Bauwerk

Ganztagshauptschule Eibengasse
Martin Kohlbauer - Wien (A) - 1995
Ganztagshauptschule Eibengasse, Foto: Manfred Seidl
Ganztagshauptschule Eibengasse, Foto: Rupert Steiner

Im Kreis der kecken Kinder

Die Wiener Vorstadtjugend braucht keine stupid argumentierten Serienschulen, sondern stupend konzipierte Lernorte. Martin Kohlbauer weist mit seiner Hauptschule in Wien-Aspern einen Weg.

13. Januar 1996 - Walter Chramosta
Der architektonische Charakter unserer Schulbauten sollte klar in seiner Gliederung, verständlich und naturverbunden sein. Eine richtige Gruppierung der Baukörper, Hof- und Gartenräume, die einem organischen Gefüge der inneren Anlage entsprechen muß, soll abwechslungsreiche Raumerlebnisse vermitteln und durch den sinnvollen, in der Aufgabe der einzelnen Räume liegenden Gegensatz von innen und außen, hoch und niedrig, eng und weit spannungsvolle Wirkungen erzielen. Die Schule, die bedeutsamste Welt des Kindes, in der es die entscheidendste Phase seiner Entwicklung durchlebt, soll in ihrer architektonischen Durchbildung einen würdigen, ja sogar gelegentlich feierlichen Charakter haben."

Was wie ein Ordnungsruf im jüngst von der Stadtpolitik losgetretenen Methodenstreit um mehr Sparsamkeit im Wiener Pflichtschulbau klingt, ist eine Reminiszenz aus der Zeit des Wiederaufbaus. Franz Schuster, gebürtiger Wiener, Schüler und Mitarbeiter von Heinrich Tessenow, zuletzt Leiter einer Meisterklasse für Architektur an der Hochschule für angewandte Kunst, veröffentlichte 1950 dieses Credo unter dem Titel „Schulen - Die Welt der Kinder“. Schuster appellierte an Erzieher und Gestalter, „vorurteilslos neue Wege zu gehen, um unserer Jugend jene Bildungsstätte zu geben, die sie befähigt, die in ihr schlummernden Kräfte auf das Beste zu entwickeln“.

Worüber längst gesichertes Wissen herrscht, um das muß nun von der Architekturkritik wieder polemisierend gerungen werden. Die Feststellung, daß durch den Schulbau Bildungsarbeit zu leisten und der gestaltete Raum in einer kulturell fortschrittlichen Gesellschaft als pädagogisches Instrument anzuerkennen ist, wirkt angesichts der jüngsten Leistungen im „Schulbauprogramm 2000“ fast trivial. Nach ersten standortbestimmenden Bauten, die solitäre Erfolge kommunaler Praxis mit belebender Dauerwirkung darstellen, soll nun wieder die Normalität einkehren.

Wenn Schuster der Schule einen „würdigen, gelegentlich feierlichen Charakter“ zubilligt, spricht er die Stellvertreterrolle an, die ihr als Bauwerk in der Stadt zukommt und die nun mit Nachdruck einzufordern ist. Die Schule steht für die Bedeutung des Kindes in der Bevölkerungspyramide, für die Wertschätzung der Bildung in der Gesellschaft, für die Darstellbarkeit eines humanistischen Anspruchs im utilitaristischen Umfeld heutiger Stadtentwicklung. Das Schulhaus ist mehr als eine Ansammlung von Klassenräumen; es ist eine zarte Zentrumsbildung imSiedlungsgeflecht.

Martin Kohlbauer hat mit Hannes Rohacek an der Eibengasse in WienAspern einen Bau verwirklicht, der neben den internen Notwendigkeiten genau diese repräsentative Rolle übernehmen kann, weil er ein urbanistisches Selbstbewußtsein entwickelt und von einer eindeutigen Haltung getragen ist. Kohlbauer, Jahrgang 1956, ist ein für Wiener Verhältnisse junger Architekt, der mit dieser Schule sein erstes Bauwerk eigenverantwortlich errichtet hat. Er stammt aus Wien und ist Absolvent der Akademie der bildenden Künste. An der Meisterschule von Gustav Peichl hat er eine entscheidende Prägung erfahren. Sein Projekt ging 1992 als Sieger aus einem bundesweit offenen Wettbewerb der Stadt Wien hervor.

Der Entwurf ist weitgehend ident mit dem Realisierungsprojekt: ein in weißem Putz gehaltener Quader mit kreisrundem Hof, abgerückt von der Langobardenstraße, angeschmiegt an die sich in den neuen Stadtteil, die „Erzherzog-Karl-Stadt“ , entwickelnde Eibengasse. Diese endet noch in rohem Baugelände mit dem typischen offenen Flachlandcharakter der Wiener Nordperipherie. Die ersten angrenzenden Wohnbauten nach dem städtebaulichen Leitbild von Peichl und Kohlbauer werden bereits errichtet und lassen eine vielfältige Wohnungstypologie mit wohldimensionierten Stadträumen erwarten.

Als kompakter, dreigeschoßiger Baukörper, der alle Nutzungen einer Ganztagsschule - von den Klassenräumen bis zu den für Gäste offenen Turnsälen - aufnimmt, setzt er sich deutlich von der noch ungeprägten Umgebung ab und ist doch so dimensioniert, daß er einen städtebaulichen Anknüpfungspunkt für einen sehr homogenen Stadtteil abgibt. Es ist ein selbstbewußter, nach seinen Ansätzen in der klassisch genannten Moderne wurzelnder Bau.

1926 publizierten Le Corbusier und Pierre Jeanneret ihre „Fünf Punkte zu einer Neuen Architektur“ . Unter den Titeln „Die Säulen“ , „Die Dachgärten“ , „Der freie Grundriß“ , „Das lange Fenster“ und „Die freie Fassade“ leiteten sie aus dem damaligen Stand der Technik konstruktive und gestalterische Innovationen ab, die in den folgenden Jahrzehnten die architektonische Moderne bestimmen sollten. Kohlbauers Credo wird vom Glauben an die Entwicklungsfähigkeit dieser „zeitlosen Moderne“ getragen.

Folgerichtig bringt er an der Gartenseite der Schule den modernen Habitus deutlich zur Geltung. Den fünf Corbusierschen Postulaten folgend, instrumentiert er die drei Geschoße unterschiedlich: Das Erdgeschoß kommt an der Südseite ohne massiven Wandschirm aus, es stützt sich auf Stahlbeton- „ Säulen“ und hat eine „befreite Fassade“. Im ersten Obergeschoß wendet Kohlbauer das „lange Fenster“ an; der Dachgarten bildet die oberste Ebene. Der „freie Grundriß“ tritt an verschiedenen Stellen im Erdgeschoß auf.

So erzeugt die Moderne der zwanziger Jahre, die selbst auf ältere Erkenntnisse zurückgreift, längst wieder eine Tradition, die sich fortpflanzt. Es ist bemerkenswert, mit welcher Gelassenheit Kohlbauer diese Bezüge aufnimmt, mit eigenen Sichtweisen verbindet und den Restriktionen der Bauaufgabe anpaßt. Pragmatismus und Stilwille sind in seiner rationalistischen Architektur nicht unbedingt ein Gegensatzpaar. Der Entwurf ist klug, weil sich Kohlbauer die Latte der Machbarkeit technologisch und typologisch gerade so hoch legt, daß er sie bei seinem Erstling auch überspringen kann.

Indem er mit einem klaren Volumen und einer bekannten Erschließungssystematik operiert, beides gekonnt interpretiert und mit den entscheidenden Raumattraktionen versetzt, gelingt ihm eine Innen- und Außenraumfigur hoher Einprägsamkeit und Überschaubarkeit.

Überzeugend ist die Art, wie er die beiden Erschließungsgänge an den kreisrunden Pausenhof bindet und einen zentralen Außen- und Innenraum entste-hen läßt. Dieser zentrale Ring-raum bietet Übersichtlichkeit, Vielfalt in den Lichtqualitäten, Angemessenheit in den Materialien und Gewißheit über den ei-genen Standort, die Tageszeit, das Wetter. Nicht zuletzt ist er ein unendlicher Bewegungs-raumfür den Abbau beim Sitzen aufgestauter Schülerenergien.

Hier darf im Kreis gelaufen werden, hier steht eine fast asketische Disziplin der Innengestaltung nicht in bremsendem Widerspruch zu keckem Kindergehabe, sondern ist diesem ein fördernder Hintergrund; hier hat die Schule ihr funktionales Herz und ihre räumliche Attraktion. Die doppelzylindrische, zweigeschoßige Bibliothek ist ebenso auf der Seite der außerordentlichen Raumgewinne zu verbuchen wie das für Pause und Unterricht nutzbare Flachdach. Auch eine sparsame Schularchitektur kann hohen Raumertrag einbringen, wenn die Planung qualifiziert ist; die präliminierten Baukosten wurden bei dieser Schule deutlich unterschritten. Einfachheit ist ein Zeichen von Reife und gekonnt verarbeiteter Komplexität, nicht Ausdruck billig replizierter Simplizität.

Der Bau ist nicht monumental oder maßstabssprengend, er atmet den Geist von Disziplin und Sparsamkeit, freilich antithetisch durchströmt von Gesten der Großzügigkeit und Gestaltungsfreude. Sein Konzept ist nicht revolutionär, es ist auch kein in allen räumlichen Vorsorgen ausgewogenes Werk - aber es ist eine evolutionär wertvolle Markierung. Raumprogrammatische, typologische und schulpädagogische Innovationen stehen nämlich nicht an der Wurzel des jüngsten Schulbauprogramms, sind jetzt aber umso dringlicher, als der politische Ruf nach Effizienz im Schulwesen unüberhörbar kulturell retardierende Blüten treibt. Franz Schuster konnte eine Schule wie diese schon 1950 imaginieren. Martin Kohlbauer hat mit konventionellen konstruktiven Mitteln bewiesen, daß funktionale Angemessenheit und gestalterischer Anspruch in der Schularchitektur kein Widerspruch sind, daß eine öffentliche Schule ohne architektonische Zuspitzung eine sündteure Verfehlung des Themas abgäbe. Sein wettbewerbsgeprüfter Ansatz, klare Raumfolgen mit kalkuliert einfachen Mitteln in klassisch-moderner Manier zu erstellen, wird manch einem - den fliegenden Puls der Zeit tastenden - Architekten traditionalistisch anmuten. Die Avantgardistenschelte durch die Siegelbewahrer ist sowieso immer angesagt.

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