Publikation

Denkwürdiges Wien
3 Routen zu Mahnmalen, Gedenkstätten und Orten der Erinnerung der Ersten und Zweiten Republik
Autor:in: Erich Klein
Verlag: Falter
ISBN: 3-85439-303-2
Publikationsdatum: 2004
Umfang: 128 Seiten,
Format: gebunden, 21,4 x 11,3 cm

Gebaute Erinnerung

„Denkwürdiges Wien“, ein neuer Stadtführer von Erich Klein, erinnert an den Architekten Erich Boltenstern - obwohl dessen bekanntestes Bauwerk gar nicht vorkommt: der Ringturm.

30. Juni 2004 - Jan Tabor
Erich Klein hat eine Unterweisung zum bewussten „Gehen & Sehen“ in Wien verfasst und im Falter Verlag veröffentlicht: „Denkwürdiges Wien. 3 Routen zu Mahnmalen, Gedenkstätten und Orten der Erinnerung der Ersten und Zweiten Republik“. Die Lektüre fordert zum kritischen Nachgehen auf. Und zum Erinnern an Erich Boltenstern.

Obwohl der Ringturm ein „Ort der Erinnerung“ ist, ein immanent politischer sogar, kommt er bei Klein nicht vor. In das schmale Buch würde das stattliche Hochhaus überaus gut hineinpassen. Der Ringturm und eine Ehrentafel in dessen Foyer erinnern an Norbert Liebermann. Nach dem legendären Generaldirektor der Wiener Städtischen war früher auch der „Norbert-Liebermann-Hof“ am anderen Ufer des Donaukanals benannt, der ebenfalls ein Werk des Architekten Erich Boltenstern ist. Als dieser bedeutende Verwaltungsbau aus den Sechzigerjahren vor wenigen Jahren mit postmoderner Gründlichkeit bis zur Unkenntlichkeit umgebaut wurde, verschwand die ehrende Hausbenennung und eine Aufforderung zum Erinnern.

Erich Boltenstern (1896-1991) wurde von den Nationalsozialisten als „jüdisch versippt“ eingestuft und mit Berufsverbot belegt. In der Nachkriegszeit stieg er zu einem der meistbeschäftigten Aufbauarchitekten auf, unter anderem leitete er den Wiederaufbau der Staatsoper. Norbert Liebermann (1881-1957) war möglicherweise der einzige jüdische Politiker und Experte, der nach der Befreiung von 1945 aus dem Ausland nach Österreich zurückgeholt und in seine Position als Generaldirektor der Wiener Städtischen Versicherung wieder eingesetzt wurde. Der Sozialdemokrat Liebermann war bereits nach dem austrofaschistischen Putsch im Februar 1934 abgesetzt worden; nach dem „Anschluss“ im Frühjahr 1938 wurde er von der Gestapo verhaftet und ins Konzentrationslager Dachau deportiert. Nach seiner Freilassung 1939 gelang ihm über Kuba die Flucht in die Vereinigten Staaten. Seine Rückkehr 1947 ging auf die persönliche Einladung des Wiener Bürgermeisters Theodor Körner zurück.

Liebermann setzte den Bau eines neuen Bürohochhauses an der Stelle eines durch Bomben zerstörten Ringstraßenpalais durch. Der Ringturm, dessen Name in einem Volksplebiszit gefunden worden war, wurde sofort zum Sinnbild des rasanten Wiederaufbaus und des geglückten Wiederanschlusses an die westliche Welt. Liebermann wollte in Wien eine Erinnerung an die Wolkenkratzer von Manhattan haben, die er während seiner Emigration in New York lieb gewonnen habe, erzählte man sich damals. Wenn das kein Ort der Erinnerung ist!

Der Ringturm, Boltensterns Hauptwerk, steht unter Denkmalschutz. Nicht so sehr, weil seine Architektur von überragender Bedeutung wäre. Das Hochhaus erinnert eindringlich und weithin sichtbar an den Aufbauoptimismus nach dem Krieg. Ein anderer Boltenstern-Bau und ebenfalls ein wichtiger Ort der Stadtgeschichte ist das Restaurant auf dem Kahlenberg. Ein Bau, der weithin sichtbar - jedoch unaufdringlich - den Aufbauoptimismus der austrofaschistischen Diktatur verkörpert und daher ein Baudenkmal par excellence abgibt. Würde man meinen. Mitnichten: Das von der Stadt Wien an einen Privaten verkaufte Restaurant soll laut einem kürzlich erlassenen Gemeinderatsbeschluss abgerissen und durch einen Neubau nach einem Entwurf des Büros Neumann/Steiner ersetzt werden.

Nach Erich Bernard, einem der wenigen Kenner der Architektur der Zwischenkriegszeit, ist das Restaurant das architektonisch interessanteste Bauwerk von Boltenstern und auch der beste Bau des austrofaschistischen Wien überhaupt - nicht zuletzt deshalb, weil er bereits 1932 für einen noch in sozialdemokratischen Zeiten ausgelobten Wettbewerb entworfen wurde. Erich Klein hat das Bauwerk in seinen Gedenkstätten-Führer aufgenommen. Völlig richtig weist er auf die Tatsache hin, dass das Restaurant ein Bestandteil der Höhenstraße ist. Ihr Bau begann 1934 und wurde erst in den Fünfzigerjahren beendet.

Der Boltenstern-Bau, der sozusagen als der Höhepunkt der Höhenstraße gedacht und konzipiert war, ist für das austrofaschistische Regime eine so charakteristische Leistung wie etwa der Karl-Marx-Hof für das Rote Wien. Der Bau der eleganten, von Stadtbauamt-Architekten Erich Leischner entworfenen Panoramastraße diente als Beschäftigungsprogramm für Arbeitslose. Es durften keine schweren Baumaschinen eingesetzt werden.

Die Höhenstraße samt Restaurant am Kahlenberg ist ein Erinnerungsort der Sonderklasse: Sie weist von der sozialdemokratischen Zeit (Ziel: Tourismus für Volksmassen - ein Restaurant mit 4500 Sitzplätzen in der Sommerzeit) über den Austrofaschismus (Ziel: Tourismus für die Oberschicht) und die NS-Zeit mit ihren entsprechenden architektonischen Beigaben (der Kahlenberg wurde nach dem „Anschluss“ zum „Wachtturm der Ostmark“ erklärt) bis in die Nachkriegszeit.

Der damals erfolgte Hotelzubau, ein Werk des stark NS-belasteten Architekten Hermann Kutschera, gilt auch für die Verteidiger des Boltenstern-Restaurants als nicht schützenswert. Also: Boltenstern ja, Kutschera nein? So einfach ist es allerdings nicht. Auch Kutschera, der mit seinem Projekt einer Skisprungschanze bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin - als Tonkunst, Baukunst, Dichtung, Malerei und Bildhauerei noch als vollwertige olympische Disziplinen galten - eine Goldmedaille gewann, ist eine architekturgeschichtlich interessante Figur. (Wäre ein österreichischer Abfahrts-Olympiasieger in dem Hotel einmal abgestiegen, stünde es vermutlich längst unter Denkmalschutz!)

In der gegenwärtigen Bewertung aber haben all diese kulturhistorischen Umstände und Details am Rande offensichtlich keine Bedeutung. Wieder zeigt sich, wie schwach die Position des Denkmalamtes in derartigen Fällen ist; wie sehr Experten fehlen, die sich mit der Architektur der Zwischen- und Nachkriegszeit befassen. Wer zulässt, dass das Restaurant von Boltenstern demoliert wird, der muss auch die Schutzwürdigkeit des Karl-Marx-Hofes infrage stellen. Um es auf die Spitze zu treiben: In der NS-Zeit wurde Boltenstern - nicht zuletzt auch wegen der Modernität seiner Bauten - mit Berufsverbot belegt; in der Jetztzeit werden seine Bauten demoliert.

Die dem Ringturm am nächsten liegenden Lokalitäten, die in Erich Kleins Führer erwähnt werden, sind die beiden Flaktürme im Augarten. Gar keine Frage: Sofern die Naziungetüme noch nicht unter Denkmalschutz stehen, müsste dies schleunigst geschehen. Denn auch um sie herum kreisen längst einfallsreiche Umbauspezialisten. Der Architekt der Flaktürme hieß Friedrich Tamms - nicht Tamm, wie er bei Klein genannt wird.

Der fehlende Buchstabe „s“ ist nicht der einzige kleine Fehler in dem mit interessanten Hinweisen, Fotos und gut lesbaren Texten vollen Gedächtnisauffrischungsführer. Neben viel Lobenswertem gibt es auch ein paar Dinge, über die man sich ärgern muss. Zum Beispiel, dass sich keinerlei Hinweise auf die Quellen und die verwendete Literatur finden - und natürlich, dass der Ringturm fehlt.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Falter

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: