Artikel
Yes, darling, but is it architecture?
Zur Architektur von Anne Lacaton & Jean Philippe Vassal
5. April 2002 - Martin Josephy
Das Architektenduo Anne Lacaton und Jean Philippe Vassal aus Bordeaux hat sich mit wenigen realisierten Projekten in die erste Liga der Architekten gespielt. Dabei gehören Lacaton & Vassal nicht zu den Schnellstartern; sie sind Mitte vierzig und damit keine ganz jungen Architekten mehr. Das grosse Interesse an ihren Projekten gründet auf der souveränen Handhabung einfacher Materialien, die manche Konventionen der jüngeren Architekturproduktion relativiert.
Ihr erstes Haus bauten sie 1993 in einem Arbeiterquartier am Stadtrand von Bordeaux. Nicht weit davon, abgeschieden auf einer Anhöhe, steht Rem Koolhaas' Villa in Floirac. Der Unterschied zwischen den beiden Bauten könnte grösser nicht sein: Während Koolhaas das ikonographische Repertoire der Architektur im 20. Jahrhundert reflektiert, suchen Lacaton & Vassal die Architektur dort, wo sie als solche kaum mehr definiert ist. Was auf den ersten Blick einer Baracke oder einem Treibhaus gleichkommt, entfaltet für den Eingeweihten eine unverwechselbare Ästhetik. Hinter dem verschnörkelten Gartenzaun und der Thujahecke präsentiert sich das Haus Latapie als einfacher Schuppen mit einer durchgehenden, aber beweglichen Fassadenverkleidung aus gewelltem Faserzement. Im Erdgeschoss öffnen sich drei Tore in den Vorgarten; dahinter liegt eine grosszügige Fensterfront. Die Einfahrt zur Garage unmittelbar neben der Küche ist als Wohnzimmerfenster getarnt. Im Obergeschoss lässt sich die Verkleidung als Sonnenschutz ausstellen. Von der Strasse aus kaum sichtbar, schliesst auf der Gartenseite ein überdimensionaler Wintergarten an, der mit durchscheinendem PVC beplankt ist; analog zur Strassenfassade lassen sich auch hier Tore und Lüftungsklappen öffnen. Mit einfachsten Mitteln kann so das Gebäude den Bedürfnissen der Bewohner angepasst werden. Für dieses Haus mit 185 Quadratmetern Wohnfläche haben die Auftraggeber, eine junge Familie mit zwei Kindern, umgerechnet 110 000 Franken bezahlt.
Kostengünstiges Bauen ist für Lacaton & Vassal oberstes Prinzip, und - was selten ist - sie verwerten diesen Grundsatz für ein architektonisches Statement. Keine Perfektionierung von Geometrien, keine künstlerisch legitimierten Farbkonzepte, keine aufwendige Detaillierung. Das selbstreferenzielle Spiel mit Materialisierung und Entmaterialisierung wird man bei Lacaton & Vassal vergeblich suchen. Kokett bezeichnen sie ihre Architektur als „No architecture“. Wie ernst es ihnen damit ist - und dass sie dennoch Architektur im Sinn haben -, belegt ihr Ausstellungsmanifest von 1995 mit dem Titel „Morgen wird es schön“. Architektur soll ungezwungen, nützlich, präzise, billig, heiter und poetisch sein, eine perfekte Antwort auf die Anforderungen der Funktion. Jedes irgendwie komplizierte Detail ist demnach als Folge eines Denkfehlers zu werten; aussergewöhnliche Architektur wird durch den Anspruch auf bürgerlichen Komfort verhindert; Ökonomie ist soziale Verpflichtung. Mit der Technik des Remix - nicht postmodern eklektisch, sondern als Neuinterpretation der originalen Substanz - bearbeiten sie Themen der Moderne. Architekturgeschichtliche Spuren von Alison und Peter Smithson wie der intellektuelle Transfer des „under-detailing“ sind nicht zu übersehen, ebenso wenig die Ähnlichkeit der Maison Latapie mit Smithsons Wochenendhaus Upper Lawn. „Morgen wird es schön“ kann gar als direkter Verweis auf „This is Tomorrow“ verstanden werden - die Ausstellung der Independent Group von 1956, in der die Smithsons ihren architektonisch-künstlerischen Radius absteckten.
Ihre rhetorische Frage „Farnsworth House, was dann?“ beantworten Lacaton & Vassal mit einem Ferienhaus in Lège am Cap Ferret, das buchstäblich in den Bäumen schwebt. Ein Grundstück auf einer bewaldeten Düne mit Blick auf das Bassin d'Arcachon war die Ausgangsbasis. Konsequenterweise stellten sie eine 200 Quadratmeter grosse Plattform in den Wald und bauten das eingeschossige Haus um die Bäume herum. Das Innere ist minimal ausgestattet, der Genuss liegt im Ausblick und in den sechs Pinien, die ungehindert durch die Räume wachsen. Das Motiv der „Baumhütte“ wurde für ein Haus auf Korsika variiert, das auf einem verwilderten Weinberg gebaut werden sollte. Ein zimmerbreites Band bewegt sich als gezackte Grundrissfigur sechs Meter über dem Boden entlang einer Höhenlinie. Die Plattform ist durch unzählige Stelzen mit dem Untergrund verschränkt - ein dichtes Raumgitter, das in der umgebenden Vegetation nahezu verschwindet. Eine als Garten angelegte Terrasse teilt die Formation von hintereinander geschalteten Räumen in zwei separate Wohneinheiten.
Inzwischen wurde die kostensparende und konzeptionelle Arbeitsweise von Lacaton & Vassal auch von kulturellen Institutionen entdeckt. Nach einer Einladung zum Wiener Architekturkongress 1998 waren ihre Pläne für das neue Café des Architekturzentrums Wien auf der letzten Architekturbiennale zu sehen. Dietmar Steiners Entscheidung, diesen Auftrag an die französischen Architekten zu vergeben, hat sich bewährt. Mit geringem Budget sicherte er sich einen der schönsten Orte im neuen Museumsquartier. Dominantes Gestaltungselement ist das mit orientalischen Fliesen ausgekleidete Gewölbe der historischen Hallen. Als eigenständige Applikation mit Anspielungen auf die Geschichte Wiens wurde das florale Dekor von der türkischen Künstlerin Asiye Kolbai- Kafalier entworfen. Pragmatisch addiert sich die technische Ausstattung der Servicebereiche hinzu; das Getränkelager ist beispielsweise als Schaufenster arrangiert. Der provisorische Charakter des alten Architekturzentrums lebt mit einigen der alten Stühle und einem Ledersofa weiter.
Unverdünnt wandten Lacaton & Vassal ihr Prinzip „No architecture“ bei ihrem jüngsten Werk an. Im Wettbewerb für die Sanierung des Pariser Palais de Tokyo - das 1937 parallel zur Weltausstellung als Museum für moderne Kunst konzipiert wurde und nun als experimenteller Kunsttempel unter der Leitung von Jerôme Sans und Nicolas Bourriaud neu eröffnet wurde - überzeugten sie mit dem Konzept einer flexiblen Minimalstrategie: ein Lastenaufzug für 8000 Quadratmeter Nutzfläche, keine aufwendige Verdunkelungsanlage, offene Kabel- und Belüftungskanäle. Nach dem Motto „Steckdosen sind wichtiger als weisse Wände“ wurden die Mauern nur angebürstet und von groben Verunreinigungen befreit. Mit diesem Projekt haben sich Lacaton & Vassal in einem kulturpolitischen Umfeld etabliert. Der beste Beweis für die Relevanz ihrer Arbeitsweise.
Sibylle Hahner und Martin Josephy
Ihr erstes Haus bauten sie 1993 in einem Arbeiterquartier am Stadtrand von Bordeaux. Nicht weit davon, abgeschieden auf einer Anhöhe, steht Rem Koolhaas' Villa in Floirac. Der Unterschied zwischen den beiden Bauten könnte grösser nicht sein: Während Koolhaas das ikonographische Repertoire der Architektur im 20. Jahrhundert reflektiert, suchen Lacaton & Vassal die Architektur dort, wo sie als solche kaum mehr definiert ist. Was auf den ersten Blick einer Baracke oder einem Treibhaus gleichkommt, entfaltet für den Eingeweihten eine unverwechselbare Ästhetik. Hinter dem verschnörkelten Gartenzaun und der Thujahecke präsentiert sich das Haus Latapie als einfacher Schuppen mit einer durchgehenden, aber beweglichen Fassadenverkleidung aus gewelltem Faserzement. Im Erdgeschoss öffnen sich drei Tore in den Vorgarten; dahinter liegt eine grosszügige Fensterfront. Die Einfahrt zur Garage unmittelbar neben der Küche ist als Wohnzimmerfenster getarnt. Im Obergeschoss lässt sich die Verkleidung als Sonnenschutz ausstellen. Von der Strasse aus kaum sichtbar, schliesst auf der Gartenseite ein überdimensionaler Wintergarten an, der mit durchscheinendem PVC beplankt ist; analog zur Strassenfassade lassen sich auch hier Tore und Lüftungsklappen öffnen. Mit einfachsten Mitteln kann so das Gebäude den Bedürfnissen der Bewohner angepasst werden. Für dieses Haus mit 185 Quadratmetern Wohnfläche haben die Auftraggeber, eine junge Familie mit zwei Kindern, umgerechnet 110 000 Franken bezahlt.
Kostengünstiges Bauen ist für Lacaton & Vassal oberstes Prinzip, und - was selten ist - sie verwerten diesen Grundsatz für ein architektonisches Statement. Keine Perfektionierung von Geometrien, keine künstlerisch legitimierten Farbkonzepte, keine aufwendige Detaillierung. Das selbstreferenzielle Spiel mit Materialisierung und Entmaterialisierung wird man bei Lacaton & Vassal vergeblich suchen. Kokett bezeichnen sie ihre Architektur als „No architecture“. Wie ernst es ihnen damit ist - und dass sie dennoch Architektur im Sinn haben -, belegt ihr Ausstellungsmanifest von 1995 mit dem Titel „Morgen wird es schön“. Architektur soll ungezwungen, nützlich, präzise, billig, heiter und poetisch sein, eine perfekte Antwort auf die Anforderungen der Funktion. Jedes irgendwie komplizierte Detail ist demnach als Folge eines Denkfehlers zu werten; aussergewöhnliche Architektur wird durch den Anspruch auf bürgerlichen Komfort verhindert; Ökonomie ist soziale Verpflichtung. Mit der Technik des Remix - nicht postmodern eklektisch, sondern als Neuinterpretation der originalen Substanz - bearbeiten sie Themen der Moderne. Architekturgeschichtliche Spuren von Alison und Peter Smithson wie der intellektuelle Transfer des „under-detailing“ sind nicht zu übersehen, ebenso wenig die Ähnlichkeit der Maison Latapie mit Smithsons Wochenendhaus Upper Lawn. „Morgen wird es schön“ kann gar als direkter Verweis auf „This is Tomorrow“ verstanden werden - die Ausstellung der Independent Group von 1956, in der die Smithsons ihren architektonisch-künstlerischen Radius absteckten.
Ihre rhetorische Frage „Farnsworth House, was dann?“ beantworten Lacaton & Vassal mit einem Ferienhaus in Lège am Cap Ferret, das buchstäblich in den Bäumen schwebt. Ein Grundstück auf einer bewaldeten Düne mit Blick auf das Bassin d'Arcachon war die Ausgangsbasis. Konsequenterweise stellten sie eine 200 Quadratmeter grosse Plattform in den Wald und bauten das eingeschossige Haus um die Bäume herum. Das Innere ist minimal ausgestattet, der Genuss liegt im Ausblick und in den sechs Pinien, die ungehindert durch die Räume wachsen. Das Motiv der „Baumhütte“ wurde für ein Haus auf Korsika variiert, das auf einem verwilderten Weinberg gebaut werden sollte. Ein zimmerbreites Band bewegt sich als gezackte Grundrissfigur sechs Meter über dem Boden entlang einer Höhenlinie. Die Plattform ist durch unzählige Stelzen mit dem Untergrund verschränkt - ein dichtes Raumgitter, das in der umgebenden Vegetation nahezu verschwindet. Eine als Garten angelegte Terrasse teilt die Formation von hintereinander geschalteten Räumen in zwei separate Wohneinheiten.
Inzwischen wurde die kostensparende und konzeptionelle Arbeitsweise von Lacaton & Vassal auch von kulturellen Institutionen entdeckt. Nach einer Einladung zum Wiener Architekturkongress 1998 waren ihre Pläne für das neue Café des Architekturzentrums Wien auf der letzten Architekturbiennale zu sehen. Dietmar Steiners Entscheidung, diesen Auftrag an die französischen Architekten zu vergeben, hat sich bewährt. Mit geringem Budget sicherte er sich einen der schönsten Orte im neuen Museumsquartier. Dominantes Gestaltungselement ist das mit orientalischen Fliesen ausgekleidete Gewölbe der historischen Hallen. Als eigenständige Applikation mit Anspielungen auf die Geschichte Wiens wurde das florale Dekor von der türkischen Künstlerin Asiye Kolbai- Kafalier entworfen. Pragmatisch addiert sich die technische Ausstattung der Servicebereiche hinzu; das Getränkelager ist beispielsweise als Schaufenster arrangiert. Der provisorische Charakter des alten Architekturzentrums lebt mit einigen der alten Stühle und einem Ledersofa weiter.
Unverdünnt wandten Lacaton & Vassal ihr Prinzip „No architecture“ bei ihrem jüngsten Werk an. Im Wettbewerb für die Sanierung des Pariser Palais de Tokyo - das 1937 parallel zur Weltausstellung als Museum für moderne Kunst konzipiert wurde und nun als experimenteller Kunsttempel unter der Leitung von Jerôme Sans und Nicolas Bourriaud neu eröffnet wurde - überzeugten sie mit dem Konzept einer flexiblen Minimalstrategie: ein Lastenaufzug für 8000 Quadratmeter Nutzfläche, keine aufwendige Verdunkelungsanlage, offene Kabel- und Belüftungskanäle. Nach dem Motto „Steckdosen sind wichtiger als weisse Wände“ wurden die Mauern nur angebürstet und von groben Verunreinigungen befreit. Mit diesem Projekt haben sich Lacaton & Vassal in einem kulturpolitischen Umfeld etabliert. Der beste Beweis für die Relevanz ihrer Arbeitsweise.
Sibylle Hahner und Martin Josephy
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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