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Gestaltung einer urbanen Zukunft
Neue Zürcher Zeitung

Architektur und Städtebau im postindustriellen Zeitalter

Die gegenwärtigen städtebaulichen Debatten und neue Planungsverfahren zeigen eine grundlegende Reorientierung im Umgang mit der Stadt. Dabei wird aber oft zuwenig beachtet, mit welchen Unwägbarkeiten die Schaffung funktionsfähigen urbanen Raumes verbunden ist. Dieser Prozess kann jedoch als Chance für die Architektur begriffen werden.

7. Januar 2000 - Angelus Eisinger
Die Architektur des 20. Jahrhunderts hat wiederholt ihre Zuständigkeit für die baulichen, sozialen und ökonomischen Verhältnisse der Stadt erklärt. Die aktuellen Debatten um Stadtplanung und Städtebau deuten aber auf ein anhaltend schwieriges Verhältnis von Architektur und Stadt hin. Bei zunehmend kürzeren Halbwertszeiten - als Beispiel sei auf die Auseinandersetzung mit der Postmoderne hingewiesen - bleiben die Debatten vorwiegend bei Fragen des Erscheinungsbildes stehen. In der Diskrepanz zwischen urbaner Realität und architektonisch-städtebaulichen Ansprüchen zeigt sich eine Überforderung des Fachgebietes durch seinen Gegenstand. Die letzten Jahrzehnte haben wiederholt gezeigt, dass die einfache Beziehung von Architektur und Stadt, wie sie sich in städtebaulichen Lehrbüchern, peinlich genau gearbeiteten Laubsägemodellen und didaktisch vorbildlich eingefärbten Lage- und Stadtplänen niederschlägt, an der komplexen Bestimmung von urbaner Wirklichkeit zerbricht. Es geht dabei um bedeutend mehr als um blosse Überempfindlichkeiten einer Berufsgattung. Auf dem Spiel steht nicht zuletzt die Zukunftsfähigkeit städtischer Lebenswelten.


Eine Diagnose

In den letzten Jahrzehnten hat sich einiges im Verhältnis der Architekten zur bestehenden Stadt geändert. Zunächst demontierte die disziplininterne Kritik die Fiktion des geschichtslosen, neutralen städtischen Raumes der modernen Städtebau-Utopien, der nach Richard Sennett zur Verfügungsmasse der Architekten und Stadtplaner degradiert worden war. Durch Aldo Rossi mündete diese Kritik dann in die Vorstellung einer den architektonischen Entwurf anleitenden Tiefenstruktur der Stadt. Zudem haben verschiedene Veränderungen ausserhalb der Architektur und des Städtebaus ihre Rückwirkungen auf die Fachgebiete gehabt: Der epistemologische Verlust des Zentrums, die Auflösung bisheriger gesellschaftlicher Orientierungen, die Globalisierung ökonomischer Prozesse, die ökologischen Debatten und die Neuverteilungen privater und öffentlicher Aufgabenfelder - oft mit dem ungeschickten Sammelbegriff «Postmoderne» versehen - beeinflussten den städtebaulichen und architektonischen Handlungsspielraum massgeblich.

Die moderne Vorstellung einer demokratisch abgesicherten Stadtgestalt, wie sie in der Schweiz ironischerweise gerade in der antiurbanen Formel von der «gebauten Stadt» zuletzt aufflackerte, wirkt deshalb gelegentlich wie eine Fata Morgana aus grauer Vorzeit. Ihre mit Hilfe einer Flut von Baugesetzen und Verordnungen, Zonen- und Quartierplänen aus den Büros der Bauämter orchestrierten Stadtvorstellungen greifen gleich mehrfach nicht mehr. Neben den Veränderungen der städtischen Öffentlichkeit müssen hier vor allem die veränderten politisch-ökonomischen Bedingungen der Stadtentwicklung und schliesslich die vermehrt aufbrechenden Konflikte zwischen unterschiedlichen Zeitanforderungen genannt werden.

Eine homogene städtische Öffentlichkeit mit uniformen Interessen existierte immer nur in den Phantasien der Stadtplaner, Architekten und Behörden - die Rede von der multikulturellen Stadt hat dies nur noch mehr verdeutlicht. Das heisst aber auch, dass heute die gesellschaftspolitische Zentralachse städtebaulicher Orientierung und Legitimierung fehlt. Statt dessen herrschen unauflösbare Zielkonflikte: Die Stadt als Agora, als Ort des Disputes, oder die Interessen von Familien lassen sich nur schwer mit den Anforderungen an internationale Wettbewerbsfähigkeit, den Bedürfnissen multinationaler Konzerne oder verkehrspolitischen Erfordernissen in Einklang bringen. Eine zunehmende Verwischung der bestehenden Stadtstrukturen ist die Folge. Während die alten Stadtzentren auch für die eigenen Bewohner immer mehr zu Ausflugszielen werden, kommt es in der Peripherie zu erstaunlichen Umwertungen.

Dabei werden bisherige Arbeitsteilungen zwischen Zentrum und Peripherie unterlaufen: An Autobahnknotenpunkten und in der Nähe von Flughäfen etablieren sich durch Baugesetze eher schlecht als recht geordnete, architektonisch gesichtslose Wachstumspole einer globalen Stadtvernetzung. Zusätzlich entzieht die die internationale Standortkonkurrenz begleitende Kapitalmobilität die Stadtentwicklung zunehmend der Kontrolle durch lokale Instanzen. Ausserdem wirken sich unterschiedliche Zeitbedürfnisse oft fatal aus. Die mit der ökonomischen Globalisierung dramatisch gestiegene Mobilität der Investoren und der erbitterte Standortwettbewerb zwischen den Städten verlangen Ausnahmeregelungen, beschleunigte Bewilligungsverfahren und rasche Entscheidungsfindung. Die daraus resultierende Architektur ignoriert die jeder Stadt eigene Zeitlogik, die sich aus ihrer Geschichte ergibt, ihre Unverwechselbarkeit konstituiert und den architektonischen Entwurf anleitet.


Kooperative Stadtplanung

Im Kontext der gerade eben aufgeworfenen Probleme halten heute nicht wenige die kooperative Stadtplanung für das Abrakadabra, das die bisherige regulative Politik um eine flexible, innovative Dimension erweitern soll. Die Stadtbehörde dekretiert dabei nicht mehr ein festes Stadtbild. Bisher auf das gesamte Stadtgebiet ausgerichtete städtebauliche Ordnungsvorstellungen werden durch eine auf die Bauparzelle begrenzte Schaffung einer Stadtrealität ersetzt. Die Behörden verstehen sich dabei als Vermittler - ständig darum bemüht, potentielle Investoren und Grundstückeigentümer an einen Tisch zu bringen und zu Vertragsabschlüssen zu bewegen. Stadtplanung ist somit nicht mehr technisch-bürokratische Verfahrensabwicklung, sondern Stadtmanagement. - Eine raschere Abwicklung bürokratischer Prozesse und die Enthierarchisierung der Entscheidungsfindung mögen zweifelsfrei Vorzüge dieses Vorgehens sein. Dadurch, dass die städtischen Verhandlungspositionen oft von der Notwendigkeit wirtschaftlicher Revitalisierung geprägt sind, können sich städtebauliche Aspekte - allen publizistischen Paukenschlägen bei international prominent besetzten Ideenwettbewerben oder bei Eröffnungen von Kulturzentren, Ausstellungsgebäuden usw. zum Trotz - nur wenig Geltung verschaffen. Ebenso können hinter den verschlossenen Türen der Sitzungszimmer die Interessen der Allgemeinheit wie auch Fragen der demokratischen Kontrolle über die verfolgten Ziele und ihre Umsetzung nur schwer durchgesetzt werden.


Boomende ehemalige Industrieviertel

Der mit kooperativen Modellen eingeleitete planungspolitische Kurswechsel bleibt nicht ohne Auswirkung auf das Verhältnis von Architektur und Stadt. Die Schaffung urbaner Räume ist ein mit erheblichen Unsicherheiten behafteter, von spezifischen Bedingungen vor Ort abhängiger Prozess: Allenthalben entstehen seit einigen Jahren auf stillgelegten Industriearealen neue, für Investoren, aber auch für die Wohnansprüche von Familien und Singles sowie für die Freizeitbedürfnisse vor allem einer jungen Bevölkerung gleichermassen attraktive Stadtteile. Dabei fehlen diesen Gebieten zwischen Stadtautobahnen und leeren Industriehallen eigentlich alle Qualitäten, welche einst mit entwicklungsfähigen Stadträumen assoziiert wurden. Wie lässt sich dieses scheinbare Paradox erklären? Wenn man Anfang der achtziger Jahre einen Bauinvestor auf die dichtbefahrene Hardbrücke im Zürcher Kreis 5 gestellt und ihn über das unförmige Gebirge von Baukörpern hätte schauen lassen, hätte er eine jener unzähligen, perspektivlosen Industrieruinen wahrgenommen. Die Tristesse dieses innerstädtischen Ödlandes hätte nur ein Abreissen der Anlagen und eine Öffnung des Gebietes für die Expansionsbedürfnisse des Banken- und Dienstleistungssektors beenden können.

Heute wird der gleiche Investor an derselben Stelle bei einem nur wenig geänderten baulichen Erscheinungsbild ein Feld voller attraktiver Anlagemöglichkeiten in einem boomenden Stadtkreis erkennen. Offenbar hat in der Zwischenzeit eine Neubewertung dieses Stadtteiles stattgefunden. Derartige Wahrnehmungsrevisionen gründen auf kollektiv verfügbaren Vorstellungsmustern, die auf einer Vielzahl unterschiedlicher Handlungen, Debatten und Interventionen aufbauen. Sie sind nicht das Ergebnis simpler Manipulationen, sondern entziehen sich wesenhaft der Bestimmung durch einzelne Interessenvertreter oder Organisationen. In iterativen Prozessen von gruppenspezifischen Wahrnehmungsmustern, örtlichen Eingriffen, diskursiven Angeboten, Reinterpretationen, Verfestigungen und Angleichungen der Stadtvorstellungen können städtische Räume zu Orten vitaler Urbanität werden.


Und die Architektur?

Was resultiert nun daraus für den architektonisch-städtebaulichen Entwurf? Urbanität lässt sich zwar nicht von der architektonischen Intervention trennen, das Ergebnis hängt aber im wesentlichen von einem Interaktionsprozess zwischen Raum, Erfahrung und Gebautem ab, der weder von der Architektur noch von einer anderen Instanz kontrolliert werden kann. Wenn wir akzeptieren, dass die Produktion von städtischem Raum ein offener und risikobehafteter Prozess ist, kann damit auch eine beträchtliche Aufwertung der Rolle der Architektur einhergehen. Was an einem Ort geschieht, lässt sich immer weniger im modernen Imperativ der Bauordnungen und Zonenpläne vorwegnehmen, sondern wird Teil eines Prozesses von Aushandlungen zwischen Investor, Grundstückbesitzer, Architekt und Öffentlichkeit.

Es gibt keine Patentrezepte, die eine revitalisierte Urbanität garantieren, und eine überall gültige Standardlösung gibt es nicht. Hier deckt sich potentiell das Interesse des Investors mit den Intentionen der Architektur. Dieses an eine architektonische Idee zu binden ist eine Herausforderung, welche die Architektur vermehrt annehmen muss, sollen Städte weiterhin Orte lebendiger Öffentlichkeit bleiben. Damit lässt sich zumindest punktuell das Versprechen der Architektur des 20. Jahrhunderts, die Stadt als lebenswertes und zeitgemässes Zentrum auszubilden, einlösen. Deren Attribute heissen - anders als die Ordnungssucht der Moderne es anstrebte - dynamisch, widersprüchlich und flexibel.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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