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Der Herr Baumeister Schwammerl
Die einen gehen in den Wald, um Pilze zu sammeln, die anderen haben sich auf das Bauen und Forschen mit deren hochintelligentem Wurzelwerk spezialisiert. Das Potenzial der sogenannten Myzelien ist enorm – und könnte die Baubranche eines Tages komplett umkrempeln.
7. September 2024 - Wojciech Czaja
Pilze führen in unserer Lebenskultur ein ambivalentes Dasein. Eierschwammerl gut, Knollenblätterpilz böse. Der eine ist ein Glückspilz, der andere wird zum Schwammerl. Als weißer Camembert und blauer Roquefort eine Conditio sine qua non, auf anderen Nahrungsmitteln jedoch ein Grund zur sofortigen Küblierung. Während Fliegenpilze aus Marzipan als Freudenbringer verschenkt werden, bringen sie als Original draußen in der Natur bloß Tod und Verderben. Und was im Antibiotikum dank seiner Heilkräfte hochbegehrt ist, dem begegnen wir in der Duschkabine mit Putzfetzen und chemischem Schimmelreiniger.
Mit dem 2021 erschienenen Buch Verwobenes Leben. Wie Pilze unsere Welt formen und unsere Zukunft beeinflussen ist es dem britischen Biologen Merlin Sheldrake, der an der Oxford University unterrichtet und auch vor diversen Selbstversuchen mit der halluzinogenen Materie nicht zurückscheut, gelungen, das Thema in die breite Masse zu streuen. Seit damals wissen die Bestsellerjäger, dass sich der größte Pilzorganismus der Welt – ein Dunkler Hallimasch irgendwo in Oregon, USA – über neun Quadratkilometer Waldfläche erstreckt und mehrere Hundert Tonnen auf die Waage bringt. Er gilt als das größte Lebewesen der Erde.
Klimawandel
Auch im Design und in der Architektur spielen Pilze eine zunehmend wichtige Rolle. Schon seit den 1980er-Jahren wird mit den fadenförmigen Zellen und den unterirdischen, oft weitverzweigten Wurzelgeflechten – den sogenannten Myzelien – intensiv geforscht. In den letzten Jahren bekam die Myzelienforschung dank Klimawandel, Kreislaufwirtschaft und einer immer wichtiger werdenden Ressourcendebatte großen Rückenwind. Und natürlich auch dank Merlin Sheldrake.
Immer mehr Architekturbüros widmen sich in ihrer täglichen Arbeit dem Schwammerl. An manchen Architekturfakultäten, wie etwa in Kassel, Karlsruhe und Newcastle, wurden bereits Institute für Myzelienforschung und Bauen mit biotechnologischen Materialien ins Leben gerufen. Und bei der Architekturbiennale 2023 in Venedig haben die Kuratoren den belgischen Pavillon unter dem Titel In Vivo mit insgesamt 300 lebenden Myzelienplatten ausgekleidet.
„Myzelien sind ein faszinierendes Baumaterial, das zur Dekarbonisierung der gebauten Umwelt beitragen kann, von dem wir aber noch vergleichsweise wenig wissen“, sagt Corentin Dalon, Partner im belgischen Architekturbüro Bento und zugleich Kurator des belgischen Biennalepavillons. „Daher haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, die Forschung bei uns im Atelier voranzutreiben. Das langfristige Ziel ist, im Umgang mit Myzelien eines Tages ein so großes Repertoire zu haben, dass wir damit unterschiedlichste Dinge bauen können.“
Pilzwurzelgeflechte
Zu Beginn sammelte Dalon die weißen Pilzwurzelgeflechte noch eigenhändig im Wald ein, mittlerweile lässt er sich die Myzelien von einem Spezialisten liefern. Im Büro werden die Myzelien erst in der Petrischale unter sterilen Bedingungen zum Wachsen gebracht, ehe sie auf ein biologisches Trägermaterial übertragen werden, das ihnen dank hohen Zucker- und Stärkegehalts als Nahrungsgrundlage dient: Sägespäne, Holzschnitzel, Hanffasern, Stroh oder auch Treber aus der Bierproduktion. Bei 70 bis 80 Prozent Luftfeuchtigkeit, sommerlicher Zimmertemperatur und absoluter Dunkelheit beginnt das Myzelium, sich auszudehnen und bis in die allerkleinsten Hohlräume einzudringen. Durch Wasserentzug kann das Wachstum gestoppt, der Pilz „schlafend“ gestellt werden. Oder aber man tötet ihn bei rund 80 Grad Celsius irreversibel ab.
„Mit den entsprechenden Rahmenbedingungen kann man das Wachstum und den Endzustand des Myzels perfekt beeinflussen, ja sogar aktiv gestalten“, erzählt Dalon, der am liebsten mit dem Reishi-Pilz (Ganoderma lucidum) arbeitet. Dabei sind von den schätzungsweise sechs Millionen Pilzarten auf der Erde erst an die 120.000 erforscht. „Je nach Pilz, Trägermaterial und Wachstumsprozess lassen sich Produkte mit sehr unterschiedlichen Eigenschaften bauen.“ Aktuell arbeitet Dalon an Tischen, Hockern und Leichtbauplatten für den Innenausbau.
Einige Myzelprodukte sind in der Tat schon am Markt: Mogu (Italien), Biohm (England) und Ecovative (USA) etwa haben sich auf die Produktion von nachhaltigen Dämmplatten und Akustikpaneelen spezialisiert. Philipp Eversmann jedoch, Professor an der Universität Kassel und spezialisiert auf experimentelles Entwerfen und Konstruieren, ist das zu wenig. Er will noch weiter gehen. „Der Innenausbau spielt in der Architektur eine wichtige Rolle, und es tut mir weh, mitansehen zu müssen, dass wir mit jedem Büroumbau tonnenweise Sondermüll aus Gipskartonplatten schaffen. Das muss auch anders, das muss auch biologisch abbaubar gehen.“
In Zusammenarbeit mit dem Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und dem Londoner Ingenieurbüro ARUP arbeitet er nun an einer markttauglichen Variante von 2,50 hohen und zehn Zentimeter dicken Myzelplatten für den Innenausbau. „Wir wollen den komplizierten Aufbau in einem einzigen massiven, aber leichtgewichtigen Bauteil zusammenfassen und sind davon überzeugt, dass dieses Produkt den weltweiten Trockenbaumarkt revolutionieren könnte.“ Das Projekt wird vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) mit rund einer Million Euro gefördert und soll bis 2025 abgeschlossen sein.
Ökologisches Umdenken
„Doch ich fürchte“, meint Ruth Morrow, Professorin für biologische Architektur an der Newcastle University, England, „dass die Gesellschaft noch nicht so weit ist, um eine relevante Marktdurchdringung von Myzelwerkstoffen überhaupt zuzulassen. Noch ekeln sich viele davor, mit so einem biologischen Produkt zu arbeiten. Abgesehen davon, dass die gesamte globale Bauwirtschaft heute auf Perfektion, Unzerstörbarkeit und Ewigkeitsanspruch ausgerichtet ist. Wir müssen erst einmal unser Mindset ändern. Und dann wird es auch Platz für Pilze und andere biotechnologische Werkstoffe geben.“
Das Potenzial jedenfalls ist enorm. Einen Ausblick auf die mögliche Bandbreite liefert ihr Buch Bioprotopia. Designing the Built Environment with Living Organisms, das letztes Jahr bei Birkhäuser erschienen ist. „Ein bisschen Zeit wird die Entwicklung von Myzelien als Baustoff schon brauchen“, so Morrow. „Mit Holz bauen wir Menschen schon seit 200.000 Jahren. Thonet-Bugholz-Stühle und 30 Meter lange Leimbinder gab es auch nicht schon vom ersten Tag an. Wir dürfen also gespannt sein, wie die nächsten Generationen ein ökologisches Umdenken einläuten werden.“
Mit dem 2021 erschienenen Buch Verwobenes Leben. Wie Pilze unsere Welt formen und unsere Zukunft beeinflussen ist es dem britischen Biologen Merlin Sheldrake, der an der Oxford University unterrichtet und auch vor diversen Selbstversuchen mit der halluzinogenen Materie nicht zurückscheut, gelungen, das Thema in die breite Masse zu streuen. Seit damals wissen die Bestsellerjäger, dass sich der größte Pilzorganismus der Welt – ein Dunkler Hallimasch irgendwo in Oregon, USA – über neun Quadratkilometer Waldfläche erstreckt und mehrere Hundert Tonnen auf die Waage bringt. Er gilt als das größte Lebewesen der Erde.
Klimawandel
Auch im Design und in der Architektur spielen Pilze eine zunehmend wichtige Rolle. Schon seit den 1980er-Jahren wird mit den fadenförmigen Zellen und den unterirdischen, oft weitverzweigten Wurzelgeflechten – den sogenannten Myzelien – intensiv geforscht. In den letzten Jahren bekam die Myzelienforschung dank Klimawandel, Kreislaufwirtschaft und einer immer wichtiger werdenden Ressourcendebatte großen Rückenwind. Und natürlich auch dank Merlin Sheldrake.
Immer mehr Architekturbüros widmen sich in ihrer täglichen Arbeit dem Schwammerl. An manchen Architekturfakultäten, wie etwa in Kassel, Karlsruhe und Newcastle, wurden bereits Institute für Myzelienforschung und Bauen mit biotechnologischen Materialien ins Leben gerufen. Und bei der Architekturbiennale 2023 in Venedig haben die Kuratoren den belgischen Pavillon unter dem Titel In Vivo mit insgesamt 300 lebenden Myzelienplatten ausgekleidet.
„Myzelien sind ein faszinierendes Baumaterial, das zur Dekarbonisierung der gebauten Umwelt beitragen kann, von dem wir aber noch vergleichsweise wenig wissen“, sagt Corentin Dalon, Partner im belgischen Architekturbüro Bento und zugleich Kurator des belgischen Biennalepavillons. „Daher haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, die Forschung bei uns im Atelier voranzutreiben. Das langfristige Ziel ist, im Umgang mit Myzelien eines Tages ein so großes Repertoire zu haben, dass wir damit unterschiedlichste Dinge bauen können.“
Pilzwurzelgeflechte
Zu Beginn sammelte Dalon die weißen Pilzwurzelgeflechte noch eigenhändig im Wald ein, mittlerweile lässt er sich die Myzelien von einem Spezialisten liefern. Im Büro werden die Myzelien erst in der Petrischale unter sterilen Bedingungen zum Wachsen gebracht, ehe sie auf ein biologisches Trägermaterial übertragen werden, das ihnen dank hohen Zucker- und Stärkegehalts als Nahrungsgrundlage dient: Sägespäne, Holzschnitzel, Hanffasern, Stroh oder auch Treber aus der Bierproduktion. Bei 70 bis 80 Prozent Luftfeuchtigkeit, sommerlicher Zimmertemperatur und absoluter Dunkelheit beginnt das Myzelium, sich auszudehnen und bis in die allerkleinsten Hohlräume einzudringen. Durch Wasserentzug kann das Wachstum gestoppt, der Pilz „schlafend“ gestellt werden. Oder aber man tötet ihn bei rund 80 Grad Celsius irreversibel ab.
„Mit den entsprechenden Rahmenbedingungen kann man das Wachstum und den Endzustand des Myzels perfekt beeinflussen, ja sogar aktiv gestalten“, erzählt Dalon, der am liebsten mit dem Reishi-Pilz (Ganoderma lucidum) arbeitet. Dabei sind von den schätzungsweise sechs Millionen Pilzarten auf der Erde erst an die 120.000 erforscht. „Je nach Pilz, Trägermaterial und Wachstumsprozess lassen sich Produkte mit sehr unterschiedlichen Eigenschaften bauen.“ Aktuell arbeitet Dalon an Tischen, Hockern und Leichtbauplatten für den Innenausbau.
Einige Myzelprodukte sind in der Tat schon am Markt: Mogu (Italien), Biohm (England) und Ecovative (USA) etwa haben sich auf die Produktion von nachhaltigen Dämmplatten und Akustikpaneelen spezialisiert. Philipp Eversmann jedoch, Professor an der Universität Kassel und spezialisiert auf experimentelles Entwerfen und Konstruieren, ist das zu wenig. Er will noch weiter gehen. „Der Innenausbau spielt in der Architektur eine wichtige Rolle, und es tut mir weh, mitansehen zu müssen, dass wir mit jedem Büroumbau tonnenweise Sondermüll aus Gipskartonplatten schaffen. Das muss auch anders, das muss auch biologisch abbaubar gehen.“
In Zusammenarbeit mit dem Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und dem Londoner Ingenieurbüro ARUP arbeitet er nun an einer markttauglichen Variante von 2,50 hohen und zehn Zentimeter dicken Myzelplatten für den Innenausbau. „Wir wollen den komplizierten Aufbau in einem einzigen massiven, aber leichtgewichtigen Bauteil zusammenfassen und sind davon überzeugt, dass dieses Produkt den weltweiten Trockenbaumarkt revolutionieren könnte.“ Das Projekt wird vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) mit rund einer Million Euro gefördert und soll bis 2025 abgeschlossen sein.
Ökologisches Umdenken
„Doch ich fürchte“, meint Ruth Morrow, Professorin für biologische Architektur an der Newcastle University, England, „dass die Gesellschaft noch nicht so weit ist, um eine relevante Marktdurchdringung von Myzelwerkstoffen überhaupt zuzulassen. Noch ekeln sich viele davor, mit so einem biologischen Produkt zu arbeiten. Abgesehen davon, dass die gesamte globale Bauwirtschaft heute auf Perfektion, Unzerstörbarkeit und Ewigkeitsanspruch ausgerichtet ist. Wir müssen erst einmal unser Mindset ändern. Und dann wird es auch Platz für Pilze und andere biotechnologische Werkstoffe geben.“
Das Potenzial jedenfalls ist enorm. Einen Ausblick auf die mögliche Bandbreite liefert ihr Buch Bioprotopia. Designing the Built Environment with Living Organisms, das letztes Jahr bei Birkhäuser erschienen ist. „Ein bisschen Zeit wird die Entwicklung von Myzelien als Baustoff schon brauchen“, so Morrow. „Mit Holz bauen wir Menschen schon seit 200.000 Jahren. Thonet-Bugholz-Stühle und 30 Meter lange Leimbinder gab es auch nicht schon vom ersten Tag an. Wir dürfen also gespannt sein, wie die nächsten Generationen ein ökologisches Umdenken einläuten werden.“
Für den Beitrag verantwortlich: Der Standard
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