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Shopping und „Junkspace“
Neue Zürcher Zeitung

Rem Koolhaas' neuste Städtebaustudie

Kürzlich bekannte der holländische Architekt Rem Koolhaas in einem Fernsehinterview, es gehe ihm in seiner Arbeit um nichts anderes als um das in unserer Zeit längst zu einem Luxus gewordene Denken. Aber wie denkt man über die Gedankenlosigkeit so mancher zeitgenössischer Architektur nach? Worüber liesse sich grübeln angesichts der Stadt von heute, die wir durch Bauten für den Konsum und den Transport banalisiert haben? Zusammen mit seinen Studenten an der Harvard University hat sich Koolhaas mit der Unwirtlichkeit unserer Städte auseinandergesetzt und ein Buch herausgegeben, in dem er das Phänomen Shopping als den unser heutiges urbanes Leben am stärksten bestimmenden Faktor beschreibt. Der zentrale Begriff in dem Buch heisst «Junkspace». Mit ihm umschreibt Koolhaas den architektonischen Raum, der für das Shoppen überall errichtet wird: nicht nur in Einkaufszentren, sondern auch in Flughäfen, Krankenhäusern und Museen. Am besten kann man sich diesen Raum anhand eines Bildes vorstellen, das den 45 Beiträgen vorangestellt ist. Verglichen werden Geschäftszonen in New York, Nagoya und Tokio. Dabei handelt es sich immer um dieselbe graue Einheitsarchitektur: Innenräume mit niedrigen, abgehängten Decken und kaltem Neonlicht sowie möglichst stützenlose Passagen, die mit polierten Steinplatten ausgelegt sind. Die Architektur ist vorhersehbar geworden. Sie ist es deshalb, weil sie nicht einem individuellen Gestaltungswillen, sondern dem wirtschaftlichen Kalkül gehorcht. Und das will überall dasselbe: mehr Umsatz. Koolhaas' Bilanz ist niederschmetternd: «Junkspace» ist der Abfall der Modernisierung und das Ende der Aufklärung. Als Produkt der Begegnung von Rolltreppe und Klimaanlage ist «Junkspace» das Territorium niedriger Erwartungen, expansiv und unendlich: das Fegefeuer.

Koolhaas ist mit Stadtstudien wie «Delirious New York» oder «Singapore Songlines» als der grosse Bewunderer alles Modernen bekannt geworden. In seinem neuen Buch formuliert er nun erstmals seine Bedenken und tritt damit in die Tradition von Modernekritikern wie Alexander Mitscherlich, Colin Rowe oder Fred Koetter. Mit ihm liefert er eine beissende Zeitkritik ab, die uns alle vor die Frage stellt, ob wir wirklich nichts Besseres mit unseren Städten vorhaben, als in ihnen dem Shopping zu frönen. Nicht nur ein Buch über Architektur ist das, auch nicht nur eines über die Stadt, sondern in seinem Kern eines über unser Leben, das wir in den Städten und Vorstädten führen. Es ist eine soziologische Beobachtung unserer marktwirtschaftlichen Konditionierung, eine Studie zur «condition humaine» am Anfang des 21. Jahrhunderts, eine bedingungslose Analyse des Heute. Etwas, worüber nachzudenken sich lohnt.


[The Harvard Design School Guide to Shopping. Hrsg. Rem Koolhaas. Taschen-Verlag, Köln 2001. 800 S., Fr. 90.-.]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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