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Das vergessene Gesamtkunstwerk
Schauplatz St. Petersburg
Was Peter gross plante, hat die Geschichte klein gemacht
Als Peter der Grosse 1703 im Norden Russlands die neue Hauptstadt St. Petersburg realisieren liess, liess der Fürst auch gleichzeitig die gesamte Landschaft nach barockem Geschmack umgestalten. Mit der nach wenigen Jahren fertiggestellten «Petergofskaja Doroga», die heute in weiten Abschnitten kaum noch bekannt ist, verfolgte der Zar vor allem reformpädagogische Absichten.
Eingeweihte lassen sich von Metallzaun und Verbotsschildern schon lange nicht mehr beeindrucken. Wenn kein Wachsoldat in Sichtweite ist, gelangen sie durch grosse Löcher im militärischen Sperrriegel ungehindert in den einstmals bestgehüteten Marinestützpunkt der Sowjetunion. Mitten im Zentrum der früheren Garnisonsstadt Kronstadt auf der Halbinsel Kotlin im Finnischen Meerbusen erstrecken sich Trockendocks und Werkhallen, in denen bis vor einigen Jahren die Schiffe der baltischen Flotte überholt wurden. Manche der baufälligen Anlagen stammen noch aus der Zeit Peters des Grossen. Er hatte dem schwedischen Erzrivalen 1704 die vorgelagerte Festung Kronslott abgenommen und zum Schutz des entstehenden Sankt Petersburg Kronstadt erbauen lassen. Wurde die neue Hauptstadt zu «Russlands Fenster zum Westen» verklärt, diente das befestigte Kronstadt als Eingangstür zum Reich. Bis 1996 gehörte der Ort zum militärischen Sperrgebiet, das kein Aussenstehender betreten durfte. Verblüfft stellen die Besucher aus dem knapp 30 Kilometer entfernten Sankt Petersburg fest, dass die 45 000 Einwohner zählende Stadt mit ihren breiten Boulevards, grosszügig bemessenen Plätzen und repräsentativen Baudenkmälern ihrer eigenen Stadt stark ähnelt.
Bis ins Detail durchgeplant
Wie seine Hauptstadt hatte Peter auch Kronstadt bis ins Detail durchgeplant. «Er nahm einen Felsen, dann einen anderen und schmiedete so die ganze Stadt in der Luft zusammen. Erst dann stellt er sie auf die Erde», verklärte Fürst Wladimir Odojewski in einem romantischen Märchen die Entstehungsgeschichte. Peter der Grosse betrieb jedoch nicht nur Stadtplanung, er liess die gesamte Landschaft um die Neugründungen zügig umgestalten: Kronstadt bildet den Endpunkt einer Kulturlandschaft, die sich westlich der ehemaligen Hauptstadt über eine Distanz von nahezu 40 Kilometern bis an die finnische Bucht erstreckt. Sie besteht aus einer Abfolge von kaiserlichen Palästen, Landsitzen und Parks, die sich wie ein grüner Gürtel um Sankt Petersburg legen.
Peter liess diese Kulturlandschaft, die von Strelna über Peterhof nach Kolomna und dann bis Oranienbaum verläuft, seit 1710 anlegen. Nur 15 Jahre später war die nach seiner Hauptresidenz Peterhof genannte und harmonisch in sich abgeschlossene «Petergofskaja Doroga» (Strasse) weitgehend vollendet. Seine Nachfolger ergänzten Peters Schöpfungen durch weitere Residenzen und Parklandschaften, darunter die berühmten Schlösser von Zarskoje Selo, Gatschina und Pavlowsk. Als die Unesco 1990 Sankt Petersburg auf die Unesco-Welterbeliste aufnahm, beschränkte sie sich nicht auf das historische Zentrum, sondern bezog ausdrücklich «dazugehörige Baudenkmäler» mit ein. Gemeint waren neben den Schlössern und Parks mit Vorzeigecharakter weniger bekannte Schöpfungen aus der Zeit Peters I.
Etliche der frühen Werke sind dem Zweiten Weltkrieg, Vernachlässigung, Raumplanung oder Neubauprojekten zum Opfer gefallen. Welchen Zwecken die verschonten Baudenkmäler dienten, wissen oft nicht einmal die in unmittelbarer Nachbarschaft lebenden Menschen. Wie die Petergofskaja Doroga ursprünglich aussah, hat der Petersburger Architekturhistoriker Sergei Gorbatenko erforscht und mit zeitgenössischen Darstellungen versehen. Diese erste umfassende Bestandsaufnahme des «historisch-landschaftlichen Komplexes» ist bis anhin leider nur auf Russisch verfügbar.
Ingermanland, wie die dünn besiedelte Landschaft am Finnischen Meerbusen genannt wurde, wies damals überwiegend morastigen und unfruchtbaren Boden mit Wäldern und Gebüsch auf. Bevor sich der Zar ans Werk machte, hatte er sich bei Aufenthalten in Mittel- und Westeuropa inspirieren lassen. Und so liess er nach dem Vorbild holländischer Grachten zunächst Kanäle zur Ostsee hin anlegen. Von den vielen Windmühlen, die damals gebaut wurden, ist keine einzige erhalten. Amsterdam hat ihn stets stark fasziniert, und so befahl Peter in der Siedlung Kolomna den Bau einer Werft, die er «Nowaja Gollandia» taufen liess. Seinen einstigen Charme hat das Baudenkmal im ältesten und architektonisch reichsten Stadtviertel von St. Petersburg längst eingebüsst; seine zerfallenen, von Gestrüpp überwachsenen Ziegelsteinmauern spiegeln sich heute im Wasser eines städtischen Kanals.
Holländische Vorbilder standen auch beim Bau von Schloss Oranienbaum Pate. Sein Besitzer war Fürst Menschikow, Peters engster Vertrauter, der nach dem Tod des Zaren enteignet wurde. Während der gewaltige Barockpalast seit Jahren geschlossen ist, bedroht Regenwasser, das durch das schadhafte Dach eindringt, den einzigartigen Chinesischen Palast im Landschaftspark. Dieses Baudenkmal mit seinen feinen Sammlungen hatte die Oktoberrevolution und sogar die deutsche Besatzung überstanden. Schritte zur Rettung des Kleinods wurden angekündigt, als zähes Haupthindernis hat sich bisher die Finanzierung erwiesen.
Wald und Meer
Mit Vorbedacht hat Peter I. für Oranienbaum, Strelna und Peterhof meeresnahe Standorte ausgewählt: Seine Landsleute sollten durch den permanenten Sichtkontakt zur Seefahrernation werden, so lautete seine reformpädagogische Vorgabe. Bekanntlich konnte sich sein Hofstaat für die neue Hauptstadt im rauen Norden lange Zeit nicht erwärmen. Um ihnen den erzwungenen Aufenthalt angenehmer zu gestalten, liess Peter für die Elite Landsitze ausserhalb von Sankt Petersburg errichten. Waldschutz war dem Herrscher stets ein wichtiges Anliegen, und so pflanzte er in den Parks seiner Residenzen eigenhändig Eichenbäume. Nach und nach entstanden an Kanälen und Strassen linear angeordnete Gebäude mit Grünflächen. Diese Methode, die der Stadtplanung entlehnt war, hatte Peter ebenfalls in Holland kennen gelernt.
In wenigen Jahren wuchs eine aus unterschiedlich grossen Landhäusern und Parkanlagen geschaffene Kulturlandschaft, die durch eine Hauptverkehrsachse entlang des Küstenverlaufs zusammengehalten wurde. Diese Achse einte Wasserflächen, Gärten und verstreut angeordnete Monumente perspektivisch zu einem optisch abwechslungsreichen Gesamtkunstwerk, die dem Betrachter nach dem Geschmack des Barockzeitalters ständig neue Szenerien bot. Um die Bewohner dieser Güter, auf denen sie sich ausschliesslich entspannen und vergnügen sollten, zum Meinungsaustausch zu ermutigen, verzichtete Peter auf trennende Zäune. Sein Hofstaat sollte mit den russischen Sitten brechen und sich künftig nach europäischen Gepflogenheiten gegenseitig Höflichkeitsbesuche abstatten.
Rund 150 Jahre lang hielten die Arbeiten zur weiteren Ausgestaltung der Peterhofer Strasse an, die Regierungszeit Katharinas II. wird allgemein als ihr goldenes Zeitalter betrachtet. Nach einer Phase der Lethargie Anfang des 19. Jahrhunderts fügte Zar Nikolaus I. mehrere Residenzen für die Angehörigen der kaiserlichen Familie hinzu, schuf ein Dutzend weitere Landschaftsparks und modernisierte das Strassennetz. Nach der Oktoberrevolution begann die allmähliche Zerstörung der Kulturlandschaft, die nicht nur architektonische und landschaftsgestalterische Entwicklungen, sondern auch den sozialen und ökonomischen Wandel über einen längeren Zeitraum widerspiegelt. Ganze Wälder wurden damals gefällt, neue Siedlungen entstanden. Oft nutzte man die leeren Herrschaftssitze als Kinderheime oder richtete Museen ein. Andere Ensembles wurden geplündert und anschliessend in Brand gesteckt.
Obwohl die Petergofskaja Doroga bis zum Ende des Kommunismus unter Schutz gestellt war, setzten die Behörden dort in einigen Abschnitten Fabrikgebäude, landwirtschaftliche Grossbetriebe und Viehzuchtanlagen mit manchmal gewaltigen Dimensionen in die Landschaft und beeinträchtigten damit die Integrität. Seit einigen Jahren haben die «neuen Russen» die nordeuropäische Kulturlandschaft für sich entdeckt. Ihre protzigen Landsitze, die oft an stilistischer Geschmacksverirrung kaum noch zu überbieten sind, schieben sich immer näher an die Parks heran und bilden einen seltsamen Kontrast zu den historischen Gebäuden.
Der tonnenschwere Traum vom Sozialismus
Schauplatz Weissrussland
Minsk sucht städtebaulich den Anschluss an den Westen
Seit Jahrhunderten bei Kriegen regelmässig beschädigt, wurde das völlig zerstörte Minsk seit 1944 als sozialistische Idealstadt komplett neu angelegt. In keiner Metropole der ehemaligen Sowjetunion sind der Sieg über den Nationalsozialismus sowie «Väterchen Lenin» stärker im Stadtbild sichtbar als in der Hauptstadt Weissrusslands, die sich jetzt durch eine Reihe von Prestigeprojekten mehr westliches Flair verspricht.
Dass Grossbauprojekte von nationaler Bedeutung nicht etwa durch das Parlament, sondern vom Staatspräsidenten persönlich genehmigt werden, kann inzwischen keinen Weissrussen mehr verwundern. Im vorigen Jahr hatte Alexander Lukaschenko, der durch selbstherrliches Auftreten und seinen rüden Umgang mit der Opposition regelmässig Schlagzeilen macht, der Nation per Präsidialdekret den Bau einer Nationalbibliothek verordnet, im vergangenen Winter begannen die Arbeiten. Zentrumsnah an der Minsker U-Bahn- Station «Osten» vorgesehen, wird sich die 80 Millionen Dollar teure Bücherei durch ihre Gestaltung in Form eines riesigen Diamanten von den nüchternen Zweckbauten der Umgebung abheben. Dass Lukaschenko die Baukosten allen zehn Millionen Einwohnern des Landes aufbürdete, hat indessen Überraschung hervorgerufen, erinnerte diese Praxis doch an alte Gepflogenheiten der Sowjetzeit. Jeder Gehalts- und Rentenempfänger, so berichteten die staatlichen Medien, habe im März angeblich freiwillig auf einen Tagessatz verzichtet. Den Löwenanteil holte sich der Präsident freilich bei den wenigen weissrussischen Privatunternehmen, die Lukaschenkos Appellen zu «freiwilligen Spenden» besser zügig nachkommen, wenn sie staatliche Repressalien vermeiden wollen.
Sein Edelstein aus Beton gehört zu den Prestigeprojekten, die der 1,7 Millionen zählenden Hauptstadt endlich auch jenes westliche Flair verleihen sollen, das sich Moskau, Sankt Petersburg und Kiew schon lange zugelegt haben. Neben modernen Geschäftszentren und neuen Umfahrungsstrassen plant die Regierung den Bau des ersten weissrussischen Hypermarket in einem verwilderten Obstgarten nahe dem Mascherow-Prospekt. Ausserdem dürfen Bürger im Stadtgebiet künftig Neubauten für private Zwecke errichten. Bis im Jahr 2003 soll das hauptstädtische Areal von 26 000 Hektaren auf 40 800 Hektaren vergrössert werden.
Zukunftsmusik
Das ist jedoch alles noch Zukunftsmusik. Sieht man von der Umbenennung einiger Strassen, Plätze und staatlicher Institute ab, hat sich in den zwölf Jahren der Unabhängigkeit kaum etwas verändert. Auf die meisten westlichen Besucher wirkt Minsk wie eine Provinzhauptstadt aus der Sowjetzeit, obgleich sich hinter den spätstalinistischen Prunkfassaden eine lebhafte Kulturszene etabliert hat. Nicht selten stösst man auf Standbilder Lenins und des Geheimdienstgründers Felix Dserschinski, die in Russland und der Ukraine längst schon vom Sockel gestossen wurden.
Das Minsker Wahrzeichen thront seit 1952 neben dem Haus der Offiziere: Dort erinnert der erste Sowjetpanzer, der am 3. Juli 1944 nach dem Abzug der Wehrmacht in das fast vollständig zerstörte Minsk eingerückt war, an die Befreiung. Auf der gegenüberliegenden Strassenseite erstreckt sich der über 3,7 Hektaren grosse Platz der Oktoberrevolution mit dem Museum des Grossen Vaterländischen Krieges und der beherrschenden Fassadeninschrift «Die Heldentat des Volkes lebt ewig». Wie ein fremdartiges Relikt aus der Breschnew-Zeit steht in der Mitte des ehemaligen Zentralplatzes der mit weissen Marmorplatten verkleidete «Palast der Republik». Nachts mit gelbblauem Neonlicht angestrahlt, wirkt das kaum benützte Baudenkmal, das die Minsker scherzhaft «Sarg der Republik» nennen, in der Tat wie ein bleiches Mausoleum.
Von allen sowjetischen Grossstädten hatte Minsk, das die Auszeichnung «Heldenstadt» erst mit 30-jähriger Verspätung zugesprochen bekam, den höchsten Blutzoll entrichten müssen; 70 Prozent der Wohnfläche waren zerstört, fast alle Produktionsstätten lagen in Schutt und Asche. Fast nichts mehr erinnerte an die einst grosse jüdische Gemeinde. Durch den massiven Zuzug russischer Bewohner änderte sich die Bevölkerungsstruktur in wenigen Jahren grundlegend. Schon im Herbst 1944 begann eine Moskauer Architektenkommission, auf den abgeräumten Trümmerfeldern das neue Minsk zu entwerfen. Ihr Ziel war eine sozialistische Idealstadt, bei deren Planung sie freie Hand hatte. Um die Relikte des kapitalistischen Minsk brauchte sie sich nicht zu kümmern, selbst minimal beschädigte Vorkriegsgebäude wurden meist abgerissen.
Das Zentrum des neuen Minsk sollte Wohngebäuden und Behörden vorbehalten bleiben. Zur städtebaulichen Auflockerung legte man dort grosse Erholungsparks ein. Industriegebiete waren ausschliesslich an der Peripherie vorgesehen. Nach dem Vorbild der englischen Gartenstädte baute man für die Arbeiter und Angestellten des Automobil- und Traktorwerkes im Südosten von Grünflächen gesäumte Siedlungen mit zwei- bis dreistöckigen Zeilen für jeweils vier bis sechs Familien. Doch schon bald wurden die Finanzen knapp. Chruschtschew verordnete den Sowjetmenschen in den 1960er Jahren eine Kampagne zum Massenwohnungsbau: Schneller und billiger bauen lautet von da an die Losung. Auch in Minsk entstanden die «Chruschtschowki» genannten, fünfstöckigen Mietblocks aus vorgefertigten Elementen, die noch heute das Erscheinungsbild in den abschreckend monotonen Trabantensiedlungen bestimmen. Allen Bemühungen zum Trotz konnte der ständig steigende Bedarf an Wohnfläche nicht gedeckt werden. Noch zu Beginn der Perestroika-Periode 1985 warteten rund 130 000 Familien auf Wohnraum.
Kolossal und monumental
Mitten durch das ehemalige Zentrum legten die Planer eine breite Magistrale, die das gesamte Stadtgebiet durchzieht. Der ursprüngliche Stalinprospekt, später nach Lenin und vor wenigen Jahren nach dem weissrussischen Buchdrucker Frantzisk Skaryna benannt, verbindet sämtliche öffentlichen Plätze miteinander. Entlang dieses Prospektes entstanden nach dem monumentalen Siegerarchitekturstil des Spätstalinismus Behördengebäude, Bildungseinrichtungen und Geschäfte. Markante Hochhäuser nach Moskauer Vorbild hat man in Minsk nie gebaut.
Dafür waren die Plätze noch kolossaler als in der Hauptstadt des Sowjetreiches ausgefallen: Mit über 6,7 Hektaren ist der ehemalige Leninplatz, in den die Hauptmagistrale einmündet, grösser als der Rote Platz. Dort überstand das von Iosif Langbard in den 1930er Jahren aus weissem Beton erbaute Regierungsgebäude im Stil des Konstruktivismus den Feuersturm des Zweiten Weltkriegs. Daneben steht die katholische Kirche Sankt Simeon und Helena, die 1919 aus roten Backsteinen im Stil der Neugotik vollendet worden war. Seit 1968 dient die «Rote Kirche», die zunächst abgerissen werden sollte, als Kinomuseum. Gegenüber dem Regierungssitz und dem Lenin-Denkmal errichtete man die Weissrussische Staatliche Universität. Diente die riesige Freifläche bis zum Fall des Kommunismus als Endpunkt für staatlich organisierte Massenaufmärsche, diente sie anschliessend als innerstädtischer Parkplatz. Noch vor einigen Jahren hatte man dort sämtliche Trottoirflächen neu gepflastert und kurz darauf den Belag zur allgemeinen Verblüffung der Bewohner wieder herausgerissen.
Des Rätsels Lösung liegt in einem weiteren Grossprojekt, dessen erste Phase im vergangenen Winter abgeschlossen wurde. Unter dem Unabhängigkeitsplatz, wie die Fläche heute heisst, wird ein vierstöckiger Einkaufskomplex entstehen, darunter Parkflächen, Galerien, Konzerträume und eine Diskothek. Eine gigantische Glaskuppel soll diese städtebauliche Errungenschaft später krönen. Wie Alt-Minsk, das seiner geographischen Lage wegen seit Jahrhunderten regelmässig zerstört wurde, vor seiner völligen Auslöschung ausgesehen hat, lässt sich nur noch erahnen. Wohl ist die einstige Einteilung in Ober- und Untermarkt noch wahrnehmbar. Die meisten der ursprünglich 15 Kirchen und Klöster aus dem 17. Jahrhundert hat Stalin schon in den 1930er Jahren niederreissen oder als Gefängnisse und Lagerräume missbrauchen lassen. Während die verschonten Gotteshäuser seit Jahren mit grosser Sorgfalt restauriert werden, hat man das abgerissene Jesuitenkloster rekonstruiert.
Wo früher die Dreifaltigkeits-Vorstadt lag, ist mittlerweile ein architektonisches Museumsdorf mit nostalgischem Flair entstanden. Während der 1980er Jahre beteiligten sich vor allem Schüler und Studierende an «Subbotniks» - im Prinzip freiwilligen Arbeitseinsätzen an Samstagen - und bauten einige der historischen Häuser, die bei der Planung des modernen Minsk weichen mussten, mit viel Liebe zum Detail wieder auf. Einige Gebäude, die als Restaurants und Kunstgalerien benützt werden, standen früher in anderen Stadtteilen, wo man sie zerlegte und an der begrünten Uferzone des Flusses Swislotsch zusammensetzte. Den ganzen Uferbereich hat man inzwischen gründlich gereinigt. Auf einer künstlichen Insel im aufgestauten Fluss erhebt sich seit 1996 ein aussergewöhnliches Denkmal für die in Afghanistan gefallenen weissrussischen Soldaten. Stilisierte Mutterfiguren bilden auf der «Insel der Tränen» eine Art Kapelle, in deren Gestaltung sich sakrale Symbolik und die Formensprache des sozialistischen Realismus überlagern.
Lateinamerikas wertvollste Altstadt
Schauplatz Brasilien
Die Erneuerung des Zentrums von Salvador da Bahia
Als vor zehn Jahren in Salvador da Bahia die Restaurierung des umfangreichsten Altstadtensembles in Lateinamerika begann, verfügten die Behörden trotz massiver Kritik die Umsiedlung der meisten Bewohner. Heute wirkt Alt-Salvador zwar als touristischer Magnet, konnte aber bisher kaum Mieter aus der Mittelschicht anziehen.
«Ein üppig spriessendes Gewächshaus, von der Natur für sich selbst gemacht», nannte einst Charles Darwin Salvador da Bahia, Brasiliens erste Hauptstadt, die von den Portugiesen 1501 als «Brückenkopf» zwischen Kolonie und Heimat an der atlantischen Küste gegründet worden war. Man liess sich von der Natur inspirieren und baute Kirchen, Paläste und Herrschaftshäuser mit wuchernden Dekors. Vor allem um die Kirchen zu schmücken, war den Portugiesen kein Mittel zu aufwendig und kein Weg zu weit. Fast alle Bauteile und Skulpturen wurden im Mutterland angefertigt und an Bord der Karavellen herbeigeschafft, die dann für den Rückweg mit Edelmetallen, aber auch mit Gewürzen und Zucker aus den Plantagen des Hinterlandes beladen wurden. Dort arbeiteten die Vorfahren eines Grossteils der heutigen Bewohner Salvadors als Sklaven. Auf der Praça da Sé erbauten Jesuiten im 17. Jahrhundert die Kathedrale und verschönerten sie mit vergoldeten Altären und Heiligendarstellungen. Portugiesische Azulejos schmücken die Rokoko-Kirche Ordem Terceira de São Francisco. Altar, Schnitzwerk und Skulpturenschmuck dieses Baudenkmals stellen selbst Werke des portugiesischen Barocks in den Schatten.
Kostbare Baudenkmäler
Doch nicht nur die Kirche fand Gefallen am Prunk. Auch Plantagenbesitzer und Kaufleute leisteten sich Repräsentationsbauten, deren barocke Verzierungen oft afrikanische und indianische Elemente aufwiesen. Das trug dazu bei, dass Salvador im 18. Jahrhundert zu einem der wertvollsten architektonischen Ensembles in ganz Lateinamerika wurde. Doch als die Kolonialregierung nach Rio de Janeiro umzog, nahm Salvadors Bedeutung ab. Für die meisten Brasilianer hat die Stadt freilich nichts von ihrer symbolischen Ausstrahlungskraft als Herz der brasilianischen Kultur verloren. Diese Argumente machte sich auch die Unesco zu eigen, als sie der Innenstadt 1985 den Rang eines Weltkulturerbes verlieh. Damals waren viele Baudenkmäler in desolatem Zustand, kaum ein Hausbesitzer wohnte noch in seinem Gebäude. Vor allem die zentralen Viertel Pelourinho und Maciel büssten ihre Attraktivität ein. Banken zogen in neue Stadtteile, Firmen folgten nach, Kinos wurden geschlossen, und selbst die Medizinfakultät der Universität gab ihr Altstadtgebäude auf.
Das Stadtzentrum zog zwielichtige Gestalten an, Drogenhandel und Prostitution blühten. Selbst tagsüber war für Besucher des Viertels das Risiko hoch, überfallen zu werden, da die Polizei diesen Teil Salvadors längst aufgegeben hatte. So entwickelten sich die Randgebiete zum eigentlichen Zentrum der auf zweieinhalb Millionen Einwohner angewachsenen Metropole, während der alte Stadtkern zur Peripherie wurde. Da die Stadtbehörden nicht in der Lage waren, Alt-Salvadors Untergang aufzuhalten, ergriff vor rund zehn Jahren die Regierung des Gliedstaates Bahia die Initiative. Der damalige Gouverneur Antonio Carlos Magalhães, kurz ACM genannt, versprach, die Altstadt zu restaurieren, und liess seinen Worten Taten folgen - zur grossen Verblüffung der an leere Versprechen gewöhnten Bürger. An Geldern fehlte es nicht, schliesslich gilt Bahia mit seinen Ölvorkommen und Bodenschätzen als Brasiliens zweitreichster Teilstaat.
Magalhães, heute Präsident des Senates in Brasilia, entschied sich für eine Art der Altstadterneuerung, die nicht nur in Denkmalschutzkreisen Kontroversen auslöste. Praktisch alle Bewohner der Viertel Pelourinho und Maciel mussten ausziehen, bevor eine staatliche Baufirma 1994 mit der Restaurierung beginnen konnte. Im ehrgeizigen Projekt der «Wiederbelebung», so der offizielle Begriff, waren die Einheimischen nicht vorgesehen. Militärpolizisten überbrachten den Hausbesetzern Räumungsbefehle, die notfalls mit Gewalt vollzogen wurden. Wer Besitzurkunden vorweisen konnte und bleiben wollte, wurde mit finanziellen Entschädigungen zum Auszug bewogen oder bei hartnäckigem Beharren enteignet. Von einer Rückkehr der einstigen Bewohner nach Sanierungsabschluss war nie die Rede. Es ging von Anfang an darum, eine attraktive Altstadt mit einem angemessenen Dienstleistungsangebot zu schaffen. Schadhafte Gebäude wurden nicht abgerissen, sondern entkernt. Hinter den Fassaden entstanden vor allem Geschäftsflächen und komfortable, moderne Wohnungen. Häuserfronten erhielten einen frischen Anstrich, wobei Blau und Rot dominieren. Mit Steuergeld entstand eine angemessene Infrastruktur, unter anderem ein Kanalisations- und Beleuchtungssystem, auch die Gassen wurden neu gepflastert.
Inzwischen ist die Erneuerung der zwei Quartiere so gut wie abgeschlossen, womit rund ein Siebtel der Altstadt in neuem Glanz erstrahlt. Dieser kleine, einst verrufene Teil des historischen Kerns zieht vor allem an den Wochenenden nicht nur Touristen, sondern auch Einheimische an. Sie finden hier eine beachtliche Auswahl an Hotels, Museen, Galerien und Restaurants. Viele der besten Köche Salvadors sind in das Pelourinho umgezogen. Am Rande der mit Marmor gepflasterten Plätze warten die Baianas, dunkelhäutige Frauen mit farbigen Turbanen, weiten Röcken und Spitzenblusen, auf Hungrige, die trotz tropischer Hitze Bohnenbrei mit Krabben oder scharfen Fischeintopf verzehren möchten. Tag und Nacht kümmern sich Militärpolizisten um die Sicherheit der Besucher. Sie patrouillieren durch die beleuchteten Gassen. Wegen der permanenten Kontrollen sind Prostitution und Strassenkriminalität zurückgegangen. Dafür beschweren sich die Bewohner des benachbarten, nicht renovierten Viertels Saúde, dass bei ihnen die Polizei nicht mehr präsent sei.
Fehlentwicklungen korrigieren
Offiziell feiert Salvadors Stadtverwaltung die Restaurierung als Erfolg, räumt aber ein, dass man «unerwünschte Entwicklungen» korrigieren müsse. Denn die sehnlichst herbeigewünschten Mieter oder Wohnungskäufer zeigen der renovierten Altstadt die kalte Schulter. Salvadorianer aus der Mittelklasse sind zwar stolz auf die Resultate der «Wiederbelebung». Kaum einer von ihnen möchte jedoch im historischen Zentrum leben. Sie ziehen geräumige Neubauwohnungen mit Tiefgaragen und Versorgungseinrichtungen in Hochhäusern am Stadtrand vor, die von Metallzäunen geschützt sind. Inzwischen wachsen auch bei den Mietern von Boutiquen und Restaurants die Sorgen, weil der Mietzins oft höher ist als der Umsatz. Vermutlich stünden viele renovierte Gebäude leer, hätte die Stadt in ihnen nicht Ämter untergebracht oder sie gratis an Karnevalsgruppen und gemeinnützige Organisationen vergeben. Die Bausubstanz instand zu halten, ist Aufgabe der Stadtkämmerei, die langsam nicht mehr weiss, woher sie das nötige Geld nehmen soll. Da ist es kein Wunder, dass sich die Anfangseuphorie gelegt hat. Hinzu kommt, dass schon wieder die ersten erneuerten Fassaden zu bröckeln beginnen. Im tropischen Klima wucherndes Unkraut überzieht an vielen Stellen Hauswände, Fensterbrüstungen und Regenrinnen. Und hie und da hat eindringendes Regenwasser bereits das Mauerwerk verschimmeln lassen.
Ein künstliches Paradies für Touristen?
Das Kairo der Fatimidenzeit soll restauriert werden
Jahrzehntelange Vernachlässigung und Überbeanspruchung bedrohen Kairos Altstadtquartiere: In Darb al-Ahmar wollte die Regierung bereits ganze Strassenzüge abreissen. Seit kurzem bemüht man sich stattdessen mit ausländischer Hilfe um Sanierung; allerdings besteht die Gefahr, dass die lebendigen Strukturen dabei verloren gehen.
Darb al-Ahmar liegt am Rande Alt-Kairos, das Nagib Mahfus in seinem Roman «Zwischen den Palästen» so anschaulich dargestellt hat. In diesem Werk gab der ägyptische Literaturnobelpreisträger die Aufbruchstimmung während des Ersten Weltkriegs wieder. «Gewöhnlich war das laute Getöse ein Sammelsurium von Lockrufen der Händler, Geschrei der Käufer beim Feilschen, Beschwörungen von Verrückten und Scherzen von Passanten. Nein, es war wirklich kein ruhiges Viertel.» Auf den ersten Blick scheint sich in Darb al-Ahmar seither nicht viel verändert zu haben. Neben einem winzigen Gewürzladen, aus dem alle Wohlgerüche Arabiens strömen, stellen Männer Tische, Stühle und Bettrahmen her. Daneben verfertigen Kunsthandwerker perlmuttverzierte Holzschatullen, die im benachbarten Touristenviertel Khan al-Khalili zum Verkauf angeboten werden. Ein paar Schritte weiter stehen in einer kleinen Teestube die Wasserpfeifen schon bereit.
Aber auch an Darb al-Ahmar ist die Zeit nicht spurlos vorbeigegangen. Zeigen Photographien aus den zwanziger Jahren dicht bebaute Gassenzüge mit mehrstöckigen, balkonverzierten Gebäuden, erblickt man gleichenorts jetzt Ruinen oder Häuserlücken. Gut 80 Prozent der Gebäude sind stark beschädigt, Abwassersystem und Müllabfuhr genügen den heutigen Bedürfnissen längst nicht mehr. Immer mehr Bewohner haben ihrem angestammten Viertel den Rücken gekehrt. Sie wohnen weit entfernt in Neubauquartieren, von wo aus sie täglich zu ihren Arbeitsplätzen in die Altstadt pendeln. Die früher untrennbare Einheit von Wohnen, Arbeiten und Handeln löst sich allmählich auf. Wie viele Wohnquartiere der Altstadt bietet Darb al-Ahmar den Menschen wenig Zukunftsperspektiven.
Initiative aus dem Ausland
Vor einigen Jahren hatten die Behörden erwogen, die am stärksten zerfallenen Strassenzüge nahe der mittelalterlichen Stadtmauer abzureissen und den Schandfleck damit von der Bildfläche zu tilgen. Dieses Projekt stiess bei den Bewohnern auf wenig Gegenliebe und wurde von den Behörden schnell aufgegeben. Aus Furcht, eines Tages vielleicht doch die Koffer packen zu müssen, verhielten sich jedoch selbst jene Bewohner, die für eine Renovation ihres Hauses genügend Geld gehabt hätten, zunächst lieber abwartend.
Dass heute zunehmend private Häuser saniert werden, geht auf eine Initiative der Genfer Aga-Khan-Stiftung zurück. Die gemeinnützige Einrichtung, die sich in Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit um den Erhalt historischer Städte verdient macht, vereinbarte mit der Regierung Schritte zur Rettung des Wohnquartiers. Beispielhaft renovierte man leerstehende Gebäude, darunter eine Schule, die als Gemeindezentrum für alle Bewohner zur Verfügung steht. Wer heute sein Haus auf eigene Kosten erneuern möchte, findet bei den Architekten der Stiftung kostenlos Rat und Hilfe.
Gemeinsam haben Archäologen aus Europa und Ägypten den mächtigen Befestigungswall am Stadtrand freigelegt. Er ist das Werk des legendären Sultans Saladin, der nach seinem Sieg über das Kreuzfahrerheer Ende des 12. Jahrhunderts nach Kairo zog und die Fatimiden verdrängte. Im Lauf der Jahrhunderte war Saladins Wall fast völlig unter gewaltigen Mengen von Bauschutt verschwunden. Bei den inzwischen abgeschlossenen Ausgrabungen schuf man Zugänge, die Einblicke in die Baugeschichte erlauben: Saladin liess die Fundamente der Stadtbefestigung aus Trümmerteilen pharaonischer und antiker Baudenkmäler errichten. Zwischen der wieder sichtbaren Mauer und der Totenstadt im Tal soll auf 30 Hektaren Kairos grösste Grünfläche angelegt werden. Neben Restaurants und Flanierwegen mit Schatten spendenden Bäumen sind künstliche Seen vorgesehen. Diese Parklandschaft und ein wiederbelebtes Altstadtquartier, so hofft die Stiftung, werde auch dem Tourismus Auftrieb verleihen. Besucher, die in der Regel nur bis in die Souvenirläden des herausgeputzten Viertels Khan al-Khalili gelangen, könnten dort ein Stück authentisches Alt-Kairo kennen lernen.
Auf dem höchsten Punkt des Parks bietet sich ein Panorama wie aus dem Bilderbuch: Wenn die Fernsicht einmal nicht durch den berüchtigten Abgas-Smog behindert wird, zeichnen sich sogar die Silhouetten der Pyramiden ab. Oberhalb der Totenstadt mit ihren Kuppelmausoleen thront auf einem Felssporn Saladins Zitadelle. Silberkuppeln zieren die Mohammed-Ali-Moschee, die im vorigen Jahrhundert nach dem Geschmack der Istanbuler Gebetshäuser gestaltet wurde. Sie erinnert an den noch heute hoch verehrten osmanischen Khedive (Vizekönig), der Ägypten im Osmanenreich zu mehr Selbständigkeit verhalf und dem Land den Weg in die Moderne wies.
Mutter der Welt
Als der Chronist Ibn Khaldun die Stadt am Nil im 14. Jahrhundert besucht hatte, schrieb er in seinem «Buch der Beispiele» folgende Sätze: «Heute verfügt keine andere Stadt über so eine reiche städtische Kultur wie Kairo. Sie ist die Mutter der Welt, der grosse Mittelpunkt des Islam und Quelle der Wissenschaften und des Handwerks.» Diesen Ruf wie auch den Namen al-Kahira - die Siegreiche - verdankt die Stadt den Fatimiden; als Förderer der Künste blieb diese Dynastie unvergessen. Fatimidische Herrschaftshäuser, von denen keine sichtbaren Spuren erhalten blieben, versetzten die damalige Welt in Staunen. In zeitgenössischen Beschreibungen ist die Rede von Palästen mit weiten Gärten, Empfangshallen und Pavillons aus poliertem Marmor. Al-Azhar, die «Blühende», wie die Fatimiden ihre noch heute tätige Lehrstätte mit Moschee tauften, kann nach jahrelangen Arbeiten als restauriert betrachtet werden.
Mit Hilfe des Deutschen Archäologischen Instituts waren schon in den achtziger und neunziger Jahren einige der «Sabils» genannten öffentlichen Brunnenhäuser gerettet worden. Im Mausoleum von Sultan as-Saleh schloss man die Risse in der Kuppel, erneuerte den Marmorfussboden und restaurierte den holzgeschnitzten Kenotaph. Zur Erinnerung an ihren geliebten Mann hatte Ägyptens einzige Sultanin, die ehemalige Sklavin Sagarat ad-Dur aus Armenien, das prächtige Baudenkmal im 13. Jahrhundert errichten und dafür mutig zwei repräsentative Paläste aus der Fatimidenzeit niederreissen lassen. Bevor die Restaurateure die Arbeit aufnehmen konnten, mussten allerdings unerwünschte Nebenmieter ausquartiert werden. Auf dem Dach des Grabmals hatten sich Familien illegal primitive Unterkünfte erbaut. Das Sultan-Mausoleum ist kein Einzelfall. Viele Baudenkmäler im Altstadtbereich wurden im Laufe der Zeit mit einem ganzen Kranz von Nebengebäuden, vor allem Kleingeschäften und Werkstätten, regelrecht zugebaut.
Für den 1779 fertiggestellten MousaferkhanaPalast, der als beliebter Treffpunkt für Künstler diente, hatte das fatale Folgen. Statt den Hausmüll zu den Deponien zu bringen, verbrannten ihn die Bewohner der illegalen Behausungen am und auf dem Palast üblicherweise an Ort und Stelle. Vor zwei Jahren griff das Feuer auf den Palast über. Tatenlos musste die Feuerwehr zusehen, da sie mit ihren Fahrzeugen nicht durch die engen und verstopften Gassen gelangen konnte. Dieser Zwischenfall hat die Diskussion über die Frage, wie Alt-Kairo gerettet werden kann, wieder in Gang gebracht. Die ägyptische Regierung, die bis anhin wenig Interesse gezeigt hatte, legte 1999 einen auf sechs Jahre angelegten Sanierungsplan vor. Die Verfasser einer Studie, die durch das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) finanziert wurde, empfahlen der Regierung, nicht nur ausgesuchte Einzelbauwerke, sondern das gesamte urbane Gefüge der fatimidischen Stadt «zu erhalten, zu restaurieren und wieder mit Leben zu erfüllen».
Die italienische Regierung erklärte sich bereit, den Löwenanteil der auf knapp achtzig Millionen Franken geschätzten Kosten zu übernehmen. Daraufhin erliess Staatspräsident Mubarak einen Erlass, wonach illegale Bewohner umgesiedelt werden müssen. Auch Werkstätten und kleine Fabriken, die durch ihren Lärm oder Geruch die Nachbarschaft belästigen, sollen verlagert werden. An ihrer Stelle wünscht sich der Präsident Souvenirläden, kunsthandwerkliche Ateliers, Cafés, Restaurants und Buchgeschäfte. Gegen dieses Vorhaben protestieren nicht nur die von Umsiedlung bedrohten Altstadtbewohner. Selbst angesehene Stadtplaner warnen vor der Gefahr, dass sich Alt-Kairo auf diese Weise in ein «künstliches Paradies» für Touristen verwandeln könnte.