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Kinder auf die Straße!
Mit der Wiener Spielstraße bekennt sich die Stadtpolitik zu einer Wiederbelebung der Straßenkultur und der Förderung nachbarschaftlicher Begegnung. Ein Spaziergang.
28. März 2015 - Harald Gründl
Wien hat seit 2012 eine utopisch anmutende Institution: die Wiener Spielstraße. Es handelt sich dabei nicht um einen auf einem rechteckigen blauen Verkehrsschild definierten Straßenraum, der besondere Verkehrs- oder Spielregeln für Autos, Fahrrad- und Fußgängerverkehr und Kinder vorschreibt. Die Spielstraße ist nicht in der Straßenverkehrsordnung verankert, anders als die Wohnstraße, die es seit gut 30 Jahren gibt und wenigstens der Ikonographie nach spielende Kinder auf der Straße zeigt.
Das Gesetz definiert Straße als „eine für den Fußgänger- oder Fahrzeugverkehr bestimmte Landfläche samt den in ihrem Zuge befindlichen und diesem Verkehr dienenden baulichen Anlagen“. Kinder gehören laut Straßenverkehrsordnung zur Gruppe der „bevorzugten Straßenteilnehmer“, gemeinsam mit Einsatzfahrzeugen, Fahrzeugen des öffentlichen Diensts, Müllabfuhr, Kanalwartung, Schienenfahrzeugen und Wirtschaftsfuhren. Während andere bevorzugte Verkehrsteilnehmer sehr selbstbewusst den Straßenraum nutzen können und ihnen allenfalls auch Platz zu machen ist, beschränkt sich die gesetzliche Regelung bei Kindern auf den sicheren Wechsel von einer Straßenseite auf die andere. Angeleitet und begleitet werden sie durch Signalstäbe von Straßenlotsen in Schutzausrüstung oder Betreuer, die auf der Straße stehen und ihre Arme ausbreiten, bis die Kinderhorde den Gehsteig gewechselt hat.
Eingebläut wird den Kindern, dass die Straße gefährlich ist. Das war wohl nicht immer so wie heute. Durch die „baulichen Anlagen“ findet eine Bevorzugung des individuellen Stadtverkehrs durch Autos statt und nicht der Kinder, so wie das vielleicht irrtümlicherweise im Gesetz unter dem Abschnitt III eingeordnet ist. Der Platz für Kinder ist wohl der Spielplatz und nicht die Straße, doch gäbe es wohl kaum die Kategorie der Straßenspiele, die sich noch im kollektiven Gedächtnis der (Ur-)Großelterngeneration erhalten hat, wenn das nicht einmal anders gewesen wäre.
Die Wiener Spielstraße ist eine temporäre Intervention im Stadtraum, die das gebaute Umfeld der Straße neu definiert und im zeitgenössischen Architekturdiskurs wohl unter „Taktischer Urbanismus“ einzuordnen wäre. Mit der Wiener Spielstraße bekennt sich die Stadtpolitik zu einer Wiederbelebung der Straßenspielkultur und somit der Förderung des gemeinsamen Spiels in der unmittelbaren Nachbarschaft. Initiative und Begleitung des strategischen Projektes erfolgt durch zwei Magistratsabteilungen, der MA 13 (Bildung und außerschulische Jugendbetreuung) gemeinsam mit der MA 18 (Stadtentwicklung und Stadtplanung). Für mehrere Stunden am Nachmittag wird ein Straßenabschnitt ausschließlich für das Spiel der Kinder bereitgestellt. Straßen, die Kindereinrichtungen wie Schule, Hort, aber auch außerschulische Einrichtungen der Jugendarbeit aufweisen, in denen kein öffentliches Verkehrsmittel fährt, keine Zufahrt zu einer größeren Garage ist, und es keine wichtige Radverbindung gibt, eignen sich als potenzielle Spielstraßen. Den Eingang der Spielstraße signalisiert keine Amtstafel, sondern ein bunt bemaltes Transparent und ein mobiles rot-weißes Scherengitter, das Fahrzeuge vom Einfahren in die Spielstraße abhält. Eigentlich wird die Straße nicht gesperrt, sondern für alle Menschen geöffnet. Die Spielstraße ist autofrei, es gibt auch keine parkenden Fahrzeuge. Dadurch entsteht ein großzügiger freier Stadtraum, der neue Angebote für das Spiel bietet und vor allem Freiraum für die Kinder ist.
Im Gegensatz zum Spielplatz, wo Territorien der unterschiedlichen Nutzer teils schon baulich festgelegt und schwer verhandelbar sind, bietet die leergeräumte Straße einen neutralen Ausgangspunkt, der erst erobert werden muss. Die professionelle Begleitung der Spielstraßen übernimmt die Parkbetreuung, deren Mitarbeiter von zahlreichen gemeinnützigen Vereinen gestellt werden, die in den Bezirken tätig sind.
Somit kommen unterschiedliche pädagogische Ansätze zur Anwendung, die von einer strukturierten Spielumgebung mit Angeboten zur Bewegungsförderung und zu Gesellschaftsspielen bis zu Formen des freien Spiels reichen können.
Die Spielstraße in der Phorusgasse im 4. Wiener Bezirk diente als Pilotprojekt und wurde von der Parkbetreuung des Wiener Familienbundes gemeinsam mit der Lokalen Agenda Wieden umgesetzt. Torsten Peer-Englich, der Leiter der Parkbetreuung des Vereins, interpretierte das von der Pädagogin Emmi Pikler formulierte freie Spiel auf den Straßenraum um. Nach Emmi Pikler müssen Kinder nicht zum Spielen animiert werden. Es wurden eine rohe, wenig vorstrukturierte Umgebung und funktional nicht eingeschränkte Materialien zur Verfügung gestellt. Kinder können mit einem Fahrradreifen viel mehr Spielideen umsetzen als mit einem Fahrrad. Rohe Materialien wie Karton, Farben, Seile, Tücher, aber auch Alltagsgegenstände wie Zeitungspapier, Videobänder, Gummihandschuhe und Besenstiele lassen sich in vielfältiger, unbeabsichtigter und überraschender Weise verwenden. Daraus können die Straße überspannende Spinnennetze, Verkleidungen, Geschicklichkeitsparcours, Kartonfahrzeuge oder Behausungen werden.
Kinder haben sehr individuelle Bedürfnisse. Manche produzieren laufend neue Dinge, andere schauen eine Weile zu. Es bilden sich Gruppen und gleichzeitig können Kinder auch alleine spielen. Riesige Bälle bewegen sich durch die Straße. Erinnerungen an die Architektur- und Design-Avantgarde der 1960er- und 1970er-Jahre werden wach. Eine scheinbar chaotische Situation bildet den Ausgangspunkt einer komplexen Nutzung, die Raum für alle bereitstellt.
Die Kinder erobern sich die Straße, anstatt sich mit vorgefertigten Szenarien zufriedenzugeben. Gleichzeitig lernen sie ihre Stadt mit anderen Augen zu sehen und erfahren für ein paar Stunden, dass der Straßenraum, ja vielleicht die ganze Stadt auch anders genutzt werden könnte. Die Absperrung vor dem Schuleingang, die verhindern soll, dass die Kinder auf die Straße rennen, ist plötzlich nur mehr ein absurdes Objekt, das bestenfalls dazu dient, das überdimensionale Spinnennetz daran zu befestigen. Die offene Spielsituation fördert gleichermaßen Kooperation und Durchsetzungsvermögen im öffentlichen Raum, wichtige Eigenschaften für zukünftige und mündige Stadtbewohner.
Das transformative Potenzial der Wiener Spielstraße fand auch Eingang in das Fachkonzept Mobilität, das vom Wiener Gemeinderat beschlossen wurde und Teil des Stadtentwicklungsplans STEP 2025 ist. Die Rückeroberung der Straße findet jetzt wieder in der warmen Jahreszeit statt und zeigt, dass Kinderspiel in der Stadt nicht auf den gut gestalteten Spielplatz beschränkt sein darf. Die Kinder sind die Pioniere, denen wir Stadtbewohner nun folgen müssten, um auch unsere nicht kommerziellen Bedürfnisse im öffentlichen Raum zu artikulieren und auszuprobieren. Eine kindgerechte Stadt ist eine menschengerechte Stadt.
Das Gesetz definiert Straße als „eine für den Fußgänger- oder Fahrzeugverkehr bestimmte Landfläche samt den in ihrem Zuge befindlichen und diesem Verkehr dienenden baulichen Anlagen“. Kinder gehören laut Straßenverkehrsordnung zur Gruppe der „bevorzugten Straßenteilnehmer“, gemeinsam mit Einsatzfahrzeugen, Fahrzeugen des öffentlichen Diensts, Müllabfuhr, Kanalwartung, Schienenfahrzeugen und Wirtschaftsfuhren. Während andere bevorzugte Verkehrsteilnehmer sehr selbstbewusst den Straßenraum nutzen können und ihnen allenfalls auch Platz zu machen ist, beschränkt sich die gesetzliche Regelung bei Kindern auf den sicheren Wechsel von einer Straßenseite auf die andere. Angeleitet und begleitet werden sie durch Signalstäbe von Straßenlotsen in Schutzausrüstung oder Betreuer, die auf der Straße stehen und ihre Arme ausbreiten, bis die Kinderhorde den Gehsteig gewechselt hat.
Eingebläut wird den Kindern, dass die Straße gefährlich ist. Das war wohl nicht immer so wie heute. Durch die „baulichen Anlagen“ findet eine Bevorzugung des individuellen Stadtverkehrs durch Autos statt und nicht der Kinder, so wie das vielleicht irrtümlicherweise im Gesetz unter dem Abschnitt III eingeordnet ist. Der Platz für Kinder ist wohl der Spielplatz und nicht die Straße, doch gäbe es wohl kaum die Kategorie der Straßenspiele, die sich noch im kollektiven Gedächtnis der (Ur-)Großelterngeneration erhalten hat, wenn das nicht einmal anders gewesen wäre.
Die Wiener Spielstraße ist eine temporäre Intervention im Stadtraum, die das gebaute Umfeld der Straße neu definiert und im zeitgenössischen Architekturdiskurs wohl unter „Taktischer Urbanismus“ einzuordnen wäre. Mit der Wiener Spielstraße bekennt sich die Stadtpolitik zu einer Wiederbelebung der Straßenspielkultur und somit der Förderung des gemeinsamen Spiels in der unmittelbaren Nachbarschaft. Initiative und Begleitung des strategischen Projektes erfolgt durch zwei Magistratsabteilungen, der MA 13 (Bildung und außerschulische Jugendbetreuung) gemeinsam mit der MA 18 (Stadtentwicklung und Stadtplanung). Für mehrere Stunden am Nachmittag wird ein Straßenabschnitt ausschließlich für das Spiel der Kinder bereitgestellt. Straßen, die Kindereinrichtungen wie Schule, Hort, aber auch außerschulische Einrichtungen der Jugendarbeit aufweisen, in denen kein öffentliches Verkehrsmittel fährt, keine Zufahrt zu einer größeren Garage ist, und es keine wichtige Radverbindung gibt, eignen sich als potenzielle Spielstraßen. Den Eingang der Spielstraße signalisiert keine Amtstafel, sondern ein bunt bemaltes Transparent und ein mobiles rot-weißes Scherengitter, das Fahrzeuge vom Einfahren in die Spielstraße abhält. Eigentlich wird die Straße nicht gesperrt, sondern für alle Menschen geöffnet. Die Spielstraße ist autofrei, es gibt auch keine parkenden Fahrzeuge. Dadurch entsteht ein großzügiger freier Stadtraum, der neue Angebote für das Spiel bietet und vor allem Freiraum für die Kinder ist.
Im Gegensatz zum Spielplatz, wo Territorien der unterschiedlichen Nutzer teils schon baulich festgelegt und schwer verhandelbar sind, bietet die leergeräumte Straße einen neutralen Ausgangspunkt, der erst erobert werden muss. Die professionelle Begleitung der Spielstraßen übernimmt die Parkbetreuung, deren Mitarbeiter von zahlreichen gemeinnützigen Vereinen gestellt werden, die in den Bezirken tätig sind.
Somit kommen unterschiedliche pädagogische Ansätze zur Anwendung, die von einer strukturierten Spielumgebung mit Angeboten zur Bewegungsförderung und zu Gesellschaftsspielen bis zu Formen des freien Spiels reichen können.
Die Spielstraße in der Phorusgasse im 4. Wiener Bezirk diente als Pilotprojekt und wurde von der Parkbetreuung des Wiener Familienbundes gemeinsam mit der Lokalen Agenda Wieden umgesetzt. Torsten Peer-Englich, der Leiter der Parkbetreuung des Vereins, interpretierte das von der Pädagogin Emmi Pikler formulierte freie Spiel auf den Straßenraum um. Nach Emmi Pikler müssen Kinder nicht zum Spielen animiert werden. Es wurden eine rohe, wenig vorstrukturierte Umgebung und funktional nicht eingeschränkte Materialien zur Verfügung gestellt. Kinder können mit einem Fahrradreifen viel mehr Spielideen umsetzen als mit einem Fahrrad. Rohe Materialien wie Karton, Farben, Seile, Tücher, aber auch Alltagsgegenstände wie Zeitungspapier, Videobänder, Gummihandschuhe und Besenstiele lassen sich in vielfältiger, unbeabsichtigter und überraschender Weise verwenden. Daraus können die Straße überspannende Spinnennetze, Verkleidungen, Geschicklichkeitsparcours, Kartonfahrzeuge oder Behausungen werden.
Kinder haben sehr individuelle Bedürfnisse. Manche produzieren laufend neue Dinge, andere schauen eine Weile zu. Es bilden sich Gruppen und gleichzeitig können Kinder auch alleine spielen. Riesige Bälle bewegen sich durch die Straße. Erinnerungen an die Architektur- und Design-Avantgarde der 1960er- und 1970er-Jahre werden wach. Eine scheinbar chaotische Situation bildet den Ausgangspunkt einer komplexen Nutzung, die Raum für alle bereitstellt.
Die Kinder erobern sich die Straße, anstatt sich mit vorgefertigten Szenarien zufriedenzugeben. Gleichzeitig lernen sie ihre Stadt mit anderen Augen zu sehen und erfahren für ein paar Stunden, dass der Straßenraum, ja vielleicht die ganze Stadt auch anders genutzt werden könnte. Die Absperrung vor dem Schuleingang, die verhindern soll, dass die Kinder auf die Straße rennen, ist plötzlich nur mehr ein absurdes Objekt, das bestenfalls dazu dient, das überdimensionale Spinnennetz daran zu befestigen. Die offene Spielsituation fördert gleichermaßen Kooperation und Durchsetzungsvermögen im öffentlichen Raum, wichtige Eigenschaften für zukünftige und mündige Stadtbewohner.
Das transformative Potenzial der Wiener Spielstraße fand auch Eingang in das Fachkonzept Mobilität, das vom Wiener Gemeinderat beschlossen wurde und Teil des Stadtentwicklungsplans STEP 2025 ist. Die Rückeroberung der Straße findet jetzt wieder in der warmen Jahreszeit statt und zeigt, dass Kinderspiel in der Stadt nicht auf den gut gestalteten Spielplatz beschränkt sein darf. Die Kinder sind die Pioniere, denen wir Stadtbewohner nun folgen müssten, um auch unsere nicht kommerziellen Bedürfnisse im öffentlichen Raum zu artikulieren und auszuprobieren. Eine kindgerechte Stadt ist eine menschengerechte Stadt.
Für den Beitrag verantwortlich: Spectrum
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