nextroom.at

Artikel

10. Oktober 2016 Spectrum

Künstlich? Natürlich?

Die Synthetische Biologie erschafft biologische Systeme, die nicht in der Natur vorkommen. In Form von Designprojekten stellt Spekulatives Design dazu künstlerische und gesellschaftliche Fragen.

Inmitten einer hügeligen Landschaft, wo sich kleine Waldstücke mit Wiesen abwechseln, befindet sich das Feld von Gavin Munro. Hier wachsen Stühle und Lampenschirme aus Bäumen. Wer jetzt vorbestellt, bekommt seinen Stuhl in ungefähr acht Jahren, die Lampenschirme wachsen etwas kürzer. Jetzt ist alles noch grün, und durch das Blätterdickicht, das die krummen, bodennahen Gewächse bedeckt, kann die Form der zukünftigen Einrichtungsgegenstände erahnt werden. Der Möbelbauer schneidet die ausgewachsenen Stühle ab, befreit sie von Blättern und kleinen Ästen und sendet sie dann an die Kundinnen und Kunden.

Das Szenario ist nicht aus einem Zukunftsroman. Gavin Munro gibt es wirklich. Die Bäume wissen jedoch nicht, wie sie wachsen müssen, um dem Bild eines Stuhls zu entsprechen. Der Möbelbauer hilft mit, indem er die jungen Triebe an einer Hilfskonstruktion fixiert und das natürliche Wachstum des Baums in die Form eines Stuhls zwingt. Das könnte in Zukunft aber nicht mehr nötig sein, und wir könnten Pflanzen erschaffen, die sich unserer Fantasie freiwillig beugen. Synthetische Biologie, ein Fachgebiet, das im Grenzbereich zwischen Molekularbiologie, organischer Chemie, Ingenieurwissenschaft, Nanobiologie und Informationstechnik angesiedelt ist, könnte es möglich machen. Die Synthetische Biologie erschafft biologische Systeme, die in der Natur nicht vorkommen. Diese Technologie eröffnet einen Möglichkeitsraum, der über die Gentechnik hinausgeht. Mit dieser Technologie können neue, künstliche biologische Systeme erzeugt werden, die die Welt zuvor nicht gesehen hat.

Spekulatives Design nimmt sich solcher Möglichkeitsräume an und formuliert künstlerische und gesellschaftliche Fragestellungen in Form von Designprojekten daraus. Anthony Dunne und Fiona Raby sind Pioniere dieser Designrichtung. Durch die Darstellung von möglichen „Zukünften“ in Form von Objekten, Bildern oder Videos ist es möglich, technologische Entwicklungen zu antizipieren und Entscheidungen über deren Verwendung und Ausrichtung zu treffen. Damit kann Design ein wichtiger Teil von Technikfolgenabschätzung werden. Um gesellschaftlich verantwortungsvoll zu handeln, braucht es ein erweitertes Bewusstsein, nicht nur im Design. Dunne und Raby haben dazu eine Art Manifest verfasst. „A/B“ heißt es, und es fasst Einstellungen zusammen, die wir (A) jetzt haben, und die (B) wichtig sind, um Zukunft zu denken. Das Manifest hat die Form von zwei Listen, die jeweils aus einem Begriffspaar gebildet werden. Ja sagen oder kritisch sein. Probleme lösen oder Problem finden. Antworten liefern oder Fragen stellen. Design für die Produktion oder Design als Debatte. Design als Lösung oder Design als Medium. Design als Service für die Industrie oder Design als Service an der Gesellschaft. Innovation oder Provokation? Mit dieser Denkweise kann Design als angewandte Kunst entscheidend zur weiteren Entwicklung von Wissenschaft und Technologie beitragen. Die spärlichen interdisziplinären Kooperationsprojekte zwischen Wissenschaft und Design müssten verstärkt werden. Sie könnten zu einem breiten Diskurs über transformative Technologien beitragen.

Ressourcenschonung, radikale Senkung des Energieverbrauchs und lokale Produktion sind Zukunftsstrategien, um eine positive Entwicklung der Menschheit zu gewährleisten. Die Natur beweist, dass sie auch ohne Verbrennen von Kohle in Hochöfen hochfeste Konstruktionsmaterialen bilden kann. Biomimetische Chemie ahmt Eigenschaften von Pflanzen oder Tieren nach. Die Struktur von Korallen hat zum Beispiel die Entwicklung eines auf Biozement basierenden Baustoffes inspiriert. Nach Schätzungen des WWF wird die Produktion von Zement in den nächsten Jahren rasant ansteigen. Verantwortlich dafür ist das Baugeschehen in China, Indien und anderen Entwicklungsländern. In China war die Zementherstellung 2008 für etwa ein Viertel der CO2-Emissionen verantwortlich. Bei der Herstellung von Zement müssen die Rohstoffe auf über 1.400 °C erhitzt werden. Ein kohlebetriebenes Kraftwerk neben dem Zementwerk sorgt oft für die Bereitstellung der benötigten, aber nicht erneuerbaren Energie. Biozement kann bei Umgebungstemperatur hergestellt werden. Mithilfe von Mikroorganismen, die in einer wässrigen Lösung eingebracht werden, verhärtet sich Sand zu einer festen Struktur. Die Firma „bioMASON“, ein Biotech-Start-up, bietet heute schon Ziegel an, die mit einer solchen biotechnologischen Herstellungsweise in einer kleinen Manufaktur produziert werden. Die nächste Evolution des Ziegels oder auch eine gänzliche Revolution, wie wir Häuser in Zukunft bauen könnten. Ohne dramatischen ökologischen Fußabdruck könnten so Bauwerke entstehen, die eine künstliche biologisch konstruierte Tragstruktur aufweisen. Computeralgorithmen sind heute schon in der Lage, die dazu notwendigen komplexen Tragstrukturen zu errechnen, die ebenfalls vom Wachstum der Natur beeinflusst sind. Neuartige Konstruktionstechniken und von der Natur abgeschaute, mit synthetischer Biologie hergestellte Materialien würden unsere gebaute Umwelt radikal verändern.

Nach dem 3-D-Drucker auf dem Schreibtisch könnte das Biolabor für den Heimgebrauch kommen. Die Paketdrohne bringt vielfältig transformierbare Bakterienstämme und eine Auswahl an Plasmiden ins Haus. Daraus entstehen neue individuelle Parfums, Farben und Geschmäcker für Nahrung ebenso wie Medizin. So hergestellte biochemische Substanzen könnten aber auch toxisch sein oder, wenn sie in die Umwelt gelangen, nicht vorhersehbare Folgen haben. Als sich Baupläne für eine Schusswaffe aus dem 3-D Drucker verbreiteten, war die Empörung groß. Und doch hat dieser Vorfall dazu beigetragen, dass über das positive als auch negative Potenzial dieser Technologie öffentlich diskutiert wurde. Wenn wir jetzt darangehen, komplett künstliche biologische Systeme zu entwerfen, die in der Natur nicht vorkommen, dann sollten wir das Potenzial von angewandter Kunst als Medium zur kritischen Diskussion nutzen.

23. Juli 2016 Spectrum

Design, öffne dich!

In den 1920er-Jahren versuchte die Wiener Siedlerbewegung, durch Genossenschaften der Wohnraumnot der Wiener beizukommen; heute heißt die Lösung „WikiHouse“: ein offenes Bausystem für Holzhäuser. Wie durch offene Architektur gesellschaftliche Probleme zu bewältigen sind.

Positiver gesellschaftlicher Wandel braucht technologische und soziale Innovation. Das Teilen von Wissen und die gemeinschaftliche Weiterentwicklung des Wissens sind in der digitalen Moderne zu einer transformativen Kraft geworden. Offenheit ist die Grundhaltung dieser Bewegung und widerspricht in vieler Hinsicht unserem Überlebensschema in einer von Konkurrenz, Verdrängung und Neid geprägten Leistungsgesellschaft. Wissen ist heute ein Wettbewerbsvorteil, der geschützt und bei unerlaubter Nutzung mit hohen Schadenersatzforderungen eingeklagt wird. Dass Design und Architektur auch anders funktionieren können, belegt beispielsweise die Idee des heutigen österreichischen Museums für Angewandte Kunst/Gegenwartskunst, als es vor rund 150 Jahren als k. k. Österreichisches Museum für Kunst und Industrie gegründet wurde. Aus heutiger Sicht könnte die Institution, in der angewandte Künstler eine Vorlagensammlung, eine Bibliothek und zahlreiche inspirierende Objekte vorfanden, die sie in Teilen oder als Ganzes entweder kopieren oder verändern konnten, als eine historische Referenz gesehen werden, die auf dem Selbstverständnis der Offenheit von kreativem Schaffen basiert.

Doch die Allmenden (Gemeingüter) der angewandten Kunst befinden sich nicht mehr in den öffentlichen Design- und Architekturmuseen. Sie haben sich dezentralisiert und werden von vielen in ehrenamtlicher Arbeit getragenen gemeinnützigen Vereinen organisiert. In der Publikation „ABC der Offenheit“, herausgegeben vom Verlag Neue Arbeit, sind die Grundpfeiler der alternativen Wissensorganisationen, die sich der Offenheit verschrieben haben, formuliert: „Offen heißt, dass jede Person für jeglichen Zweck auf Werke frei zugreifen, sie nützen, modifizieren und teilen darf (und das ohne Bedingungen, außer höchstens, dass Offenheit und Quellenangaben erhalten bleiben).“

Das seit 2009 stattfindende Festival „ViennaOpen“ hält diese Grundsätze hoch und hat schon zahlreiche Akteure einer zukünftigen offenen Gesellschaft vorgestellt und in Labs und Workshops praktische Erfahrungen mit dem kreativwirtschaftlichen Paradigmenwechsel gesammelt. Ein Pilotprojekt, das die Idee der offenen Architektur vorantreibt, ist das WikiHouse, welches heuer im Rahmen des Festivals auf der Maker Faire Vienna vorgestellt wurde. Das WikiHouse ist ein offenes Bausystem für Holzhäuser, dessen Pläne frei nutzbar sind. Über die Webplattform der WikiHouse Foundation erhält man Zugang zu den digitalen Plänen. Das Konstruktionsprinzip ist vergleichbar mit einem 3-D-Puzzle. Aus 18 Millimeter starkem Sperrholz- oder OSB-Plattenmaterial fräst eine CNC-Maschine einige Hundert Einzelteile, die dann zuerst zu einem Holzskelett zusammengefügt werden. Dieses wird anschließend mit Platten verkleidet. Die konstruktiven Trägerelemente sind ebenso wie der Wandaufbau als Hohlkörper ausgebildet. Durch die CNC-Fertigung wird eine hohe Genauigkeit der komplexen Teile gewährleistet, und so kann auch eine größere Gebäudestruktur ohne Nacharbeiten vor Ort mit untrainierten Freiwilligen aufgebaut werden. 2015 war schon ein 35 Quadratmeter kleines Häuschen am Karlsplatz von der lokalen WikiHouse Community errichtet worden. 85 Euro kostete die Lohnfertigung pro Platte (2,5 Meter mal 1,25 Meter) inklusive Programmierleistung und Fräszeit. 110 Platten wurden für die Fertigung der komplexen Einzelteile benötigt. Vier Personen bauten das Haus in vier Tagen auf. An einem Modell im Maßstab 1:10 des Hauses als lasergeschnittenem Kartonpuzzle lernte das Aufbauteam spielerisch die Fertigungsschritte. Die Grundprinzipien des WikiHouse sind einfach und überzeugend: nicht das Rad neu erfinden, sondern etwas nehmen, das funktioniert. Kopieren, adaptieren, Urheber nennen und das Ergebnis wieder teilen. Einfache, standardisierte Materialen verwenden, die überall verfügbar, aber auch kreislauffähig und nachhaltig sind. Adaptierungen für den eigenen Kontext vornehmen und das Ergebnis wieder teilen. Zeit, Kosten, Fähigkeiten, Energie und Ressourcen, Zusammenbau und Verwendung sollten niederschwellig sein. Wissen sollte immer frei zugänglich sein, professionelle Arbeit aber bezahlt werden.

Offene Architektur ist mehr, als einen digitalen Bauplan ins Netz zu stellen. Denn ein Bauplan, den niemand findet, nützt auch niemandem. Dazu braucht es entsprechende Onlineplattformen. Offenes Design entsteht aber erst, wenn es von einer Interessensgemeinschaft weiterentwickelt, verändert, angepasst und dann für alle wieder verfügbar gemacht wird, und wenn der Innovationsprozess offen ist. Dabei sind die Nachvollziehbarkeit der Innovationsschritte und Anpassungen sowie eine gute Dokumentation der Begleitumstände unerlässlich. Für die digitale Plattform der WikiHouse Foundation ist das eine große Herausforderung. Wenn hunderte Nutzerinnen und Nutzer Zugang zu einem gemeinsamen Speicherort haben, dann entsteht schnell eine unübersichtliche Situation, in der die zahlreichen Innovationsschritte nur mehr schwer nachvollziehbar sind. Daran wird gerade gearbeitet – eine neue Version der Plattform wird bald verfügbar gemacht. Ein eigener Community Manager kümmert sich um die zahlreichen Beiträge und die lokalen Interessensgruppen, welche die Entwicklung des WikiHouse vorantreiben.

Die Wiener Siedlerbewegung der 1920er-Jahre versuchte durch Genossenschaftsgründung, Selbstbau und Selbstversorgung der Wohnraum- und Versorgungsnot im Nachkriegswien eine Alternative zu schaffen. Offene Architektur im Sinne des WikiHouse und eine solidarische Lebensweise könnten bei den heutigen gesellschaftlichen Herausforderungen eine ebenso wertvolle Alternative zu Markt und Staat oder Gemeinde sein. Die Software des Hausprojekts hat derzeit die Versionsnummer 4, die CNC-Fräsmaschinen sind ebenfalls schon als offene Baupläne erhältlich. So demokratisiert sich auch die Hightech-Herstellungstechnologie. Jetzt kommt es auf die gesellschaftliche Innovationsbereitschaft an. Ob die Parole des damaligen Direktors des Siedlungsamts, Adolf Loos, noch zeitgemäß ist, bleibt ebenfalls zu diskutieren: „Große Architekten für kleine Häuser!“

19. März 2016 Spectrum

Rückkehr der Glühbirne

Was sind intelligente Lichtsteuersysteme, und wie wirkt sich künstliches Licht auf die Gesundheit und Leistungssteigerung der Menschen aus? Diese und andere Fragen zu Lichtkörpern wurden dieser Tage auf der Messe für Licht und Gebäudetechnik in Frankfurt gestellt.

Die weltgrößte Messe für Licht und Gebäudetechnik findet alle zwei Jahre in Frankfurt statt. Die Messe hat sich selbst den Titel einer „Leitmesse“ verliehen. In dieser Woche war es wieder so weit, und Architektur- und Designschaffende konnten sich über Produktneuheiten auf dem Lampen- und Leuchtensektor informieren und mit den internationalen Herstellern zukünftige Entwicklungen diskutieren. Zu den seitens der Messe formulierten Themensetzungen gehörte die Frage nach intelligenten Lichtsteuersystemen und der Einfluss von künstlichem Licht auf die Gesundheit der Menschen. „Smarte Technologien“ oder „Human Centric Lighting“ heißt das im Branchenjargon. Technologisch herrscht unter denAnbietern Einigkeit. LED ist mittlerweile die dominante Technologie, die bei vielen Herstellern fast 100 Prozent des Produktsortiments ausmacht.

Die LED-Technologie nimmt allerlei unterschiedliche Formen an, und in ihrer massentauglichsten Anwendung verwendet man sie heute in der Urform der Glühlampe. Diese wurde aus Umweltschutzgründen aus dem europäischen Binnenmarkt verbannt und durch Kompaktleuchtstofflampen oder eben durch LED ersetzt. Die sogenannten „Retrofit“-Lampen bewerben sich heute noch mit ihrer am wenigsten ruhmreichen Eigenschaft, der Leistungsangabe in Watt. Der schlechte Wirkungsgrad von Glühlampen führte dazu, dass ein Großteil deraufgenommenen elektrischen Leistung in Wärme umgewandelt wurde. Der Eindruck, dass Glühlampen ein „warmes Licht“machen, stimmt also. Moderne LED-Lampen ersetzten 60-Watt-Glühlampen schon mit einer Leistungsaufnahme von unter zehn Watt. Farbe und Farbwiedergabe von LED sind auch im Konsumentensegment besser geworden.

Es gab ja heftige Kritik bei der Einführung der Glühlampenverordnung, dass die LED-Technologie als Alternative nicht weit genug entwickelt und vor allem zu teuer war. Der Formfaktor von Retrofitleuchten blieben die ikonischen Grundformen der Birne und die Kerzenform. Während die klassische Glühbirne mit ein bisschen Glas, einem Glühfaden und dem auch von Thomas A. Edison erfundenen Lampengewinde auskommt, waren anfänglich die technologischen Alternativen voll von Elektronik und Lichtlenkungsmaßnahmen, die zumeist unter einem wenig attraktiven undurchsichtigen Kunststoffgehäuse verborgen waren.

Somit eigneten sich diese Lampen nicht für Leuchten, welche ihre Leuchtmittel zur Schau stellen. Eine Alternative wurde jetzt von zahlreichen Anbietern auf den Markt gebracht. Es sind LED-Filament-Lampen, die dem Glühbirnenarchetyp verwechselbar ähnlich sind. Die Vorschaltelektronik ist hier zur Gänze im Lampensockel versteckt, in den Glasdom ragen nur die mit Phosphor beschichteten „Glühfäden“. Das technologische Simulakrum hat sichtbare Auswirkungen auf die Leuchtenindustrie. So sah man viele Leuchten im dekorativen Segment, welche die reinkarnierte Glühbirne in Szene setzten. Sichtbar umhüllt von handwerklich gefertigten Glaskugeln, die entweder durchsichtig oder leicht metallbedampft sind, oder als Zentrum vom Metallreflektoren, die mit der natürlichen Materialität von Messing und Kupfer spielen. Selbst Holz scheint bei Leuchten wiederzukommen, heute mit CNC-Formteilen, die komplexe Umhüllungen der Leuchtkörper realisieren. Zum Retrotrend, der auch im Möbelbereich derzeit eine beliebte Stilform ist, passt die LED-Glühlampe im Edison-Design, hergestellt vom weltweit führenden Lichthersteller. DasErinnerungsobjekt wird in naher Zukunft mit bis zu 60 anderen Smart Devices in US-amerikanischen Haushalten seinen Dienst verrichten, wird mit dem Smartphone gesteuert werden und bei Einbrüchen rot blinken. Vielleicht bringen ja die angeschlagenen Autohersteller bald elektrische Pferdewagen auf den Markt, die selbstgesteuert mit handgefertigten Holzrädern umherrumpeln.

Erfreulich ist, dass die Lampengewinde heute noch zur Aufnahme von immer effizienteren Lampentechnologien funktionieren. Die Lebensdauer von LED-Lampen kann derzeit bei 25.000 Stunden liegen; das soll so nicht bleiben. Die Halbleiterbranche kennt nur exponentiellen Fortschritt, und von dem sollen wir alle profitieren. So wird die „geplante Obsoleszenz“ der Lampen wohlin den nächsten Jahren auf 10.000 bis 6000 Stunden reduziert werden. Wir sollen ja nicht nur einmal im Leben vor dem Lampenregal im Bau- oder Elektromarkt stehen.

Im weniger emotionalen Segment der „technischen Leuchten und Lampen“, das den Großteil der Messefläche zum Thema Licht einnimmt, werden Lichtlösungen vor allem für Verkaufsräume, Industrie und Büro vorgestellt. Die Leittechnologie LED realisiert sich hier in der Form, wie sie der Maler Wassily Kandinsky im Bauhausbuch Nummer 9 zusammenfasst: Punkt und Linie zu Fläche. Miniaturisierte Downlights und Strahlerköpfe, die in deckenbündig eingebauten schmalen Lichtschienen verschwinden, sind ästhetischer Grundkonsens. Oder der Lichtpunkt, der zur Lichtlinie wird. Deckenbündig oder abgependelt gerade oder gebogen ziehen sich Lichtlinien durch Supermärkte, Büros und Industriehallen. Die abstrakte Geometrie von Punkt, Linie und Fläche ist mittlerweile so generisch, dass sich Herstelleridentitäten kaum mehr feststellen lassen. Zahllose dünne Leuchtflächen, abgependelt auf zarten Stahlseilen, und ein störendes Stromkabel, das meist als dekorativ geschwungene Linie die Stromversorgung gewährleistet, definieren einen Bürostandard, der so uniform und klassisch ist wie Anzug und Krawatte im Büro.

Menschenbezogen gibt sich die moderne Technologie durch Sensoren, die uns theatralisch immer im normgerechten Licht durchs Büro begleiten. Um uns herum entsteht durch Schwarmintelligenz der Leuchten eine Lichtinsel im Büro, eine Art Heiligenschein für High-Performer, wenn schon alle nach Hause gegangen sind. Während für zu Hause die Selbststeuerung von färbigen gemütlichen Lichtstimmungen Hauptverkaufsargument ist, ist die Biomimikry der tageszeitabhängigen Lichtstimmung der Natur die Inspiration für zukünftige Entwicklungen im Büro. Weißes Licht, das in der Früh und am Abend warm und über den restlichen Taghindurch eher kalt ist, soll unseren natürlichen Rhythmus unterstützen und somit unser Wohlbefinden im Büro steigern.

Nicht nur das Wohlbefinden, sondern auch Leistungssteigerungen durch Licht sind durch Pilotstudien belegt. Das wäre dann der manipulative Aspekt des Lichts, der durchaus attraktive Anwendungen verspricht: weniger Medikamente bei der Altenbetreuung, weniger Stress bei Arztvisiten im Krankenhaus oder eine Lichttherapie für aufgeregte Schulklassen. Oder eben mehr Verkauf in Shops. Die Grenzen der künstlichen Beleuchtung stellte die Inszenierung in den voll verdunkelten Messehallen eindrucksvoll unter Beweis. Selbst mit den großflächigen Tageslichtsimulationen ist ein Wohlbefinden über einenlangen Messetag nicht herzustellen.

30. Januar 2016 Spectrum

Design hat die Macht

Social Design in der digitalen Moderne: Immer mehr Dinge unseres Alltags tauschen Informationen via Internet aus und versprechen Komfort und Kontrolle. Aber wollen wir das eigentlich? Zum Thema: Internet der Dinge und Ethik.

Selbstfahrende Autos haben unseren Alltag noch nicht erreicht. An ihrer Umsetzung wird jedoch schon eifrig gearbeitet. Auf abgegrenzten Versuchstrecken dürfen sie sich schon aus dem Labor in den Stadtverkehr vorwagen. In Zusammenhang mit dem Leuchtturmprojekt des Internets der Dinge (IoT – Internet of Things) wird am Rande auch die moralische Dimension der selbststeuernden Maschinen öffentlich diskutiert. Wie entscheidet die Steuerung des selbstfahrenden Autos im Falle eines Unfallszenarios, das jedenfalls Opfer fordert? Können die Sensoren erkennen, wer zu Schaden kommt, und so gezielt den Unfallhergang steuern? Wie entscheidet sich die Maschine?

Aufmerksamkeit hat kürzlich eine Puppe erregt, die mit Kindern plaudert und mittels eines Spracherkennungsprogramms die Kinderzimmergespräche auswertet und an die Eltern weiterleitet. „Der Spion im Kinderzimmer“ war die naheliegende Kritik am Hightech-Spielzeug, das intime Kindergespräche aushorcht. Die Waage, das Fieberthermometer, das Türschloss, das Buch, der Kühlschrank – immer mehr Dinge unseres Alltags tauschen Informationen über das Internet aus, um noch nie da gewesenen Komfort und Kontrolle zu versprechen. Die Waage zeigt nicht nur unser Gewicht an, sondern sie ermuntert uns abzunehmen und teilt den Fortschritt des Unterfangens in den sozialen Medien mit unserem Freundeskreis. Ein archaischer Animismus zeigt sich in technologischer Gestalt. Die Dinge senden uns Nachrichten und empfangen welche von uns; sie piepsen nicht mehr nur, sondern sie formulieren empathische Nachrichten. Sie tauschen sich untereinander aus. Die Dinge werden belebt, wie in archaischen Gesellschaften.

Die gesellschaftlichen Auswirkungen, diesich durch die Veränderung von einfachen Dingen zu Kommunikationsmaschinen ergeben werden, hat der amerikanische Mathematiker Norbert Wiener schon 1952 in seinem Buch „Mensch und Menschmaschine“ dargelegt. Während wir gewohnt sind, Nachrichten als den Austausch von Information zwischen Menschen zu verstehen, wird hier auf die zunehmende gesellschaftliche Bedeutung von Nachrichten von Mensch zu Maschine, von Maschine zu Mensch und von Maschine zu Maschine hingewiesen. Der Mitbegründer der Kybernetik, der Wissenschaft, die – wie Wiener ausführt – sich mit dem Studium von Nachrichten und insbesondere Regelungsnachrichten beschäftigt, weist unmissverständlich auf eine Entwicklung hin, in der Maschinen in Domänen des Menschen vordringen. Nicht vor der Maschine warnt er, sondern vor der egoistischen Ausbeutung der Möglichkeiten, welche das Maschinenzeitalter birgt.

Die Gestaltung von Dingen, die zunehmend das Internet der Dinge bevölkern, bedarf einer Maschinenethik. Ein aktueller Vorschlag dazu kommt von vier jungen Designstudios, welche das IoT Manifesto initiiert haben. In zehn Punkten wird darin ein Verhaltenskodex vorgeschlagen, der bei der Entwicklung von digitalen Produkt-Service-Konzepten berücksichtigt werden sollte. Gleichzeitig könnte er auch als Ratgeber für die Nutzung von bestehenden IoT-Angeboten verwendet werden: Wird ein Produkt nur wegen des derzeitigen Hypes mit dem Internet verbunden? Ist das Produkt zweckmäßig, macht es unser Leben bedeutungsvoller? Entsteht eine Win-win-Situation in der Beziehung und dem Austausch zwischen Nutzer und Anbieter? Ist das Angebot sicher? Ist Privatheit gewährleistet? Werden gesammelte Informationen ausschließlich zum Erbringen des Nutzens verwendet? Verstehen wir die Dynamik des Informationsflusses und das komplexe Netzwerk der Interessengruppen? Haben wir die Kontrolle über unsere Rolle im Netzwerk? Ist die Lebensdauer der physischen Produkte und der digitalen Services aufeinander abgestimmt?

Der letzte Punkt des Manifests bezieht sich auf die gesellschaftliche Rolle des Designs, die Gestaltung von Beziehungen zwischen Mensch und Technologie als auch die Gestaltung von Beziehungen von Menschen zu Menschen. Design hat die Macht, diese Beziehungen zu gestalten. Verantwortungsvolles Design kümmert sich nicht vorrangig darum, Profite herauszuschlagen oder sich ander Inthronisierung der Roboter zu beteiligen – so die Forderung des Manifests.

Soziales Design ist in der digitalen Moderne in den Domänen der Programmierung, des Interface und Service-Designs – der Gestaltung der Kommunikationsmaschinen – angekommen. Und wo werden die Maschinen in Zukunft hergestellt? Wir stehen am Anfang der vierten industriellen Revolution, welche durch extreme Automatisierung und Vernetzung gekennzeichnet ist. Norbert Wiener hat auch diese Revolution vorhergesehen. In seiner automatischen Fabrik kommunizieren die Werkstücke schon direkt mit einem automatischen Hochgeschwindigkeitsrechner. Die automatische Fabrik hat nicht nur die Möglichkeit von hohen Stückzahlen. Auch Einzelstücke oder Kleinserien können in der heute sogenannten Industrie 4.0 realisiert werden. Dieses Fabrikationsumfeld eignet sich so zukünftig auch für Kleinprojekte, die durch Crowdsourcing finanziert werden.

Ein aktuelles Beispiel ist ein demokratischer Computer um neun Dollar. Die Initiatoren haben dazu von fast vierzigtausend Interessierten zwei Millionen Dollar für die Hightech-Produktion in China über eine Finanzierungsplattform eingesammelt. Mit der Platine können unabhängige Entwicklungen im Bereich des Internets der Dinge vorangetrieben werden. Die geringen Kosten des Minicomputers machen ihn für zahlreiche Umwandlungen von einfachen Dingen in Kommunikationsmaschinen attraktiv. Zu Kapital und Produktionsmitteln gibt es heute einen demokratischeren Zugang, der alternative Produktionsszenarien ermöglicht. Billige Hightech-Maschinen und alternative Finanzierungsformen ermöglichen eine Vielzahl von neuen Experimenten. Und diese wird man auch brauchen, um den Angeboten der globalen Technologiekonzerne zukunftsfähige und menschenwürdige Alternativen entgegenzustellen. Selbst Autos könntenso unabhängig im lokalen Maßstab gebaut werden.

Die automatischen Fabriken der Zukunft setzen durch die kybernetischen Prinzipien der Selbststeuerung und Selbstregulierung ein neues Fabrikationsparadigma, das nicht nur die Herangehensweise und den Gestaltungsraum des Designs erweitert. Zukünftige gesellschaftliche Fragestellungen werden sich mit der Menschmaschine und der menschenwürdigen Verwendung des Menschen, wie das Norbert Wiener formuliert hat, befassen. Bei allen rationalen Mehrwertsversprechen der Kommunikationsmaschinen bleibt uns auch in der digitalen Moderne die Sehnsucht nach dem Schönen. Der Kulturphilosoph Byung-Chul Han kritisiert in seiner Schrift „Die Errettung des Schönen“ die Poesielosigkeit des Internets der Dinge, denn dort werde gezählt statt erzählt. Schönheit ereignet sich dort, wo die Dinge sich einander zuwenden und miteinander Beziehungen eingehen.

5. Dezember 2015 Spectrum

Eineinhalb Erden

Beim Essen fragen wir uns, woher es kommt. Nun sollten wir beginnen, uns das auch bei technischen und anderen Rohmaterialien zu fragen. Biokleidung könnte kompostiert werden, aus der Erde wird wieder Nahrung: zum Funktionieren der Kreislaufwirtschaft.

Im Zeitalter des Anthropozäns entwickelt die Menschheit neue Rituale. Wir sind zu einem geologischen Faktor geworden und feiern unsere weltverändernde Macht auf den Klimakonferenzen der Vereinten Nationen. Das Logo der heurigen Zusammenkunft aller Länder, die etwas für den Klimaschutz versprechen, könnte man als grünes Blatt lesen. Die stilisierte Mittelrippe des Blatts ist als Eiffelturm erkennbar. Am linken Rand des Blattes scheint die Sonne durch einen stilisierten Insektenbiss. Die Heraldik des Klimawappens von Paris fügt sich nahtlos in die zahllosen Produktgrafiken ein, die mittels eines stilisierten Blatts ökologisches Gewissen vortäuschen. Der Eiffelturm im Klimawappen erinnert an ein industrielles Zeitalter, das seinen Energiehunger aus nicht erneuerbarenEnergieträgern wie Kohle und später Erdöl gestillt hat.

Eineinhalb Erden ist der ökologische Fußabdruck der Weltbevölkerung zurzeit und stellt somit eine gefährliche Übernutzung der natürlichen Ressourcen dar. Längst ist uns bewusst, dass lineares Wirtschaften nicht zukunftsfähig ist. Das Europaparlament hat im Sommer einen Text verabschiedet, der notwendige Schritte hin zu einer Kreislaufwirtschaft aufzeigt. Design und Architektur sind explizite Überschriften von Maßnahmen, welche die Ressourceneffizienz steigern und die Abhängigkeit der europäischen Wirtschaft von importierten Rohstoffen verringern sollen. Damit werden die angewandten Kunstdisziplinen zu einemgesellschaftspolitischen Katalysator für das, was das Europäische Parlament als einen Paradigmenwechsel und Systemwandel unseres Wirtschaftens bezeichnet. Wir haben uns eine Welt ohne Abfälle vorgenommen. Bis 2050 streben wir eine nachhaltige Verwendung von Ressourcen an. Für den Wandel fehlt es uns nicht an Informiertheit, sondern an Entschlossenheit. Der Maßnahmenkatalog des Europaparlaments führt zahlreiche Kennzahlen an, welche den falschen Weg, den wir Richtung eines Weltressourcenverbrauchs von drei Erden einschlagen, belegen.

Design und Architektur sind jetzt am Zug, Modelle und Alternativen für diesen Wandel zu entwickeln. Wir sollten nicht nur darüber nachdenken, wie die Dinge aussehen und benutzt werden, sondern auch woher die Rohstoffe kommen. Unter welchen ökologischen und sozialen Bedingungen werden Rohstoffe abgebaut? Wie viel Prozent der verwendeten Materialien wurden wiederverwertet? Sind die verwendeten Materialien natürliche Rohstoffe?

Wir haben uns beim Essen angewöhnt zu fragen, woher unsere Nahrung kommt. Wir sollten nun auch damit beginnen, uns das bei technischen und biologischen Rohmaterialien zu fragen. Kleidung aus biologischen Rohstoffen wie Hanf oder Baumwolle könnte kompostiert werden. Und aus der Erde wird wieder Nahrung. Vorausgesetzt, es sind keine giftigen Stoffe in der Kleidung enthalten. Eine Stofffabrik, die ihre Produktion auf kompostierbare Fasern umstellt, hat plötzlich keinen Giftabfall mehr, der verbrannt werden muss und schädliche Emissionen erzeugt, sondern Ausgangsmaterial für Kompost. Der kann sogar verkauft werden, anstatt Entsorgungsgebühren zu bezahlen. Eine Hose, die wie ein Blatt verwelkt, am besten jedes Jahr und damit wieder Platz für eine neue Mode macht. An dieser Stelle könnten die ökonomischen Auswirkungen auf Arbeitsplätze und Unternehmensgewinn aus dem Dokument der EU zitiert werden.

In biologischen Kreisläufen hat es sehr viel Sinn, über Langlebigkeit und Nutzungskaskaden nachzudenken. Zu schnell wird heute, was nicht zu den Filetstücken eines Baums gehört, verbrannt. Das österreichische Forschungshaus „LISI“, das den Solar Decathlon 2013 in den USA gewann, zeigt auf poetische Weise, wie ein Baum als Ressource genutzt werden könnte: Aus den Blättern wird ein Vorhang, aus dem Stamm wird Konstruktionsholz, und aus der Rinde entstehen Innenverkleidungen mit hervorragenden Eigenschaften für Raumklima und Akustik und Schalenmöbel. Das von der Fachhochschule Salzburg auf dem Campus Kuchl entwickelte Materialkonzept hat jedenfalls das Potenzial, mit der Industrie weitergedacht und industrialisiert zu werden. Das Siegerhaus schwimmt in der Blauen Lagune vor Wien im Wasser, doch viele nachhaltige Ansätze konnten nicht in das Serienprodukt übernommen werden.

Baumrinde könnte in Zukunft ein wichtiger Rohstoff für den Innenausbau werden. In einer Zeit, in der es eine Rückbesinnung zum Natürlichen gibt, wäre dieser Rohstoff ein hervorragender Ausgangspunkt für neue Oberflächen. Die für LISI unter der Leitung von Michael Ebner entwickelten Sitzschalen aus gehäckselten Baumrinden zeigen das Potenzial eines Werkstoffs, der in Österreich in Massen anfällt und wenig kostet.

Wir müssen heute intelligenter und wertschätzender mit unseren Materialien umgehen. Zukünftig gibt es keine Abfälle mehr. Vielleicht können die Baumrindenpaneele sogar einen gleich hohen Preis erzielen wie das dekorative Brett, das aus dem Stamm geschnitten wird. Ein Paradigmenwechsel. Kreislaufdenken erfordert Kreativität und die Erschließung neuer Ressourcenquellen. Rinde ist ein natürlicher Hightech-Werkstoff, derden Temperaturhaushalt eines Baums regelt. Was in einer Industrie als Abfall anfällt, kann in einer anderen Industrie als Ressource verwendet werden. So ergeben sich interessante neue Zusammenhänge, die zum Ausgangspunkt von nachhaltigen Produktinnovationen werden.

Ebenfalls ein Projekt der FH Salzburg ist die Weiterentwicklung eines Isolationswerkstoffs aus Tannin. Styropor wird heute massenhaft in der Bauindustrie als Isolationswerkstoff eingesetzt. Grundlage seiner Herstellung ist Erdöl. Styropor kann nicht recycelt werden. Am Ende des Lebenszyklus ist Styropor ein Problemstoff, der nur thermisch verwertet werden kann. Durch die Art, wie er im Fassadenaufbau verwendet wird, ist auch seine Trennung von anderen mineralischen oder natürlichen Baustoffen problematisch. Tanninschaum ist von seinen Eigenschaften her ein vielversprechender Ersatz für Styropor. Doch auch hier ist die Industrie zögerlich. Tanninschaum ist ein Baustoff, der biologisch abbaubar wäre und aus einem industriellen Abfallstoff gewonnen werden kann. Dass die Industrie hier nicht aufspringt, kann nur an verfehlten Rahmenbedingungen liegen, die mit dem politischen Bekenntnis zur Kreislaufökonomie sich hoffentlich schnell ändern werden.

Es liegt an uns allen, zukunftsorientiert zu handeln, lange bevor die Ecodesign-Gesetze durch die Institutionen verabschiedet werden. Wir können heute schon ein Haus bauen, das einen neutralen CO2-Fußabdruck hat. Wir können Kleidung herstellen, die wie ein Blatt wieder zu Erde wird. Wir können aus den Abfällen einer Industrie einen neuen umweltfreundlichen Wertstoff entwickeln. Mit diesen Beiträgen demonstrieren wir, dass ein anderes Gestalten möglich ist. Eine funktionierende Kreislaufwirtschaft würde auch einen entscheidenden Beitrag zur Reduktion von Treibhausgasen leisten.

3. Oktober 2015 Spectrum

First Things First

Produkte haben wir schon genug– verwenden wir Gestaltung, um sozial innovativ zu sein. Stichwort Social Design: ein Rundgang durch Wiener Aktualitäten.

Design, Kunst und Architektur üben sich bei Festivals aktuell als sozial wirksame Disziplinen und Treiber eines positiven gesellschaftlichen Wandels. Ein häufig verwendetes Format ist eine laborhafte Situation, in der positives gesellschaftliches Handeln untersucht, ausgestellt und erprobt wird. Das Social Lab ist eine geeignete prozesshafte Form, Designstrategien auszuprobieren und unmittelbar erlebbar zu machen. Der Designbeitrag „2051: Smart Life in the City“ zur Vienna Biennale 2015 (Ideas for Change) verwendet die Form, ebenso das Format „Stadtarbeit“ bei der Vienna Design Week 2015. Ein groß angelegtes Social Lab initiiert zudem „Urbanize!“, das internationale Festival für urbane Erkundungen in Wien.

Social Design ist eine Designhaltung und -praxis, welche die Werkzeuge des Designs nutzt, um an einem positiven gesellschaftlichen Wandel zu arbeiten. Um diesen Wandel herbeizuführen, braucht es, wie im österreichischen Klimaschutzbericht als Ratschlag für Politikmachende nachzulesen ist, neben technologischer Innovation auch soziale Innovation und partizipatives Handeln. Victor Papaneks Designbuchklassiker von 1970, „Design for the Real World“, ermahnt dazu, sich nicht nur um die Luxusdesignprobleme des globalen Nordens zu kümmern, sondern um alle. Design für die anderen 90 Prozent der Menschen, aber auch für die anderen 90 Prozent der Herausforderungen, denen wir uns im Rahmen der derzeitigen Auffassung von Designarbeit nicht widmen.

Die mehreren Tausend Flüchtlinge, die täglich in Österreich ankommen, nur für kurze Zeit hier bleiben oder sich dauerhaft ansiedeln wollen, gehören zu diesen 90 Prozent. Die Arbeit an sozialer Innovation eröffnet auch den Raum für neue gestalterische Praktiken. Mit dem Staatspreis Design 2015 wurde in der Kategorie Innenraumgestaltung kürzlich das Hotelprojekt der Caritas, das Magdas Hotel – entworfen und umgesetzt vom Architekturbüro AllesWirdGut – ausgezeichnet. Das Sozialunternehmen Magdas Hotel bietet seine Gastfreundschaft internationalen Hotelgästen und unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen an, ein Großteil des Hotelpersonals hat ebenfalls Fluchterfahrung. Um nicht auf Spenden angewiesen zu sein, werden die Einkünfte des Hotels für die Bereitstellung der Flüchtlingsunterkünfte verwendet. Der Herausforderung, mit knappen Mitteln ein attraktives Hotel auszustatten, trotzten AllesWirdGut mit einer partizipativen Herangehensweise. Zahlreiche Möbel wurden nach einem Aufruf gespendet und mit Freiwilligen teilweise umgestaltet. Gestaltung in solchen Kontexten heißt oft reagieren, moderieren, motivieren und Gestaltungsfreiräume für Co-Kreation zulassen. Die über hundert Lampenschirme, welche an zahlreichen Samstagen mit bunter Wolle eingestrickt wurden, sind Beispiel für Massenkreativität, die sich dann doch in ein gesetztes Bild einfügt. Im Rahmen der Vienna Biennale hat AllesWirdGut ein gleichnamiges Buch herausgegeben, das die Erfahrung dieses und anderer gesellschaftsverändernder Projekte nachvollziehbar macht und zum Nachahmen anregt.

Omas und Opas backen Kuchen

Die Vienna Design Week kooperiert ebenfalls mit der Caritas. Mit dem Projektformat „Stadtarbeit“ initiiert das Designfestival seit 2012 Social-Design-Projekte im Wiener Stadtraum. Die „Vollpension“ der Gebrüder Stich ging nach ihrer Pilotphase während des Festivals heuer als permanentes Sozialunternehmen aus dem Projekt hervor. Hier bereiten Omas und Opas Kuchen und Schweinsbraten für junge Menschen; eine sympathische Form der Inklusion einer Generation, die ihren Lebensabend heute meist im Seniorenheim oder allein zu Hause zubringt. Nach einigen Jahren des Pop-up-Daseins hat sich das Projekt verstetigt und ist so auch nun eines der Vorzeigeprojekte für innovatives Sozialunternehmertum. In der heurigen Ausgabe der „Stadtarbeit“ lädt die Künstlerin Ebru Kurbak zu Workshops am Viktor-Adler-Platz ein, um Kulturtechniken anderer Länder kennenzulernen: eine nomadische Hütte zu bauen oder einen afghanischen Eintopf zu kochen. Studierende des Caritas-Lernsprung-Programms werden so selbst zu Lehrern. Die Künstlerin agiert als Forscherin von alternativen Lernformen, die soziale Inklusion stärken. Der Rahmen eines Designfestivals schafft Aufmerksamkeit dafür und sorgt für Austausch mit einer sonst nicht erreichten Öffentlichkeit: ein Hinweis auf zukünftige Arbeitsgebiete des Designs sowie eine Einladung, zivilgesellschaftliches Engagement zu zeigen.

Das „Cooperative Playground Lab“ des Urbanize! Festivals teilt sich zurzeit gemeinsam mit einer Flüchtlingsunterkunft des Roten Kreuzes ein Gebäude in der Vorderen Zollamtsstraße, das später von der Universität für angewandte Kunst als Standort genutzt werden wird. Vor dem ursprünglich geplanten Eingang des Festivals stehen jetzt wartende Flüchtlinge, Polizei und Rotes Kreuz. Das Motto des Festivals, „Do It Together“, wird in der ungewöhnlichen Hausgemeinschaft auf die Probe gestellt. Auch hier wird wieder kooperativ gehämmert und gesägt, es entstehen Möbel für die Flüchtlinge im Notquartier. Angebot und Programm des Festivals wurden so erweitert, dass auch die Menschen auf der Flucht angesprochen werden. Nach Ende des Festivals werden künstlerische räumliche Elemente wie der Kinderspielplatz vom Adhocrates Collective den Flüchtlingen weiter zur Verfügung stehen.

Die gesellschaftlichen Herausforderungen, vor denen wir stehen, finden Lösungsansätze in der Arbeitsweise der Akteure, die in diesen temporären Versuchsanordnungen alternative Zukünfte erproben. Jetzt braucht es Wirtschaft, Gesellschaft und Politik, um die Arbeit der sozialen Labors zu skalieren, sie tragfähig und als Arbeitsfeld attraktiv zu machen. Die Arbeitssituation vieler Akteure des Wandels ist prekär. Für einen Wandel müssen wir sie stärken und ihnen eine Perspektive jenseits der Festivals geben. Umweltschutz, Kooperation, Inklusion, Offenheit und Gemeinwohlorientierung sind Werte, auf denen Social Design aufbaut. Unternehmen, Kommunen und zivilgesellschaftliche Initiativen, die diese Werte teilen, sind der Nährboden für ein neues Designverständnis und sinnvolle Kreativarbeit. „First Things First“ hieß das Grafikmanifest, das 1964 von Ken Garland veröffentlicht wurde und sich für eine humanitäre Ausrichtung im Design einsetzte. Die kreative Energie, die in den Entwurf und die Bewerbung für sinnlose Produkte geht, könnte besser eingesetzt sein, war sein Befund. Produkte haben wir genug heute – verwenden wir Gestaltung, um sozial innovativ zu sein.

16. Mai 2015 Spectrum

Was wirklich zählt

Der Graben zwischen den Idealen einer gesellschaftsorientierten Designausbildung und einer rein profitorientiert agierenden Industrie ist heute noch groß. Er muss endlich überbrückt werden. Hinweise zu einer neuen Agenda des Designs: „Beyond the New.“

Eine der ersten Neuigkeiten, die sich während der diesjährigen Mailänder Möbelmesse verbreitete, war das Designmanifest der Designerin Hella Jongerius und der Designtheoretikerin Louise Schouwenberg. Ein Manifest gegen das immer Neue im Design, betitelt mit: „Beyond the New. A Search for New Ideals in Design.“ In einem Kontext, in dem die Designwelt eine Woche lang von einer aufgeregten Designmarketingaktion zur nächsten eilt, präsentierten die beiden eine Zusammenfassung ihrer seit 1997 andauernden kritischen Diskussion über die Potenziale und Exzesse der Designdisziplin. Eine Disziplin, die, so die Diagnose der angesehenen Vertreterinnen derselben, die Balance verloren hat zwischen ihren Werten und dem, was zählt.

Im Zentrum der Kritik steht die sinnentleerte Produktion von vermeintlich immer Neuem, dessen einzige Rechtfertigung und Anspruch ist, eben neu zu sein. Der Ort der Präsentation ist wohlüberlegt, kritisiert das Manifest ebensolche Designgroßveranstaltungen, die mit ihrer hohlen Marketingrhetorik rund um die neuen Produkte das Neue des Neuen wegen feiern.

Doch nicht nur der Ort, sondern auch der Zeitpunkt der Kritik ist für alle kritischen Beobachter des Designs nachvollziehbar. In einer Zeit, in der ein positiver gesellschaftlicher Wandel hin zu einer weltverträglichen Lebensweise dringlich nötig wäre, irritiert die weit verbreitete Designauffassung, die eine allzu kurz gefasste, ausschließlich kommerziell und profitorientierte Idee des Neuen als einziges Ziel formuliert. Die Designdisziplin verlor inden vergangenen Dekaden an gesellschaftlicher Relevanz. Gleichzeitig ist das aber der Zeitraum, in dem Design immer mehr Aufmerksamkeit zuteil wurde. Eine Aufmerksamkeit, die sich allerdings auf eine sehr oberflächliche Auseinandersetzung mit Design gründet, und eine Dynamik, die wir aus der Welt der Mode kennen, unreflektiert auf alle Bereiche der Gestaltung von Alltagsgegenständen überträgt, in denen der tägliche Wechsel der Lustobjekte nicht sinnvoll umsetzbar scheint. Nun fordern Jongerius und Schouvenberg eine idealistische Agenda für das Design, welche die Werte, die Designschaffende und Produzierende einmal inspiriert haben, wieder einfordert.

Das Manifest fängt mit der positiven Rolle der Industrie an. Ein Segen, wenn sie hochqualitative Produkte einer großen Masse an Menschen zu einem guten Preis zur Verfügung stellen kann. Industrielle Produktion hat ein größeres Veränderungspotenzial als die Produktion von exklusivem Design in kleiner Stückzahl für wenige. Der Designprozess für die industrielle Produktion sollte nicht mit einem leeren Blatt Papier beginnen, sondern auf dem aufbauen, was schon existiert. Das Aufspüren der kulturellen und historischen Wurzeln von Produkten sollte der Ausgangspunkt für Design sein, nicht der geniale Wurf, der nur neu sein will der Neuigkeit wegen. Bei Design soll es nicht um Objekte gehen, sondern um die Gestaltung von Beziehungen. Gutes Design kommuniziert mit den Nutzern und schafft Bedeutung. Diese Fähigkeiten des Designs werden immer noch zu wenig ausgenützt.

Eine Ebene der Kommunikation ist die Ästhetik, wobei das Potenzial des Hässlichen noch zu wenig erforscht ist. Ästhetische Verfeinerung, die Suche nach neuen Ausdrucksformen, aber auch die persönliche Signatur bleiben angestrebte Werte im Design. Hingegen fordern Jongerius und Schouvenberg mehr Experiment und visionärere Projekte, welche in Balance zu den vermarktbaren Industrieprojekten stehen. Eine Designpraxis, die ohne Forschung und Experiment auskommt, hat keine ernst zu nehmende Agenda. Und diese Forschung betrifft auch die taktile Qualität von Materialien, derenexpressive Ausdrucksqualitäten. Denn Alltagsgegenstände werden verwendet, gesehen, berührt.

Gutes Design vereint sowohl Zeitgeist als auch ein tiefgreifendes Verständnis der Vergangenheit. Design ist keine Kunst, sondern erfordert die Weiterentwicklung experimenteller und Aufsehen erregender Gesten im Kunstkontext in alltagsfähige Objekte, die eine große Verbreitung haben.

Designer sollten sich bewusst sein, welche Firmen ihre moralischen und ästhetischen Werte teilen, aber auch welche sie nicht teilen. Denn die Gestaltung von Produkten sollte sich nicht nur auf deren ästhetischen Reiz beschränken, sondern auch deren Reparierbarkeit und Recyclierbarkeit umfassen. Produkte müssen als Teil einer Kreislaufwirtschaft gedacht werden. „Authentizität“ und „Nachhaltigkeit“ sind hohle Begriffe und müssen zukünftig durch gemeinsame Ideale und moralische Werte ersetzt werden. Neue Konzepte müssen sich im Alltag bewähren, dazu braucht es Forschung, Zeit und das Hinterfragen von Gewohntem.

Das gilt sowohl für das Design als auch für die Industrie. Ein Mittel, um Neues und Inspirierendes zu schaffen, ist das Spielen. Gutes Design erfordert Forschung. Gutes Design ist Forschung. Alles muss auseinandergenommen und neu gedacht werden. Die Designdisziplin muss sich selbst neu erfinden, gemeinsam mit einer Industrie, die nur, wenn sie die Herausforderungen annimmt und Mut zum Experiment zeigt, das volle Potenzial neuer Technologien – einschließlich der digitalen Medien – ausschöpfen kann.

Den speziellen Status, den das Design hat, nämlich zwischen Nutzung und Produktion zu stehen, versteht das Designmanifest als Möglichkeit, eine positive Veränderung zu initiieren. Diese Chance wird von Design heute zu wenig genutzt. Design ist ein Angelpunkt der industriellen Produktion, und die dringlich benötigte positive Veränderung sollte auch vom Design ausgehen. Ausbildungsstätten für Design haben für den positiven Wandel eine zentrale Bedeutung. Dort soll über die Rolle von Design und dessen gesellschaftspolitischen Anspruch diskutiert werden. Design als Werkzeug, um gesellschaftliche Probleme anzugehen, und als Strategie.

Das steht noch immer im krassen Gegensatz zu der Praxis des Designs, wo das Ego und die Profitgier vor dem Gemeinwohl stehen. Der Graben zwischen den Idealen einer gesellschaftsorientierten Designausbildung und einer rein profitorientiert agierenden Industrie ist heute noch groß. Dieser muss überbrückt werden. Ohne gemeinsame Ideale wird das kaum zu schaffen sein. Hella Jongerius, die Designerin, die erfolgreich mit der Designindustrie zusammenarbeitet, und Louise Schouwenberg, die den Studiengang „Contextual Design“ an der Design Academy Eindhofen leitet, beanspruchen nicht für sich, alles richtig zu machen. Ihre Involviertheit in das System ermöglicht ihnen aber eine Kenntnis und ein tief gehendes Verständnis der gegenwärtigen Verhältnisse, die sie berechtigterweise in ihrem Manifest kritisieren und Veränderung einfordern. Keine radikale Systemveränderung, sondern eine Rückkehr zu zeitgemäßenIdealen im Design

28. März 2015 Spectrum

Kinder auf die Straße!

Mit der Wiener Spielstraße bekennt sich die Stadtpolitik zu einer Wiederbelebung der Straßenkultur und der Förderung nachbarschaftlicher Begegnung. Ein Spaziergang.

Wien hat seit 2012 eine utopisch anmutende Institution: die Wiener Spielstraße. Es handelt sich dabei nicht um einen auf einem rechteckigen blauen Verkehrsschild definierten Straßenraum, der besondere Verkehrs- oder Spielregeln für Autos, Fahrrad- und Fußgängerverkehr und Kinder vorschreibt. Die Spielstraße ist nicht in der Straßenverkehrsordnung verankert, anders als die Wohnstraße, die es seit gut 30 Jahren gibt und wenigstens der Ikonographie nach spielende Kinder auf der Straße zeigt.

Das Gesetz definiert Straße als „eine für den Fußgänger- oder Fahrzeugverkehr bestimmte Landfläche samt den in ihrem Zuge befindlichen und diesem Verkehr dienenden baulichen Anlagen“. Kinder gehören laut Straßenverkehrsordnung zur Gruppe der „bevorzugten Straßenteilnehmer“, gemeinsam mit Einsatzfahrzeugen, Fahrzeugen des öffentlichen Diensts, Müllabfuhr, Kanalwartung, Schienenfahrzeugen und Wirtschaftsfuhren. Während andere bevorzugte Verkehrsteilnehmer sehr selbstbewusst den Straßenraum nutzen können und ihnen allenfalls auch Platz zu machen ist, beschränkt sich die gesetzliche Regelung bei Kindern auf den sicheren Wechsel von einer Straßenseite auf die andere. Angeleitet und begleitet werden sie durch Signalstäbe von Straßenlotsen in Schutzausrüstung oder Betreuer, die auf der Straße stehen und ihre Arme ausbreiten, bis die Kinderhorde den Gehsteig gewechselt hat.

Eingebläut wird den Kindern, dass die Straße gefährlich ist. Das war wohl nicht immer so wie heute. Durch die „baulichen Anlagen“ findet eine Bevorzugung des individuellen Stadtverkehrs durch Autos statt und nicht der Kinder, so wie das vielleicht irrtümlicherweise im Gesetz unter dem Abschnitt III eingeordnet ist. Der Platz für Kinder ist wohl der Spielplatz und nicht die Straße, doch gäbe es wohl kaum die Kategorie der Straßenspiele, die sich noch im kollektiven Gedächtnis der (Ur-)Großelterngeneration erhalten hat, wenn das nicht einmal anders gewesen wäre.

Die Wiener Spielstraße ist eine temporäre Intervention im Stadtraum, die das gebaute Umfeld der Straße neu definiert und im zeitgenössischen Architekturdiskurs wohl unter „Taktischer Urbanismus“ einzuordnen wäre. Mit der Wiener Spielstraße bekennt sich die Stadtpolitik zu einer Wiederbelebung der Straßenspielkultur und somit der Förderung des gemeinsamen Spiels in der unmittelbaren Nachbarschaft. Initiative und Begleitung des strategischen Projektes erfolgt durch zwei Magistratsabteilungen, der MA 13 (Bildung und außerschulische Jugendbetreuung) gemeinsam mit der MA 18 (Stadtentwicklung und Stadtplanung). Für mehrere Stunden am Nachmittag wird ein Straßenabschnitt ausschließlich für das Spiel der Kinder bereitgestellt. Straßen, die Kindereinrichtungen wie Schule, Hort, aber auch außerschulische Einrichtungen der Jugendarbeit aufweisen, in denen kein öffentliches Verkehrsmittel fährt, keine Zufahrt zu einer größeren Garage ist, und es keine wichtige Radverbindung gibt, eignen sich als potenzielle Spielstraßen. Den Eingang der Spielstraße signalisiert keine Amtstafel, sondern ein bunt bemaltes Transparent und ein mobiles rot-weißes Scherengitter, das Fahrzeuge vom Einfahren in die Spielstraße abhält. Eigentlich wird die Straße nicht gesperrt, sondern für alle Menschen geöffnet. Die Spielstraße ist autofrei, es gibt auch keine parkenden Fahrzeuge. Dadurch entsteht ein großzügiger freier Stadtraum, der neue Angebote für das Spiel bietet und vor allem Freiraum für die Kinder ist.

Im Gegensatz zum Spielplatz, wo Territorien der unterschiedlichen Nutzer teils schon baulich festgelegt und schwer verhandelbar sind, bietet die leergeräumte Straße einen neutralen Ausgangspunkt, der erst erobert werden muss. Die professionelle Begleitung der Spielstraßen übernimmt die Parkbetreuung, deren Mitarbeiter von zahlreichen gemeinnützigen Vereinen gestellt werden, die in den Bezirken tätig sind.

Somit kommen unterschiedliche pädagogische Ansätze zur Anwendung, die von einer strukturierten Spielumgebung mit Angeboten zur Bewegungsförderung und zu Gesellschaftsspielen bis zu Formen des freien Spiels reichen können.

Die Spielstraße in der Phorusgasse im 4. Wiener Bezirk diente als Pilotprojekt und wurde von der Parkbetreuung des Wiener Familienbundes gemeinsam mit der Lokalen Agenda Wieden umgesetzt. Torsten Peer-Englich, der Leiter der Parkbetreuung des Vereins, interpretierte das von der Pädagogin Emmi Pikler formulierte freie Spiel auf den Straßenraum um. Nach Emmi Pikler müssen Kinder nicht zum Spielen animiert werden. Es wurden eine rohe, wenig vorstrukturierte Umgebung und funktional nicht eingeschränkte Materialien zur Verfügung gestellt. Kinder können mit einem Fahrradreifen viel mehr Spielideen umsetzen als mit einem Fahrrad. Rohe Materialien wie Karton, Farben, Seile, Tücher, aber auch Alltagsgegenstände wie Zeitungspapier, Videobänder, Gummihandschuhe und Besenstiele lassen sich in vielfältiger, unbeabsichtigter und überraschender Weise verwenden. Daraus können die Straße überspannende Spinnennetze, Verkleidungen, Geschicklichkeitsparcours, Kartonfahrzeuge oder Behausungen werden.

Kinder haben sehr individuelle Bedürfnisse. Manche produzieren laufend neue Dinge, andere schauen eine Weile zu. Es bilden sich Gruppen und gleichzeitig können Kinder auch alleine spielen. Riesige Bälle bewegen sich durch die Straße. Erinnerungen an die Architektur- und Design-Avantgarde der 1960er- und 1970er-Jahre werden wach. Eine scheinbar chaotische Situation bildet den Ausgangspunkt einer komplexen Nutzung, die Raum für alle bereitstellt.

Die Kinder erobern sich die Straße, anstatt sich mit vorgefertigten Szenarien zufriedenzugeben. Gleichzeitig lernen sie ihre Stadt mit anderen Augen zu sehen und erfahren für ein paar Stunden, dass der Straßenraum, ja vielleicht die ganze Stadt auch anders genutzt werden könnte. Die Absperrung vor dem Schuleingang, die verhindern soll, dass die Kinder auf die Straße rennen, ist plötzlich nur mehr ein absurdes Objekt, das bestenfalls dazu dient, das überdimensionale Spinnennetz daran zu befestigen. Die offene Spielsituation fördert gleichermaßen Kooperation und Durchsetzungsvermögen im öffentlichen Raum, wichtige Eigenschaften für zukünftige und mündige Stadtbewohner.

Das transformative Potenzial der Wiener Spielstraße fand auch Eingang in das Fachkonzept Mobilität, das vom Wiener Gemeinderat beschlossen wurde und Teil des Stadtentwicklungsplans STEP 2025 ist. Die Rückeroberung der Straße findet jetzt wieder in der warmen Jahreszeit statt und zeigt, dass Kinderspiel in der Stadt nicht auf den gut gestalteten Spielplatz beschränkt sein darf. Die Kinder sind die Pioniere, denen wir Stadtbewohner nun folgen müssten, um auch unsere nicht kommerziellen Bedürfnisse im öffentlichen Raum zu artikulieren und auszuprobieren. Eine kindgerechte Stadt ist eine menschengerechte Stadt.

6. Dezember 2014 Spectrum

Spuren von Engeln

Alle Jahre wieder: die Adventbeleuchtung. Unter Sternen, Kristallformationen und surrealen Kugeln wird das Konsumerlebnis dramaturgisch aufbereitet. Design und Lichtinstallationen österreichischer Künstler in Wiener Einkaufsstraßen.

Weihnachtsmärkte und die weihnachtliche Beleuchtung von Einkaufsstraßen sind die dramaturgischen Mittel des Adventkapitalismus. Die bevorzugte Bauform auf den Advent- und Christkindlmärkten ist zumeist die einfache Holzhütte mit Giebeldach, die sich im Systembau auch zu größeren Formationen zusammenbauen lässt. Almhütten und Hüttenpagoden sind ebenfalls anzutreffen und bescheren den von Punsch Erheiterten den wohltuenden Kontrast zur Urbanität. Im Jahr 2007 versuchte der von Designstudierenden der Universität für Angewandte Kunst entworfene Citystand eine moderne Interpretation des Themas. Das keilförmige Pultdach ist aus durchscheinender Plane gestaltet, bietet die Möglichkeit für Beschriftung und somit gute Fernwirkung zur Hauptverkaufszeit am Abend.

Die Bezirksvorsteherin für den ersten Bezirk lobte den Stil, welcher der Innenstadt den Auftakt für ein modernes urbanes Punschhüttendesign geben sollte. Der Hersteller preist die 520 Kilogramm schwere Hütte wie folgt an: „Der Entwurf entstand speziell für die Wiener Innenstadt, in Harmonie mit der Architektur und den Linien historischer Gebäude der Innenstadt. Der Citystandist eine zeitgenössische Reinterpretation der charakteristischen Stil-Epoche, die sich in zahlreichen Bauwerken Wiens wiederfindet.“ Auf welche Epoche sich der formal sehr reduzierte Stand bezieht, bleibt die Beschreibung schuldig. Ebenso unerklärlich ist in der Berichterstattung der Verweis auf Adolf Loos, von dem keine solche Bretterbude überliefert ist.

Schon 2005 startete die Wiener Wirtschaftskammer eine mutige Initiative zur zeitgemäßen Gestaltung der Weihnachtsbeleuchtung der Wiener Einkaufsstraßen. Designschaffende wurden eingeladen, neue Entwürfe für große und kleine Einkaufsstraßen zu liefern. Diese wurden dann unter der Mitwirkung und Mediation der Kammer für die Kaufleute abgewickelt. Das Projekt Light up brachte bis 2010 mehr als 30 Projekte hervor. Ästhetisch und technisch erneuert, in stromsparender LED-Technologie, erstrahlten dann Jahr für Jahr neue Straßenzüge.

Die Liste der Gestalterinnen und Gestalter liest sich als jüngere Designgeschichte Österreichs: POLKA verteilte 2006 Schneekristalle im Stuwerviertel und bleibt damit im Kanon der weihnachtlichen Zeichenwelt. Element Design entwarf für die Josefstädter Straße schwebende blaue Kugeln, die in großer Anzahl, aber zurückhaltender Größe, sich elegant in die Einkaufsstraße einpassen und eine zeitgemäße Geste schufen, der Stimmung aber auch Identität verleiht. Für das Freihausviertel entwarf Steffen Kehrle 2007 die Installation „Starlights-Starnights“. Die klassische fünfeckige Sternform, die sich auch bestens zum Keksausstechen eignet, wurde hier als leuchtende Umrisslinie, aber um 90 Grad gekippt, mittig in den Straßenverlauf eingefügt. Es wirkt, als würden die sonst am Boden sitzenden Sterne des Walk of Fame in Hollywood sich abends Richtung Himmel erheben. Robert Rüf interpretierte für die Meidlinger Hauptstraße das Schneekristallthema als Bausatz, der immer wieder neue kristalline Konfigurationen bildet und sich perspektivisch zu Wolken verdichtet. Die Kristallformationen wirken verfremdet und strauchartig, bieten aber für ein weniger kunstsinniges Publikum genügend weihnachtliche Assoziation. Podpod Design, das im Wiener Stadtraum schon einige Lichtakzente gesetzt hat, entwarf für das Volksopernviertel amorphe Kulturwolken. Für die Wiedner Favoritenstraße entstand in Zusammenarbeit mit Julia Landsiedl ein Schneegestöber aus einzelnen Schneekristallelementen. 2008 dann taucht ein neues Motiv im weihnachtlichen Stadtraum auf, der Strahlenkranz von Sebastian Menschhorn für die Favoritenstraße. Die Strahlen fluchten auf Kopfhöhe der Passantinnen und Passanten und rücken so den Menschen in den Mittelpunkt. Die Arbeit bezieht sich auf ein Kunstwerk Piero Manzonis aus den 1960er-Jahren, bei dem die Galeriebesucher auf einen Sockel steigen und selbst zum Kunstwerk werden konnten. Trotz eindeutigen Bezugs zur christlichen Zeichenwelt bleibt das Bild für eine besondere Aura noch interkulturell mehrfach lesbar.

LUCY.D entwarf für die Hütteldorferstraße die X-Wings. Eine Abfolge von leuchtenden Flügelpaaren ergibt eine dynamische Flugbewegung, wobei wer oder was im Zwischenraum zwischen den Flügeln fliegt, ausgespart bleibt. Dottings erweiterte den Einsatzbereich der Weihnachtsbeleuchtung und schlug für die Neubaugasse eine Ganzjahresbeleuchtung vor, die saisonal mit Modulen verändert werden kann. Die Thaliastraße wurde dann 2009 mit Engelsspuren von bkm dekoriert, und die Kärtnerstraße bekam asymmetrische Kristallluster von Rainer Mutsch. 2010, im letzten Jahr des Programms, konnten noch die Installation von Franz Maurer in der Wollzeile und die fröhliche Dekoration der Straßenleuchten von aws Designteam in der Hernalser Hauptstraße umgesetzt werden.

Eine Reihe von Einkaufsstraßen wurde mangels Begeisterungsfähigkeit der Kaufleute für zeitgenössisches Design, mangelnder Konfliktkultur mit Katalogware oder direkt in Zusammenarbeit mit der Weihnachtsbeleuchtungsfirma umgesetzt. Erwähnenswert sind hier die zahlreichen Arbeiten von Robert Karrer, der als Geschäftsführer des Österreichablegers eines internationalen Beleuchtungskonzerns selbst mehrfach Hand anlegte und in dieser Doppelfunktion noch mehr Kundennähe und Flexibilität als die Designer aufbrachte. Die Rotenturmstraße mit den surreal großen roten Kugeln, aber auch die Luster des „Ballsaals“ auf dem Graben gehören wie auch weniger signifikante Lichtinstallationen in zahlreichen anderen Straßen zu seinem Oeuvre. Seit dieser Initiative geht es auch wieder ohne Design, die 2011 installierte Weihnachtsbeleuchtung der Landstraße zeigt das in bedauerlicher Weise. Dort könnte heute ein Projekt des designierten Österreichvertreters für die Kunstbiennale in Venedig 2015 hängen. Heimo Zobernig entwarf in Zusammenarbeit mit Norbert Steiner 2004 auf Initiative von Anja Hasenlechner eine Lichtinstallation mit Kugeln, die auch prototypisiert wurde. Den Kaufleuten war es wohl zu wenig weihnachtlich. Aus einem großangelegten Kunstprojekt wurde dann ein nicht konsequent umgesetztes Designprojekt, das gleichzeitig die mangelnde konsequente strategische Bedeutung von Design im Stadtraum zeigt.

18. Oktober 2014 Spectrum

Stadt statt Hypo

Eine Stadt für 100.000 Menschen auf zwölf Quadratkilometern – um 19 Milliarden Euro, der geschätzten Schadensumme im Hyposkandal. Hypotopia – die Proteststadt gegen die Geldvernichtungsmaschinerie Hypo Alpe Adria. Das Modell im Maßstab 1:100 steht seit dieser Woche vor der Wiener Karlskirche.

Neunzehn Milliarden Euro. Eine Zahl genannt als mögliche Schadensgröße im Hypo-Finanzdebakel. Ungeklärte politische Verantwortung, fehlende gesetzliche Rahmenbedingungen für die Vermeidung einer solchen Misere, und eine Bundesregierung, deren Mitwirkung an der Aufklärung bislang von vielen als nicht ausreichend empfunden wird. Der Ruf nach einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss wurde laut. Der Kabarettist Roland Düringer verliest einen Brief an den früheren Finanzminister auf seinem Aussteiger-Videoblog und beteiligt sich an einer Bürgerinitiative. „Die Bürger müssen wohl wieder einmal bürgen, mit ihrer Arbeitsleistung und ihren kleinen Vermögen. Wir Steuerzahler werden für die Machenschaften der Gierigen bestraft, und die Umverteilung von Fleißig zu Reich geht munter weiter.“

Der Brief bringt den Ärger, die Ohnmacht, aber auch die Enttäuschung einer Zivilgesellschaft gegenüber ihren Politikern zum Ausdruck. Die parlamentarische Opposition bringt eine gemeinsame Petition ein, die eine umfassende Aufklärung des Hypo-Alpe-Adria-Finanzdebakels und die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses zum Gegenstand hat. Insgesamt sammeln alle einen Hypo-Untersuchungsausschuss fordernden Initiativen rund 250.000 Unterschriften. Ein großer Teil der Stimmen wurde über die Homepage des Parlaments gesammelt. Dort kann seit 2011 auch elektronisch eine Bürgerinitiative oder eine Petition unterstützt werden – einen Internetanschluss, das Wissen und die nötige Beharrlichkeit beim Suchen der Stimmabgabeseite vorausgesetzt. Die Wirkung, die digitale Werkzeuge der direkten Demokratie entwickeln könnten, sieht man an den Tagen,an denen mehr als 10.000 Menschen unterschrieben haben und das System zusammengebrochen ist.

Neunzehn Milliarden Euro. Diese Zahl beschäftigt auch Lukas Zeilbauer, einen Bauingenieurstudenten an der Technischen Universität Wien. Wie könnte diese, für die meisten unvorstellbare Summe, vorstellbar gemacht werden? Was kann mit diesem Geld in der Realwirtschaft gemacht werden? Er ärgert sich, dass nicht mehr Menschendie Initiativen unterstützt haben. Um das Ausmaß des Debakels sichtbar zu machen, bedient er sich anfangs des Einfamilienhäuschens mit Garten. 300 m² Grund, 60m2Hausgrundfläche, zweistöckig, Gehsteig und Straßenanteil. Dreiundsechzigtausenddreihundert solcher Wohnträume à 300.000 Euro könnten mit der Hypo-Haftung realisiert werden. 150.000 Menschen hätten dann ihr Zuhause gefunden. Doch diese Speckgürteltypologie mit ihren problematischen ökologischen Auswirkungen wäre keine gute Botschaft an die interessierte Öffentlichkeit. Gemeinsam mit einem engagierten interdisziplinären Projektteam von rund dreißig Studierenden entsteht innerhalb von zwei Monaten außerhalb des Studienbetriebs die Modellstadt Hypotopia. Rund um die Bereiche Rasten, Nächtigen, Versorgen, Schaffen, Heilen, Bildung, Administration entsteht eineStadt für 100.000 Menschen auf zwölf Quadratkilometern – um neunzehn Milliarden Euro. Die erste Stadt, die ihren Gründungsmythos einer Bankenmisere verdankt.

Das Ergebnis dieses kollaborativen Planungsprozesses ist eine Stadt, die energieautark ist, in der die Einwohner radikal weniger Energie verbrauchen als heute, eine Stadt der kurzen Wege, in der kein Auto benötigt wird. Wohnen und Arbeiten wurde gemeinsam gedacht, und Ressourcen werden in intelligenten Kreisläufen geführt. Demografische Umbrüche sind ebenso thematisiert wie Ansätze einer zukunftsfähigen Mobilität. Eine glückliche Lage an einerFlussgabelung bringt das Leben ans Wasser, große Erholungsgebiete in der Stadt sorgen für Wohlbefinden.

Es gibt auch agrarische Anbauflächen und einen Bauernhof gegen die Entfremdung der Nahrungsproduktion. Im Westen liegt der Windpark, im Osten das Flusskraftwerk. Auf den Dächern drehen sich kleinere Windräder, Regenwasser wird gesammelt, Nahrungsmittel werden angebaut, und Solarpanele nutzen die Sonnenenergie. Hypotopiawirkt normal und unaufgeregt. Signifikant werden allenfalls einige über hundert Meter hohe Holzwolkenkratzer sowie die drei vertikalen Farmen zum derzeitigen Planungsstand.

Auf der Projekthomepage können Informationen über die Nutzung und die Kosten jedes geplanten Gebäudes abgerufen werden. Diese Transparenz führte schon zu interessanten Diskussionen über die bisher getroffenen Entscheidungen des Planungsteams. Warum gerade diese Nutzung, warum kostet das Gebäude so viel Geld, wo sind die Gotteshäuser? In den letzten Wochen kümmerte sich das Projektteam der Milliardenstadt jedoch hauptsächlich um den Bau des Modells im Maßstab 1:100. Sechzig mal dreißig Meter misst es – und es steht seit dieser Woche vor der Wiener Karlskirche. Siebzig Tonnen Beton formen das mit zahlreichen Helfern realisierte Modell der Proteststadt gegen den Hyposkandal.

Neunzehn Milliarden Euro. Wie hätte das Otto Neurath mittels seiner Wiener Methode der Bildstatistik im Rahmen der Volks- und Arbeiterbildung im Roten Wien auf eine der Vermittlungstafeln des Wirtschafts- und Gesellschaftsmuseums gebracht? Die angewandten Künste als Medien der Erkenntnis und Katalysatoren des Wandels spielen eine wichtige Rolle in der Neuausrichtung unserer Gesellschaft in Richtung Weltverträglichkeit und Solidarität. Das Projekt Hypotopia zeigt beispielhaft, wie eine diskursive Plattform für wünschenswerte Entwicklungen in der Stadt aussehen kann. Diskussionsabende und Filmvorführungen werden bis Monatsende die Ideen des Entwurfsteams vertiefen und zur Diskussion stellen. Die Modellstadt bietet zahlreiche Anknüpfungs-, aber auch Reibepunkte für technologische, aber auch soziale Innovation in der Stadt. Dass diese Stadt noch sehr abstrakt ist und mehr Fragen als Antworten aufwirft, das ist die eigentliche Qualität des Protestprojektes. Von hier weg könnte gearbeitet und weiterentwickelt werden, in allen Maßstäben und Disziplinen. Kooperativ und interdisziplinär. Interessante Ansätze und Modelle, die bereits bestehen oder die einen gänzlich veränderten Kontext brauchen, könnten sich in Hypotopia verorten. Und so hätte auch die Finanzwirtschaft ihre neue Rolle in der Zukunftsstadt: die Entkarbonisierung des Euro.

5. Oktober 2013 Spectrum

Zurück aus der Zukunft

„Living Lab“: Eine Familie lebte sechs Monate im Passivhaus mit Ökostrom, fuhr ein Elektroauto und ernährte sich vegan. Ein Versuch von Schwedens Politik und Industrie in Richtung nachhaltiger Gesellschaft.

Nach den Wahlen gibt es ja immer gute Vorsätze. Noch nie jedoch hat es nach österreichischenWahlen einen guten Vorsatz zu einer aktiven oder gar visionären Designpolitik gegeben. Die transformative Macht der Gestaltung und ihre Wirkung auf die Gesellschaft fehlen durchgehend in den Programmen der Parteien. Das ist bedauerlich. Denn der notwendige Wandel in eine nachhaltige Gesellschaft braucht alternative Entwürfe, die so attraktiv sind, dass vorhandene Lebensentwürfe gegen neue getauscht werden. Eine zukunftsfähige Gesellschaft in den heute entwickelten Industrieländern kann wohl nicht dauerhaft einen Großteil der Weltressourcen verschlingen und dann auch noch maßgeblich zur Klima- und Umweltschädigung beitragen. Mangelnde Solidarität wird ja bereits innerhalb der EU beklagt. Eine weltumspannende entschlossene Solidarität im Kampf gegen Klimawandel und Armut vermisst man dann nicht zuletzt auf internationalen Klima- und Geberkonferenzen. Die Sorge um die heutige Form von Industrieproduktion und den damit in Verbindung stehenden globalisierten Konsum leitet weiterhin maßgeblich die politischen Entscheidungen. Fairer Handel ist eher die zertifizierte Ausnahme denn die Regel.

Aber wie sieht ein nachhaltiger Lebensstil aus? In Zahlen ist er inzwischen leicht zu fassen: zum Beispiel eine Tonne CO2-Äquivalent pro Kopf und Jahr. Keine Angst, Steinzeitmenschen hatten erheblich weniger Umweltauswirkungen. Wie wir allerdings von unserem heutigen Niveau auf eine Tonne kommen, ist ein Gestaltungsproblem, sowohl für die Politik als auch für das Design. Die politische Dimension liegt in der Annahme, dass die heute rund sieben Milliarden Menschen auf der Welt nicht mehr Kohlendioxid emittieren als die Biokapazität der Erde ausgleichen kann. Das politische Ziel wäre somit ein ausgeglichener ökologischer Fußabdruck. Den hat die Weltbevölkerung allerdings schon vor Jahrzehnten hinter sich gelassen. Wir steuern auf einen Erdenverbrauch zu, der mittlerweile schon eine weitere, nicht zur Verfügung stehende Erde erfordern würde. Um eine Vision für die Zukunft zu formulieren, wird die weltverträgliche Emission an klimaschädlichen Treibhausgasen einfach durch die Anzahl der Menschen dividiert. Warum wir uns daran halten sollen, das überlassen wir jetzt einmal dem Gestaltungswillen der Politik. Die Welt, in der wir dann leben würden, ist noch nicht entworfen. Wir schauen ungefähr 40 Jahre in die Zukunft, denn dorthin hat die Politik das Ziel verschoben. Ja, bis dahin werden wir schon 90 Prozent eingespart haben, hoffentlich.

In Schweden hat die Politik gemeinsam mit der Industrie einen Versuch unternommen. Sie hat eine Familie in die nachhaltige Zukunft geschickt, mit dem politischen Ziel, nur eine Tonne Kohlendioxid-Äquivalent pro Kopf und Jahr zu verbrauchen. Die Familie zog versuchsweise in ein Einfamilienhaus – manche Träume ändern sich auch in Zukunft nicht. Der schwedische Umweltminister schüttelte allen noch einmal die Hand und spornte die Versuchskaninchen an. Jedes Familienmitglied hat den durchschnittlichen Rucksack der Schweden von mehr als sieben Tonnen CO2-Äquivalent geschultert. Die Industrie sponserte natürlich ein Passivhaus aus dem aktuellen Fertigteilhauskatalog. Die Fahrzeugindustrie stellte ein nagelneues Auto mit Elektroantrieb für den Versuch bereit. Und aus der Energiewirtschaft wurde grüner Strom zur Verfügung gestellt. In der Zukunft muss natürlich alles „smart“ sein, darum wurden in das Haus auch jede Menge Computer und Flachbildschirme eingebaut. Ein paar intelligente Haushaltsgeräte gibt es auch noch dazu. Eine Universität überwachte den Versuch und kalkulierte die Umweltauswirkungen. Das ist leider gar nichtso einfach, da die Industrie nicht verpflichtet ist, Umweltdeklarationen für Produkte und Dienstleistungen zur Verfügung zu stellen. Wahrscheinlich auch nicht 2050. Klingt alles sehr zeitgemäß, ein „Living Lab“. Bei den ersten Gehversuchen in der Zukunft verzichtet die Familie auf Flugzeug und Benzin. Schon sind fast zwei Tonnen gespart. Und dasFahren mit dem Elektromobil macht auch Spaß. Der Urlaub wird halt in der Nähe verbracht. Weitere Treibhausgaseinsparungen kommen vom Ökostrom und einem sehrenergieeffizienten Haus.

Die Familie steuert als Zwischenziel eine Reduktion an, die sie gerade noch als komfortabel wahrnimmt: weniger Fleisch, mehr vegetarische Gerichte, weniger Essen wegwerfen, saisonale Nahrung. Ein energieeffizientes Haus, eigene Energieproduktion und zugekaufte Energie aus erneuerbaren Energieträgern. Die Mobilität beschränkt sich auf öffentliche Verkehrsmittel und auf ein statt auf zwei Autos. Dieses fährt mit Ökostrom.

Der Konsum wurde eingeschränkt, hippe Secondhandmode oder qualitative Produkte, die lange gebraucht werden, kennzeichnen die neuen Konsumgewohnheiten. Das klingt ja gut, kann sich aber sicher nicht jede Familie in Zukunft leisten. Und leider ist es trotz Designkühlschrank noch immer kein nachhaltiger Lebensstil. Die Familie ist jetzt auf etwas unter drei Tonnen.

Die Ernährungsberaterin klingelt an der Tür. Vegane Diät! Kein Fisch, kein Fleisch mehr. Keine unterwegs gekauften Snacks. DieKinder verlassen das sinkende Schiff. Es ist zwar ihre Zukunft, aber so wollen sie nicht leben. Wasser sparen, kurzes Duschen und warm anziehen. Keine Reisen, und das Auto muss auch noch geteilt werden. Kein Fitnesscenter, keine neuen Fetzen. Keine Restaurant- und Kaffeehausbesuche. Die Besatzung des Zukunftshauses rebelliert. Aber das gehört zur medialen Dramaturgie.

Ein harter Aufschlag in der Realität nach sechs Monaten: 1,5 Tonnen CO2. Der Umweltminister schüttelt den Zukunftsforschern wieder die Hand. Ja, man hat viel gelernt. Offiziell beendet er den Versuch und schaltet das Energieüberwachungssystem feierlich aus. Die Versuchsfamilie freut sich über eine Einsparung von Treibhausgasen von 80 Prozent. Die Wissenschaftler beeilen sich zu versichern, dass man das bis 2050 dann auch alles wirklich schaffen kann. Eine Tonne sei möglich. Unerwähnt bleibt allerdings auch nicht, dass man ehrlicherweise für öffentliche Infrastruktur auf den persönlichen Konsum noch was draufrechnen muss. Dann wären wir heute trotz eines unkomfortablen Lebens wieder auf drei Tonnen! Die Familie verabschiedet sich von der Zukunft und lebt fortan weiter mit neun Tonnen Emissionen an Treibhausgas in der Gegenwart ihr altes Leben.

Publikationen

2007

The Death of Fashion
The Passage Rite of Fashion in the Show Window

When, for a few weeks each year, Western fashion victims become red-hot with excitement waiting for the fashion sales to take place, they are unconsciously following an ancient sacrificial ritual. Just as in ancient Greece, the God of Fertility had to be killed during the Dionysia in order to be resurrected,
Autor: Harald Gründl, EOOS
Verlag: SpringerWienNewYork