Metropole wählen müssen. Berlin ist nicht mehr extrem genug. Dann besser die Megalopolis Tokio – sofern es ein Beispiel aus der Ersten Welt sein soll, ein Geschöpf ziviler Prosperität. Oder liegt die Zukunft im staatlichen chinesischen Hochgeschwindigkeits-Urbanismus, der mit Hilfe westlicher Stararchitekten ganze Städte vom Reissbrett weg baut? Ein zeitgenössischer Ruttmann könnte sich auch an die Armuts-Wucherungen der Dritten Welt halten, an Dakar, Lagos und teilweise São Paulo. Hier stossen Slum und «Gated Community» aufeinander, und direkt neben den Wellblechhütten der Favelas, denen ein simpler Wasserhahn zum Händewaschen fehlt, ragen Bauten mit Luxusappartements empor, deren Balkone Swimmingpools tragen. Sinfonien lassen sich aus diesen Szenarien keine mehr komponieren, und so wäre «Kakofonie der Grossstadt» jetzt wohl der Titel der Wahl.
Es ist noch gar nicht so lange her, da wurde die Stadt in urbanistischen Theorien für tot erklärt. Seit jüngstem indes wird eine gegenteilige Parole ausgegeben: Das 21. Jahrhundert, heisst es, sei das «Jahrhundert der Städte». In der nördlichen Hemisphäre mögen sie stagnieren oder schrumpfen, auf der Südhälfte des Globus aber wuchern die Städte. Die Armen und Ärmsten suchen in ihnen ihr Heil und lassen so riesige Agglomerationen entstehen. Mehr als die Hälfte der Erdbevölkerung lebt mittlerweile in Städten, ein Siebtel in Slums. Noch um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war die Welt ländlich; die Stadtbewohner stellten einen Anteil von nur etwa fünfzehn Prozent. Die Megacitys des Südens haben mit enormen infrastrukturellen und sozialen Problemen zu kämpfen. Eine Stadt wie Dakar wächst jede Stunde statistisch um rund siebzig Zuzügler, Ähnliches gilt für Lagos. Der Verkehr bricht täglich zusammen, die Ökonomie ist Wildwuchs, die Verschmutzung enorm. Der «Planet der Slums», von dem der marxistische Historiker Mike Davis spricht, ist dadurch gekennzeichnet, dass sich Verstädterung, industrielle Entwicklung und ökonomisches Wachstum entkoppelt haben.
Am heutigen Freitagabend geht in Hamburg eine von der Stiftung des Wochenblatts «Die Zeit» initiierte Sommerakademie zu Ende. Einunddreissig Doktoranden hatte man aus über hundert Bewerbern ausgewählt, damit sie vier Tage lang unter der wissenschaftlichen Leitung des Raumsoziologen Dieter Läpple und des Romanisten Jürgen Trabant über «Stadt und Urbanität im 21. Jahrhundert» diskutieren. Dazu gesellten sich anerkannte Wissenschafter und Spezialisten, die als Referenten ihre Kenntnisse beisteuerten. Anschliessend konnten ihnen die jungen Leute auf den Zahn fühlen. Ein neutrales Forum für «wildes Denken» wolle die Sommerakademie bieten, hatte Projektleiter Markus Messling einleitend erklärt. Nicht die Referate der Prominenz, sondern die Diskussionen und Workshops seien die Hauptsache.
«Bringen Sie sich ein!», rief Messling in die Runde, die keineswegs nur aus angehenden Architekten bestand, sondern urbanistisch Interessierte aus Fächern wie Geografie und Volkswirtschaft, Literaturwissenschaft und Soziologie, Geschichte und Psychologie einschloss. Der Aufruf verhallte nicht ungehört. Wildes Denken blieb Mangelware, doch engagierte Nachfragen gab es reichlich. Ihr Opfer wurde Reinier de Graf, in Architekturkreisen hoch gehandelt als Kopf eines Think-Tanks, den sich Rem Koolhaas' Office for Metropolitan Architecture in Rotterdam leistet.
Gegen das Modell Dubai
Als de Graf auftrat, hatten die Doktoranden bereits die ersten Debatten hinter sich. Sie hatten nach Leitbildern von Urbanität gefragt, kritische Blicke auf segregiertes Wohnen geworfen und sich auf einer Führung durch Hamburgs neue Hafen-City als skeptisch gegen Versuche erwiesen, Stadtleben bis ins Letzte durchzuplanen. Sie hatten Differenz eingeklagt und einen von Saturiertheit noch freien Geist gezeigt. Und dann kam abends de Graf und fand für Dubai, dessen Herrscher eine groteske Moderne aus triumphierenden Hochhäusern aus dem Wüstensand hat stampfen und ins Meer hat pflanzen lassen, mehr affirmative als ablehnende Worte. Weil das Modell Dubai vielerorts Nachahmer finde, dürfe man es nicht nur belächeln, sondern müsse bei Ausschreibungen des Scheichs mitmachen, um bessere Bauten einzubringen, erklärte Reinier de Graf. Was er dann allerdings an Vorschlägen bot, fiel beim Auditorium als «pubertäre» Grossmannssucht durch. Schwer beleidigt war der Holländer. Lebendige Urbanität indessen sieht anders aus.
Schrumpfstädte und Megacitys
Heute würde ein auf Modernität erpichter Filmemacher eine andere Metropole wählen müssen. Berlin ist nicht mehr extrem genug. Dann besser die Megalopolis Tokio – sofern es ein Beispiel aus der Ersten Welt sein soll, ein Geschöpf ziviler Prosperität. Oder liegt die Zukunft im staatlichen chinesischen Hochgeschwindigkeits-Urbanismus, der mit Hilfe westlicher Stararchitekten ganze Städte vom Reissbrett weg baut? Ein zeitgenössischer Ruttmann könnte sich auch an die Armuts-Wucherungen der Dritten Welt halten, an Dakar, Lagos und teilweise São Paulo. Hier stossen Slum und «Gated Community» aufeinander, und direkt neben den Wellblechhütten der Favelas, denen ein simpler Wasserhahn zum Händewaschen fehlt, ragen Bauten mit Luxusappartements empor, deren Balkone Swimmingpools tragen. Sinfonien lassen sich aus diesen Szenarien keine mehr komponieren, und so wäre «Kakofonie der Grossstadt» jetzt wohl der Titel der Wahl.
Es ist noch gar nicht so lange her, da wurde die Stadt in urbanistischen Theorien für tot erklärt. Seit jüngstem indes wird eine gegenteilige Parole ausgegeben: Das 21. Jahrhundert, heisst es, sei das «Jahrhundert der Städte». In der nördlichen Hemisphäre mögen sie stagnieren oder schrumpfen, auf der Südhälfte des Globus aber wuchern die Städte. Die Armen und Ärmsten suchen in ihnen ihr Heil und lassen so riesige Agglomerationen entstehen. Mehr als die Hälfte der Erdbevölkerung lebt mittlerweile in Städten, ein Siebtel in Slums. Noch um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war die Welt ländlich; die Stadtbewohner stellten einen Anteil von nur etwa fünfzehn Prozent. Die Megacitys des Südens haben mit enormen infrastrukturellen und sozialen Problemen zu kämpfen. Eine Stadt wie Dakar wächst jede Stunde statistisch um rund siebzig Zuzügler, Ähnliches gilt für Lagos. Der Verkehr bricht täglich zusammen, die Ökonomie ist Wildwuchs, die Verschmutzung enorm. Der «Planet der Slums», von dem der marxistische Historiker Mike Davis spricht, ist dadurch gekennzeichnet, dass sich Verstädterung, industrielle Entwicklung und ökonomisches Wachstum entkoppelt haben.
Am heutigen Freitagabend geht in Hamburg eine von der Stiftung des Wochenblatts «Die Zeit» initiierte Sommerakademie zu Ende. Einunddreissig Doktoranden hatte man aus über hundert Bewerbern ausgewählt, damit sie vier Tage lang unter der wissenschaftlichen Leitung des Raumsoziologen Dieter Läpple und des Romanisten Jürgen Trabant über «Stadt und Urbanität im 21. Jahrhundert» diskutieren. Dazu gesellten sich anerkannte Wissenschafter und Spezialisten, die als Referenten ihre Kenntnisse beisteuerten. Anschliessend konnten ihnen die jungen Leute auf den Zahn fühlen. Ein neutrales Forum für «wildes Denken» wolle die Sommerakademie bieten, hatte Projektleiter Markus Messling einleitend erklärt. Nicht die Referate der Prominenz, sondern die Diskussionen und Workshops seien die Hauptsache.
«Bringen Sie sich ein!», rief Messling in die Runde, die keineswegs nur aus angehenden Architekten bestand, sondern urbanistisch Interessierte aus Fächern wie Geografie und Volkswirtschaft, Literaturwissenschaft und Soziologie, Geschichte und Psychologie einschloss. Der Aufruf verhallte nicht ungehört. Wildes Denken blieb Mangelware, doch engagierte Nachfragen gab es reichlich. Ihr Opfer wurde Reinier de Graf, in Architekturkreisen hoch gehandelt als Kopf eines Think-Tanks, den sich Rem Koolhaas' Office for Metropolitan Architecture in Rotterdam leistet.
Gegen das Modell Dubai
Als de Graf auftrat, hatten die Doktoranden bereits die ersten Debatten hinter sich. Sie hatten nach Leitbildern von Urbanität gefragt, kritische Blicke auf segregiertes Wohnen geworfen und sich auf einer Führung durch Hamburgs neue Hafen-City als skeptisch gegen Versuche erwiesen, Stadtleben bis ins Letzte durchzuplanen. Sie hatten Differenz eingeklagt und einen von Saturiertheit noch freien Geist gezeigt. Und dann kam abends de Graf und fand für Dubai, dessen Herrscher eine groteske Moderne aus triumphierenden Hochhäusern aus dem Wüstensand hat stampfen und ins Meer hat pflanzen lassen, mehr affirmative als ablehnende Worte. Weil das Modell Dubai vielerorts Nachahmer finde, dürfe man es nicht nur belächeln, sondern müsse bei Ausschreibungen des Scheichs mitmachen, um bessere Bauten einzubringen, erklärte Reinier de Graf. Was er dann allerdings an Vorschlägen bot, fiel beim Auditorium als «pubertäre» Grossmannssucht durch. Schwer beleidigt war der Holländer. Lebendige Urbanität indessen sieht anders aus.
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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