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Herausschälen von Grundprinzipien
Junge Schweizer Architekten - zum Schaffen von Christian Kerez
3. Mai 2002 - J. Christoph Bürkle
Ebenso ungewöhnlich wie seine Laufbahn ist seine Architektur: Nach dem ETH-Studium bei Fabio Reinhard - aus dessen eigenwilliger Kaderschmiede viele erfolgreiche junge Schweizer Architekten stammen - bildete sich der 1962 geborene Christian Kerez zunächst autodidaktisch zum Architekturphotographen weiter. «Der Photograph ist der Komplize des Architekten», meint Kerez. Daneben sieht er in der Architekturphotographie eine der besten Möglichkeiten, sich auf der Ebene des Bildhaften mit Architektur auseinanderzusetzen. Von ihm stammt denn auch ein in Fachkreisen vielbeachtetes Buch über Kraftwerke des Kantons Graubünden. Nach mehreren Jahren als Photograph wandte sich Kerez 1992 wieder der Architektur zu und arbeitete bei Rudolf Fontana in Domat-Ems. Dort entwarf er sein erstes kleines Gebäude, die Kapelle bei Oberrealta, mit der er seine programmatische Entwurfsauffassung veranschaulichte.
Reduktion auf das Grundsätzliche
Die auf dem Scheitelpunkt eines Hochplateaus gelegene Kapelle erinnert mit ihren vier quadratischen Wänden und dem schrägen Dach an ein Gotteshaus und ist zugleich eine Art Urhütte. Schnell wird jedoch klar, dass dem Bau traditionelle Merkmale fehlen: Er hat keine Tür, dafür eine türgleiche Öffnung, er hat keine Fenster, aber einen metaphorischen Lichtschlitz, er hat kein richtiges Dach, weil er aus einem einzigen Betonblock besteht und somit weniger ein Haus als vielmehr die Skulptur eines Hauses ist.
Nachdem Kerez 1993 in Zürich ein eigenes Büro eröffnet hatte, entwarf er zusammen mit Meinrad Morger und Heinrich Degelo das Kunstmuseum Liechtenstein, das Ende 2000 eröffnet werden konnte (NZZ 11. 11. 00). Dieser Bau zeigt das Bestreben, den architektonischen Gehalt eines Gebäudes auf ein grundsätzliches Thema zu reduzieren und auf elementare Art die Definition des Raumes herauszuarbeiten. Das Museum präsentiert sich als erratischer Block, dessen dunkle Haut kaum etwas von seinem Inneren freigibt. Bis auf das Äusserste reduziert, sorgt das Gebäude für Irritation, aber auch für Identität und vielschichtige Konnotationen. Keine Applikation und keine Fuge lenkt vom Wesentlichen ab. Die raffinierte Materialisierung nobilitiert den Bau zu einem Kunstschrein. Vielschichtigkeit, verbunden mit inhaltlicher Mehrfachcodierung, die jedoch immer auf den Kern des Gedankens und damit zum Gebäude selbst zurückführt, macht seither die Eindringlichkeit von Kerez' Architektur aus.
Zurzeit arbeitet Christian Kerez an zwei Projekten: einem Mehrfamilienhaus am Zürichberg und einem dreigeschossigen Schulhausneubau in Eschenbach im Kanton St. Gallen. Bei diesem sind die Schulzimmer nicht an einem Flur aufgereiht und über die Geschosse gleich verteilt, vielmehr versuchte Kerez eine volumenhafte Gesamtgestaltung zu erreichen und dennoch kostengerecht zu bauen. Die drei Geschosse sind durch zwei durchgehende Treppenhäuser verbunden. Sie vereinen die drei Pausenhallen zu einem Gesamtraum und bilden zugleich die Tragstruktur der Geschossplatten. Die Pausenhallen werden von Fensterbändern belichtet, die zugleich Raumabschluss der angrenzenden Schulzimmer sind. Alle Raumschichten werden horizontal und vertikal miteinander verbunden und erzeugen so ungewöhnliche Beziehungen und Wahrnehmungen der Volumen. Da die Fassadenstützen aussteifend wirken müssen, sind sie schräg gestellt, umspannen das Schulhaus wie ein gestelztes Gitternetz und geben dem Gebäude auch optisch Halt.
Das Bearbeiten grundsätzlicher architektonischer Themen interessiert Kerez ebenso wie die elementaren Strukturen der Architektur, denen er sich in langen Arbeitsprozessen durch immer neue Modellstudien annähert. So hat die Schule in Eschenbach anders als die meisten Schulhäuser keinen repetitiven Grundriss. Vielmehr ist das Gebäude als skulpturale Einheit gedacht. Es erzielt diese Körperlichkeit aber nicht - wie heute oftmals zu sehen - durch schnell zur Beliebigkeit erstarrte Gleichförmigkeit. Für Kerez ist der Entwurf ein Prozess der Freilegung, des Herausschälens architektonischer Grundprinzipien, die bei den differenzierten Funktionszuweisungen gegenwärtiger Architektur kaum noch erkennbar sind. Dadurch wirken seine Projekte oftmals wie Prototypen, die allerdings nicht nach der Entstehung weiter verfeinert werden. Vielmehr steht der Prototyp am Ende eines immer weiter reduzierten und auf das Elementare zurückgeführten Grundgedankens. Dabei grenzt sich Kerez heute klar vom Schweizer Minimalismus ab: Ihn interessiert nicht die formale Reduktion, sondern die Reduktion auf ein grundsätzliches Thema des Entwurfs. Das klingt kompliziert, führt aber immer zu Entwürfen von einer einfachen und selbstverständlichen Vielschichtigkeit.
Durchblicke und Bezüge
Nach solcher Komplexität strebte Kerez auch bei dem Entwurf seines Zürcher Mehrfamilienhauses, das zurzeit realisiert wird. Mit durchgängig aufgeglasten Wänden und horizontalen Geschossscheiben scheint es Grundthemen der klassischen Moderne aufzunehmen und weiterzuentwickeln. Die Räume der Wohnungen sind nicht durch Wände begrenzt. Vielmehr gliedern Raumscheiben, die zugleich die Tragstruktur des Hauses bilden, den fliessenden Grundriss. Dadurch entstehen überraschende Durchblicke und Bezüge, die der Nutzer als räumliches Kontinuum erlebt und die sich zugleich aus der statischen Logik des Hauses erklären. Es entstehen weite Räume, die sich in den Glasfenstern auflösen und so das Wohnen um eine Dimension erweitern. Bleibt nur zu hoffen, dass die künftigen Bewohner dem Konzept folgen. Dazu meint Kerez lakonisch: «Es gibt kein Abenteuer mit einem sicheren Ausgang.»
[Christian Kerez stellt im Rahmen eines Vortrags seine Arbeiten am 15. Mai um 18.30 Uhr im Architekturforum Zürich vor.]
Reduktion auf das Grundsätzliche
Die auf dem Scheitelpunkt eines Hochplateaus gelegene Kapelle erinnert mit ihren vier quadratischen Wänden und dem schrägen Dach an ein Gotteshaus und ist zugleich eine Art Urhütte. Schnell wird jedoch klar, dass dem Bau traditionelle Merkmale fehlen: Er hat keine Tür, dafür eine türgleiche Öffnung, er hat keine Fenster, aber einen metaphorischen Lichtschlitz, er hat kein richtiges Dach, weil er aus einem einzigen Betonblock besteht und somit weniger ein Haus als vielmehr die Skulptur eines Hauses ist.
Nachdem Kerez 1993 in Zürich ein eigenes Büro eröffnet hatte, entwarf er zusammen mit Meinrad Morger und Heinrich Degelo das Kunstmuseum Liechtenstein, das Ende 2000 eröffnet werden konnte (NZZ 11. 11. 00). Dieser Bau zeigt das Bestreben, den architektonischen Gehalt eines Gebäudes auf ein grundsätzliches Thema zu reduzieren und auf elementare Art die Definition des Raumes herauszuarbeiten. Das Museum präsentiert sich als erratischer Block, dessen dunkle Haut kaum etwas von seinem Inneren freigibt. Bis auf das Äusserste reduziert, sorgt das Gebäude für Irritation, aber auch für Identität und vielschichtige Konnotationen. Keine Applikation und keine Fuge lenkt vom Wesentlichen ab. Die raffinierte Materialisierung nobilitiert den Bau zu einem Kunstschrein. Vielschichtigkeit, verbunden mit inhaltlicher Mehrfachcodierung, die jedoch immer auf den Kern des Gedankens und damit zum Gebäude selbst zurückführt, macht seither die Eindringlichkeit von Kerez' Architektur aus.
Zurzeit arbeitet Christian Kerez an zwei Projekten: einem Mehrfamilienhaus am Zürichberg und einem dreigeschossigen Schulhausneubau in Eschenbach im Kanton St. Gallen. Bei diesem sind die Schulzimmer nicht an einem Flur aufgereiht und über die Geschosse gleich verteilt, vielmehr versuchte Kerez eine volumenhafte Gesamtgestaltung zu erreichen und dennoch kostengerecht zu bauen. Die drei Geschosse sind durch zwei durchgehende Treppenhäuser verbunden. Sie vereinen die drei Pausenhallen zu einem Gesamtraum und bilden zugleich die Tragstruktur der Geschossplatten. Die Pausenhallen werden von Fensterbändern belichtet, die zugleich Raumabschluss der angrenzenden Schulzimmer sind. Alle Raumschichten werden horizontal und vertikal miteinander verbunden und erzeugen so ungewöhnliche Beziehungen und Wahrnehmungen der Volumen. Da die Fassadenstützen aussteifend wirken müssen, sind sie schräg gestellt, umspannen das Schulhaus wie ein gestelztes Gitternetz und geben dem Gebäude auch optisch Halt.
Das Bearbeiten grundsätzlicher architektonischer Themen interessiert Kerez ebenso wie die elementaren Strukturen der Architektur, denen er sich in langen Arbeitsprozessen durch immer neue Modellstudien annähert. So hat die Schule in Eschenbach anders als die meisten Schulhäuser keinen repetitiven Grundriss. Vielmehr ist das Gebäude als skulpturale Einheit gedacht. Es erzielt diese Körperlichkeit aber nicht - wie heute oftmals zu sehen - durch schnell zur Beliebigkeit erstarrte Gleichförmigkeit. Für Kerez ist der Entwurf ein Prozess der Freilegung, des Herausschälens architektonischer Grundprinzipien, die bei den differenzierten Funktionszuweisungen gegenwärtiger Architektur kaum noch erkennbar sind. Dadurch wirken seine Projekte oftmals wie Prototypen, die allerdings nicht nach der Entstehung weiter verfeinert werden. Vielmehr steht der Prototyp am Ende eines immer weiter reduzierten und auf das Elementare zurückgeführten Grundgedankens. Dabei grenzt sich Kerez heute klar vom Schweizer Minimalismus ab: Ihn interessiert nicht die formale Reduktion, sondern die Reduktion auf ein grundsätzliches Thema des Entwurfs. Das klingt kompliziert, führt aber immer zu Entwürfen von einer einfachen und selbstverständlichen Vielschichtigkeit.
Durchblicke und Bezüge
Nach solcher Komplexität strebte Kerez auch bei dem Entwurf seines Zürcher Mehrfamilienhauses, das zurzeit realisiert wird. Mit durchgängig aufgeglasten Wänden und horizontalen Geschossscheiben scheint es Grundthemen der klassischen Moderne aufzunehmen und weiterzuentwickeln. Die Räume der Wohnungen sind nicht durch Wände begrenzt. Vielmehr gliedern Raumscheiben, die zugleich die Tragstruktur des Hauses bilden, den fliessenden Grundriss. Dadurch entstehen überraschende Durchblicke und Bezüge, die der Nutzer als räumliches Kontinuum erlebt und die sich zugleich aus der statischen Logik des Hauses erklären. Es entstehen weite Räume, die sich in den Glasfenstern auflösen und so das Wohnen um eine Dimension erweitern. Bleibt nur zu hoffen, dass die künftigen Bewohner dem Konzept folgen. Dazu meint Kerez lakonisch: «Es gibt kein Abenteuer mit einem sicheren Ausgang.»
[Christian Kerez stellt im Rahmen eines Vortrags seine Arbeiten am 15. Mai um 18.30 Uhr im Architekturforum Zürich vor.]
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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