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Kathedralen unter der Erde
Die neuen Stationen der Londoner Jubilee Line
Die 1993 begonnene «Jubilee Line Extension» gilt als das grösste europäische Tiefbauprojekt des Jahrzehnts. Seit den Anfängen der London Underground im späten 19. Jahrhundert hatte die Themsestadt nie mehr Ausgrabungen dieses Ausmasses erlebt. Die zehn Meilen lange Erweiterung wirkt seit ihrer Eröffnung auf Architekturpreise wie ein Magnet. North Greenwich und Stratford wurden mit einem RIBA-Award ausgezeichnet, und eben erst ist die verlängerte Linie von der Royal Fine Art Commission zum Millennium Building of the Year erklärt worden.
30. Juni 2000 - Georges Waser
Sechs vollständig neue und fünf von bereits bestehenden Linien benutzte, jetzt radikal umgestaltete Bahnhöfe: Dies ist das architektonische Total der «Jubilee Line Extension», die sich von Westminster nach Stratford im Londoner East End erstreckt und dabei viermal unter der Themse hinweg verläuft. Kein Wunder, plädierte der mit der Oberaufsicht beauftragte Roland Romano Paoletti für einen «engineering-based approach», denn tief unter dem Boden setze formale Vollkommenheit bei den Architekten viel technisches Verständnis voraus. Paoletti, dem bereits Hongkong die dortige Metro dankt, erhob ein «logisches» Layout zur einzigen Voraussetzung: Reisende sollten Ausgänge und Bahnsteige instinktiv finden können. Das Resultat sind elf im Aussehen individuelle, zum Teil grandiose Stationen. Wer sie benutzt, erliegt dem Gedanken an Trajans Forum und Piranesis Raumphantasien ebenso wie der Erinnerung an Brunels Pionierwerke. Und auch der Geist von John Soane sowie Charles Holden - Letzterer der «Vater» der in den frühen dreissiger Jahren entstandenen Stationen der verlängerten Piccadilly Line - scheint diesen unterirdischen Gewölben und Passagen aus Aluminium, Beton, Stahl, Glas und Licht innezuwohnen. Das Ganze besticht durch gleissende Reinheit. Wie lange wohl? Nicht nur zur Architektur- Wallfahrt empfiehlt sich die Jubilee Line; auch Hooligans und andere Vandalen werden hierher finden.
Unterirdische Metamorphose
Noch für spätere Jahrzehnte galt die London Underground der dreissiger Jahre als das effizienteste, in Sachen Design führende urbane Transportsystem der Welt. Zugegeben, da waren die Stationen von Charles Holden, darunter das Prunkstück Gants Hill - doch unter der Erde waren die Londoner U-Bahnhöfe, für die die staatlichen Zuschüsse schon bald einmal versiegten, nie viel mehr als ein Labyrinth oder ein Kaninchenbau. Schon 1943 empfahl der London County Council, dass mittels einer Erweiterung der Underground der Südosten der Stadt zugänglicher gemacht werde. Doch auch andere von Bomben verwüstete Stadtteile bedurften des Pendelverkehrs, und so wurde dann in den sechziger Jahren erst einmal die Victoria Line gebaut. 1971 schliesslich begann man mit dem Bau der damals noch Fleet Line geheissenen Jubilee Line. Angelegt wurde davon vorerst die westliche, von Charing Cross nach Stanmore führende Strecke. Doch dann, als die Linie 1977 umbenannt wurde, ging dafür langsam das Geld aus.
Zwar machte im April 1978 Sir Horace Cutler, der oberste Mann der Stadtverwaltung, im dunklen Anzug und Schlips eigenhändig den ersten Spatenstich für einen nach Osten führenden Tunnel. Doch dann kam Margaret Thatcher, und die hasste Bahnlinien und Züge. Bis der symbolische Akt des beispielhaften Sir Horace fortgesetzt wurde, sollten noch rund 15 Jahre vergehen. Was schon im 19. Jahrhundert für Brunel galt - der von ihm im Beisein von schaulustigen Scharen begonnene erste Tunnel unter der Themse sollte erst zwei Jahrzehnte später beendet sein -, gilt auch noch heute: Jenen, die in London verkehrstechnischen Problemen auf schnelle und logische Art beizukommen hoffen, steht mit dieser Stadt ein zu grosses Durcheinander im Weg. Oft sind die Hindernisse eine Fundgrube für Archäologen. Und oft ist es allein die Beschaffenheit des Bodens; so ist Nordlondon auf Lehm gebaut, Südlondon hingegen grossenteils auf Kies und Sand, was den Tiefbau erschwert - in Bermondsey zum Beispiel rutschte beim Bau der neuen Station ein ganzer Friedhof in die Tiefe.
Und doch ist man des Durcheinanders jetzt auch hier Meister geworden. Was heisst: Das Viertel Bermondsey, dessen einzige Attraktion bisher der legendäre, am Freitagmorgen auf offener Strasse stattfindende Antiquitätenmarkt war, liegt plötzlich sozusagen auf der Schwelle zum West End. Ähnliches gilt auch für die weiter östlich gelegenen Vororte Greenwich und Canning Town, die nunmehr aus dem Zentrum in gut 15 Minuten erreichbar sind. Kein Wunder, schossen hier die Preise für Grundstücke und Wohneigentum fast über Nacht in die Höhe - und zwar bevor sich in den neuen Stationen der Jubilee Line überhaupt nur die ersten Schranken öffneten.
One-way Ticket to East London
Für den einen Architekturkritiker sind es «Temples to travel», für den anderen «Vast, subterranean, airy cathedrals of commuting» - diese Stationen eben, die nicht zuletzt deshalb luftig anmuten, weil den Passagieren das gefilterte Tageslicht so tief hinab wie nur möglich folgt oder entgegenkommt. Im Vergleich zu den oft wie ein Gewirr von Spaghetti anmutenden Stationen älterer Linien - etwa Oxford Circus oder Leicester Square - wirken die neuen Jubilee Line Stations denn auch wie helle, mehrstöckige Boxen. Doch bergen sie Überraschungen. Westminster zum Beispiel, wo die Rolltreppen irgendwo unter den Houses of Parliament, der Westminster Abbey und der District Line in die Tiefe führen, sah der Architekt Michael Hopkins wohl mit dem Vorstellungsvermögen eines dem Sublimen verfallenen Romantikers. Hier Aufgänge, die irgendwo ins Leere zu laufen scheinen, dort gewaltige Säulen und Träger: das Auge macht eine Erfahrung wie beim Betrachten von Piranesis «Carceri».
Von Waterloo, wo die weiten, von Paoletti selbst entworfenen Passagen bestechen, verläuft die Fahrt nach Southwark, der kleinsten Station. Im Gegensatz zu Westminster und Waterloo ist Southwark vollständig neu. Dieses von Richard MacCormac gebaute Juwel hat auf das Etikett «abstraktes Kunstwerk» ebenso viel Anspruch wie die Exponate in der nahe gelegenen Tate Modern. Mit der trommelförmigen Ticket Hall ist ein Tribut an die Stationen Holdens gegeben; ein Stockwerk tiefer aber beginnt mit einer gewölbten, über den röhrenförmigen Rolltreppen wie der Nachthimmel anmutenden Wand des Glaskünstlers Beleschenko ein von MacCormac virtuos gehandhabtes Spiel - seine Station ist eine unterirdische Landschaft, die von Kontrasten lebt, in der räumliche Enge und Weite sowie natürliches und künstliches Licht sich ergänzen wie in einem Orchester die Stimmen einzelner Instrumente.
In Canada Water, nach Plänen von Ron Heron gebaut, prägen sich die den niedrigen Decks von Schiffen vergleichbaren Flächen in der Erinnerung des Betrachters ein. Canary Wharf hingegen überrascht mit einem den Flügeln eines Riesenvogels ähnlichen Glasdach, das in der Mitte von Säulen getragen wird. Zu der von Norman Foster erbauten Canary Wharf Station bleibt zu sagen, dass an dieser Elemente des Stadion- und Flugplatzbaus erkennbar sind - eine Hommage an Pierluigi Nervi? Es folgt North Greenwich und damit nochmals - soll es doch die grösste U-Bahn-Station in Europa sein - ein Ungetüm. Hier, wo Will Alsop der Architekt war, empfängt einen eine Welt in Blau à la Yves Klein. Oder ist es die Welt von Indiana Jones? Die Galerie nämlich, über die es hinwegzuschreiten gilt, ruht nicht etwa auf Mauern oder Pfeilern, sondern hängt im Raum. Nach diesem Abenteuer geht die Fahrt weiter ins alte East London und endet dort schliesslich in Stratford, wo die Jubilee Line auf die Geschichte stiess; auf dieses faszinierende Durcheinander eben, das London heisst. Hunderte von Mönchen mussten hier der U-Bahn weichen: Skelette nämlich, die man beim Bau entlang der Linie fand - die Zeugen des grossen, seit langem spurlos verschwunden geglaubten Zisterzienserklosters zu Stratford.
Unterirdische Metamorphose
Noch für spätere Jahrzehnte galt die London Underground der dreissiger Jahre als das effizienteste, in Sachen Design führende urbane Transportsystem der Welt. Zugegeben, da waren die Stationen von Charles Holden, darunter das Prunkstück Gants Hill - doch unter der Erde waren die Londoner U-Bahnhöfe, für die die staatlichen Zuschüsse schon bald einmal versiegten, nie viel mehr als ein Labyrinth oder ein Kaninchenbau. Schon 1943 empfahl der London County Council, dass mittels einer Erweiterung der Underground der Südosten der Stadt zugänglicher gemacht werde. Doch auch andere von Bomben verwüstete Stadtteile bedurften des Pendelverkehrs, und so wurde dann in den sechziger Jahren erst einmal die Victoria Line gebaut. 1971 schliesslich begann man mit dem Bau der damals noch Fleet Line geheissenen Jubilee Line. Angelegt wurde davon vorerst die westliche, von Charing Cross nach Stanmore führende Strecke. Doch dann, als die Linie 1977 umbenannt wurde, ging dafür langsam das Geld aus.
Zwar machte im April 1978 Sir Horace Cutler, der oberste Mann der Stadtverwaltung, im dunklen Anzug und Schlips eigenhändig den ersten Spatenstich für einen nach Osten führenden Tunnel. Doch dann kam Margaret Thatcher, und die hasste Bahnlinien und Züge. Bis der symbolische Akt des beispielhaften Sir Horace fortgesetzt wurde, sollten noch rund 15 Jahre vergehen. Was schon im 19. Jahrhundert für Brunel galt - der von ihm im Beisein von schaulustigen Scharen begonnene erste Tunnel unter der Themse sollte erst zwei Jahrzehnte später beendet sein -, gilt auch noch heute: Jenen, die in London verkehrstechnischen Problemen auf schnelle und logische Art beizukommen hoffen, steht mit dieser Stadt ein zu grosses Durcheinander im Weg. Oft sind die Hindernisse eine Fundgrube für Archäologen. Und oft ist es allein die Beschaffenheit des Bodens; so ist Nordlondon auf Lehm gebaut, Südlondon hingegen grossenteils auf Kies und Sand, was den Tiefbau erschwert - in Bermondsey zum Beispiel rutschte beim Bau der neuen Station ein ganzer Friedhof in die Tiefe.
Und doch ist man des Durcheinanders jetzt auch hier Meister geworden. Was heisst: Das Viertel Bermondsey, dessen einzige Attraktion bisher der legendäre, am Freitagmorgen auf offener Strasse stattfindende Antiquitätenmarkt war, liegt plötzlich sozusagen auf der Schwelle zum West End. Ähnliches gilt auch für die weiter östlich gelegenen Vororte Greenwich und Canning Town, die nunmehr aus dem Zentrum in gut 15 Minuten erreichbar sind. Kein Wunder, schossen hier die Preise für Grundstücke und Wohneigentum fast über Nacht in die Höhe - und zwar bevor sich in den neuen Stationen der Jubilee Line überhaupt nur die ersten Schranken öffneten.
One-way Ticket to East London
Für den einen Architekturkritiker sind es «Temples to travel», für den anderen «Vast, subterranean, airy cathedrals of commuting» - diese Stationen eben, die nicht zuletzt deshalb luftig anmuten, weil den Passagieren das gefilterte Tageslicht so tief hinab wie nur möglich folgt oder entgegenkommt. Im Vergleich zu den oft wie ein Gewirr von Spaghetti anmutenden Stationen älterer Linien - etwa Oxford Circus oder Leicester Square - wirken die neuen Jubilee Line Stations denn auch wie helle, mehrstöckige Boxen. Doch bergen sie Überraschungen. Westminster zum Beispiel, wo die Rolltreppen irgendwo unter den Houses of Parliament, der Westminster Abbey und der District Line in die Tiefe führen, sah der Architekt Michael Hopkins wohl mit dem Vorstellungsvermögen eines dem Sublimen verfallenen Romantikers. Hier Aufgänge, die irgendwo ins Leere zu laufen scheinen, dort gewaltige Säulen und Träger: das Auge macht eine Erfahrung wie beim Betrachten von Piranesis «Carceri».
Von Waterloo, wo die weiten, von Paoletti selbst entworfenen Passagen bestechen, verläuft die Fahrt nach Southwark, der kleinsten Station. Im Gegensatz zu Westminster und Waterloo ist Southwark vollständig neu. Dieses von Richard MacCormac gebaute Juwel hat auf das Etikett «abstraktes Kunstwerk» ebenso viel Anspruch wie die Exponate in der nahe gelegenen Tate Modern. Mit der trommelförmigen Ticket Hall ist ein Tribut an die Stationen Holdens gegeben; ein Stockwerk tiefer aber beginnt mit einer gewölbten, über den röhrenförmigen Rolltreppen wie der Nachthimmel anmutenden Wand des Glaskünstlers Beleschenko ein von MacCormac virtuos gehandhabtes Spiel - seine Station ist eine unterirdische Landschaft, die von Kontrasten lebt, in der räumliche Enge und Weite sowie natürliches und künstliches Licht sich ergänzen wie in einem Orchester die Stimmen einzelner Instrumente.
In Canada Water, nach Plänen von Ron Heron gebaut, prägen sich die den niedrigen Decks von Schiffen vergleichbaren Flächen in der Erinnerung des Betrachters ein. Canary Wharf hingegen überrascht mit einem den Flügeln eines Riesenvogels ähnlichen Glasdach, das in der Mitte von Säulen getragen wird. Zu der von Norman Foster erbauten Canary Wharf Station bleibt zu sagen, dass an dieser Elemente des Stadion- und Flugplatzbaus erkennbar sind - eine Hommage an Pierluigi Nervi? Es folgt North Greenwich und damit nochmals - soll es doch die grösste U-Bahn-Station in Europa sein - ein Ungetüm. Hier, wo Will Alsop der Architekt war, empfängt einen eine Welt in Blau à la Yves Klein. Oder ist es die Welt von Indiana Jones? Die Galerie nämlich, über die es hinwegzuschreiten gilt, ruht nicht etwa auf Mauern oder Pfeilern, sondern hängt im Raum. Nach diesem Abenteuer geht die Fahrt weiter ins alte East London und endet dort schliesslich in Stratford, wo die Jubilee Line auf die Geschichte stiess; auf dieses faszinierende Durcheinander eben, das London heisst. Hunderte von Mönchen mussten hier der U-Bahn weichen: Skelette nämlich, die man beim Bau entlang der Linie fand - die Zeugen des grossen, seit langem spurlos verschwunden geglaubten Zisterzienserklosters zu Stratford.
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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