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Visualisierte Menschenströme
Neue Zürcher Zeitung

Das „Interface Flon“ von Tschumi & Merlini in Lausanne

5. April 2002 - Rahel Hartmann Schweizer
Das ehemalige Industriequartier Vallée du Flon in Lausanne bot Bernard Tschumi und Luca Merlini ein ideales Experimentierfeld. Die Architekten, die sich 1992 mit dem Landschaftsgarten Parc de la Villette in Paris einen Namen gemacht haben, realisierten mit dem „Interface Flon“ eine abgespeckte Version ihres Projekts „Ponts-Villes“.

Es ist eines der wenigen ehemaligen Industriequartiere, die noch nicht dem Loft-Boom anheimgefallen sind: das Lausanner Vallée du Flon. Ob dem bunten Treiben zwischen dem „Bistrot du Flon“ im markanten „Entrepot féderal“, der „Broderie“ im ehemaligen Lagerhaus oder dem Kleidergeschäft „Trois mains“ vergisst man leicht, dass das Gebiet einem brutalen Eingriff in die Natur abgerungen wurde. Jean-Jacques Marcel- Mercier, der gut 20 Jahre nach dem Bahnhofbau zwischen 1877 und 1879 die Metro-Verbindung vom See hinauf zur Stadt schuf, ebnete mit dem Aushub das Tal des Flusses Flon ein und verbannte ihn in den Untergrund.


Tal zwischen zwei Hügeln

Schien es im Jahre 1989, als wäre dem Quartier nur noch eine Galgenfrist gewährt, so ist nun eine seiner repräsentativsten Bauten renoviert, der andere eingerüstet. Mit ihren historisierenden Fassaden markieren die beiden Gebäude den Eingang zum Quartier wie Torbauten. Von der Tabula rasa, die Mario Botta damals den Grundeigentümern vorschlug, blieb das Quartier verschont. Auch das Gespenst, dass man dereinst über das Quartier hinwegschreiten würde, ist vertrieben. Diese Furcht hatte das Projekt von Bernard Tschumi und Luca Merlini ausgelöst, mit dem sie 1989 den städtebaulichen Wettbewerb gewannen, der einer jahrzehntelangen Planungsgeschichte ein vorläufiges Ende setzte: Vom grossen Wurf ihrer „Ponts-Villes“ wurde indes nur eine Brücke, der „Métropont“, realisiert.

Das Konzept des als Vertreter einer dekonstruktivistischen Architektur international bekannt gewordenen Bernard Tschumi ging von der charakteristischen Topographie seiner Heimatstadt aus, die sich über Hügel ausstreckt und in Täler duckt. Hoch oben, im historischen Zentrum, thront die Kathedrale, steil fallen die Strassen nach Süden ab bis zur „Klippe“ am Ende der Rue Pichard, unter der sich das Quartier des Vallée du Flon ausbreitet. Im Osten wird das Tal vom Grand Pont begrenzt. Die markante, mit groben Steinquadern verkleidete Brücke hat ihr Pendant im Westen im eleganten Pont Chauderon. Jenseits des Tals steigt das Terrain wieder an bis zur Höhe des Hotel Palace und erstreckt sich dann hinunter bis nach Ouchy am See. Von dort fährt man mit der Metro zurück zum Bahnhof und von da noch weiter hinauf zum Gare du Flon. Um auf die Linie Lausanne-Echallens-Bercher (LEB) umzusteigen, begibt man sich hier in den Untergrund, wo die neue Metrostation liegt.

Im Wettbewerbsprojekt überlegten sich Tschumi & Merlini, die Büros in New York und Paris unterhalten, wie der Charakter einer Stadt ausgerechnet dort betont werden kann, wo sie ihn am meisten negiert: Wie wäre die pittoreske Topographie Lausannes mit dem amerikanisch anmutenden Schachbrettmuster des Talbodens zu versöhnen? Wie das Quartier zu integrieren, das zwar im Herzen der Stadt liegt und dennoch vom historischen Kern abgeschnitten ist, weil es 13 Meter tiefer liegt als jener? Wie „die unbewusste Modernität“ einer Stadt hervorzuheben, in der - „wie in Metropolis“ - die Eingänge der Häuser an der Place Saint- François im 6. Stock sind, während ihre Ausgänge in der Rue Centrale im Erdgeschoss liegen, in der Bauten als vertikale Korridore funktionieren und Brücken als mehrgeschossige Übergänge? Die Antwort war ebenso einfach wie bestechend: Tschumi & Merlini entwarfen fünf „bewohnte“ Brücken - Pont de la Vigie, Pont Montbenon, Pont des Terraux, Pont Bel- Air und Métropont -, die über das Tal führen, gleichzeitig eine vertikale Verbindung schaffen und so den Flon mit dem historischen Zentrum verbinden sollten. Mit Bauten bestückt, war jede der Brücken bestimmten Nutzungen zugeordnet - so sollte der Pont Montbenon das Centre de l'Art Contemporain beherbergen und der Métropont die Fussgängerverbindungen schaffen.

Verwirklichen mochte die Stadt die Vision dann aber nicht. 1994 verwarf sie „Ponts-Villes“ und beauftragte die Architekten mit einer abgespeckten Variante der Verkehrserschliessung - ohne kommerzielle und kulturelle Ein- und Aufbauten. Der nun realisierte Métropont ersetzt die unansehnliche Fussgängerbrücke, die früher die Place de la Gare du Flon überspannte und den südlichen Hügel (Hotel Palace) mit der Anhöhe des historischen Zentrums verband. Zur horizontalen Verbindung gesellt sich die vertikale. Ein verglaster Liftturm verschränkt drei Ebenen: die neue unterirdische Metrostation der Linie LEB, die Place de la Gare du Flon, die umgetauft wurde in Place de l'Europe, und die Fussgängerpasserelle. Der Turm wächst aus einem Glaskubus, der den Eingang zur Metrostation markiert. Er trennt den in einem Oval geführten Verkehr auf der Westseite vom autofreien östlichen Teil des Platzes.

Tschumi hat nicht versucht, die Komplexität der Verkehrsverbindungen aufzulösen. Vielmehr hat er sie verstärkt und transparent gemacht. So verbindet nicht nur eine Treppe die Station mit dem Niveau der Place de l'Europe, sondern deren drei: Vom Gare du Flon führt eine Rolltreppe hinunter zur neuen Station der LEB. Von hier kann man zur Place de l'Europe hochsteigen, den Lift nehmen oder - dem Trassee der Bahn folgend - über eine Wendeltreppe am Ende des Platzes zur Tour Bel Air gelangen, wo eine Treppe auf die Ebene der Fussgängerbrücke führt. Überwinden lässt sich der Höhenunterschied zwischen Platz und historischem Zentrum schliesslich auch über die vom Verkehr befreite Rampe der Route Bel Air, eine Verlängerung des Unterbaus des gleichnamigen Turms. Es gibt keine Umwege, und man ist sich immer aller Ebenen bewusst, weil Tschumi & Merlini den Untergrund nicht zubetonierten. Von der Place de l'Europe kann man auf die Metrostation hinunterblicken. Denn die Architekten haben die Verkehrsinsel als schräg zur Metrostation hin abfallende begrünte Ebene gestaltet. Das Trassee der Bahn wird an der Oberfläche nachgezeichnet. Nicht nur durch den Glaskubus; auch die Gitterroste der Lichtschächte, die Strasse und die Rampe der Route Bel Air folgen ihrem Verlauf.


Räumliche Beziehungen

Stahl, Glas und Beton bestimmen die Materialität des „Interface Flon“, Gitterroste und rote Streifen in verschiedenen Massstäben die Textur - vom Strichcode, mit dem die Glaspaneele von Kubus, Liftturm und Brückengeländer bedruckt sind, bis zum Fussgängerstreifen auf dem Platz, der Brücke und dem Perron der Metro. Die roten Streifen verdeutlichen das Bewegungsmotiv und verleihen Lichtturm, Glaskubus und Brücke einen einheitlichen Aspekt. Doch sie täuschen nicht darüber hinweg, dass das grobe Stahlrohrgerüst, das die Passerelle stützt, zur Eleganz des Zugbandes kontrastiert.

Als magere Alternative zum ursprünglichen Entwurf muss man die roten Streifen empfinden, wenn man weiss, dass Tschumi & Merlini die Brücke als „Media Strip“, als Projektionsfläche von „medialen Ereignissen“ (einschliesslich Werbung) projektiert hatten, die zusammen mit der Bewegung der Menschen das Interface in einen fliessenden Raum der Daten- und Menschenströme verwandelt hätten. Doch nun finden sich auf den Glaspaneelen statt digitaler Botschaften nur papierene Werbekleber. Es ist bedauerlich, dass der Stadt der Mut fehlte. Die Bravour, mit der die Architekten die räumlichen Beziehungen klärten, hätte eine prägnantere visuelle Inszenierung verdient - ganz zu schweigen von der verpassten Chance, mit dem Einbau von zusätzlichen Nutzungen Brücke, Haus und Strasse zu verflechten. Tschumi & Merlinis Métropont hätte zum städtebaulichen Akzent im Spannungsfeld von Kathedrale und Bel Air sowie zu einem Signal des Informationszeitalters werden können.

Immerhin wird das „Interface Flon“ ab dem Jahre 2005, wenn der Nordosten der Stadt mit der Metro erschlossen sein wird, noch stärker in Erscheinung treten. Tschumi, obwohl überzeugt, dass die „bewohnten Brücken der Aktivität“ Generatoren der Urbanität hätten sein können, verkraftet die Abstriche,: „Ich bin glücklich über das gebaute Projekt. Es ist die erste Phase eines reinen Infrastruktur-Zirkulations-Schemas. Die zweite Phase beinhaltet Lifte, welche die Verbindung der neuen Metrolinie mit dem Grand Pont schaffen werden.“

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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