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Eine Stadt gewinnt Land
Neue Zürcher Zeitung

Neue Architektur im Amsterdamer Inselstadtteil IJburg

Im Osten Amsterdams wird derzeit im IJmeer der neue Stadtteil IJburg mit Wohn- und Arbeitsraum für 45 000 Menschen angelegt. Von den sieben künstlichen Inseln, die bis 2012 entstehen sollen, sind drei fertiggestellt. Die ersten Bauten lassen vermuten, dass die Zeit der Experimente im niederländischen Wohnungsbau vorbei ist.

3. September 2004 - Anneke Bokern
Östlich von Amsterdam liegt eine grosse, flache Mondlandschaft im IJmeer. Sand und Wasser, soweit das Auge reicht. Eine grellweisse Brücke verbindet das Festland mit der Sandfläche. Man passiert herumliegendes Baugerät, einsame Strommasten, eine Würstchenbude. Dann tauchen die ersten Gebäude auf: eine Reihe mehrgeschossiger Neubauten, dahinter ein kleines Viertel mit Reihenhäusern. Einige hundert Meter weiter geht der Sand wieder ins Wasser über. Kaum zu glauben, dass diese Mondlandschaft einmal ein neues Stadtviertel von Amsterdam mit 18 000 Wohnungen auf sieben Inseln werden soll. Kaum zu glauben aber auch, dass es an dieser Stelle noch vor fünf Jahren gar kein Land gab. Doch mit der Anlage der ersten Inseln von IJburg wurde erst Ende 1999 begonnen. Mit dem Haven-, Riet- und Steigereiland sind drei der geplanten sieben Eilande inzwischen fertig. Im Gegensatz zu den meisten Landgewinnungsprojekten in Holland wird IJburg nicht eingepoldert, sondern aufgespült: Aus dem IJsselmeer wird Sand abgesaugt und im IJmeer aufgeschichtet. Nach etwa einem Jahr ist das Neuland so weit gesackt und gefestigt, dass es Häuser tragen kann. Dass diese Methode der Landgewinnung nicht ganz billig ist, versteht sich von selbst. Aber Amsterdam hat keine Wahl, denn die Stadt plagt ein akutes Platzproblem. Während die Einwohnerzahl stetig wächst, gibt es im Umland kaum noch Raum für Stadterweiterungen. Also musste man auf eine Massnahme zurückgreifen, die in den Niederlanden Tradition hat: Wenn es kein geeignetes Bauland gibt, macht man sich selber welches.

Abwechslungsreicher Archipel

Die Idee zur Anlage eines Inselstadtteils an diesem Ort geht bis ins Jahr 1965 zurück. Damals entwickelte das Architekturbüro Van den Broek en Bakema einen Plan für eine modernistische Archipelstadt, in der nicht weniger als 350 000 Menschen wassernah wohnen und arbeiten sollten. Die Gemeinde optierte indes für den Bau der Pendlerstädte Almere und Purmerend sowie des Hochhausviertels Bijlmermeer. Die Monofunktionalität dieser neuen Siedlungen hat sich jedoch im Laufe der Zeit als problematisch erwiesen, weshalb man sich bei der Planung von IJburg wieder mehr an der funktionalen Durchmischung orientiert hat. IJburg soll urban und abwechslungsreich werden. Jede Insel erhält einen eigenen Charakter, vom städtischen Haveneiland über die luxuriösen Rieteilanden bis hin zum eigenwilligen Steigereiland mit seinen Hausbootanlegern. Um den Archipel an das Stadtzentrum anzubinden, wurde eigens eine Strassenbahnlinie angelegt.
Allerdings hat bisher noch niemand eine Strassenbahn am Horizont gesichtet, und von der künftigen Betriebsamkeit ist auch noch nicht viel zu spüren. Der Bau der ersten Wohnungen verläuft schleppend, da die Wirtschaftslage sich verschlechtert hat und der Wohnungsmarkt seit einiger Zeit stagniert. Als erste Gebäude wurden die Brücke von Richard Grimshaw und eine Telefonzentrale mit Lichtfassade des Ateliers Zeinstra van der Pol fertiggestellt, die jahrelang einsam in den Nachthimmel blinkte. Allmählich beginnen sich aber Rohbauten um die Telefonzentrale auf dem Haveneiland zu scharen. Die Insel erhält eine dichte Blockrandbebauung, die mit einem variationsreichen Strassenbild einhergehen soll. Deshalb werden die Baublöcke jeweils von einem Architekten koordinierend geplant, der sich jedoch den Entwurf der einzelnen Gebäude mit mindestens drei anderen Büros teilen muss. Unter den beteiligten Architekten sind etablierte Büros wie Kees Christiaanse Architects, Claus en Kaan oder De Architekten Cie, aber auch jüngere Teams wie VMX oder Arons en Gelauff.

Konjunktur contra Innovation

Die bisher realisierten Blöcke an der IJburglaan, der künftigen Hauptstrasse, machen bereits deutlich, dass IJburg wohl kein Laboratorium für innovative Architektur ähnlich den östlichen Hafeninseln in Amsterdam wird. Zwar hat Block 4 von Maccreanor Lavington kürzlich einen der begehrten RIBA-Awards erhalten, aber im Vergleich zu den radikalen Patiohäusern, die vor fünf Jahren nach einem Masterplan von West 8 auf Borneo-Sporenburg entstanden, sehen die mehrgeschossigen Backsteinbauten ziemlich blass aus. Wenn die Konjunktur schwächelt, bestimmt eben auch in Holland kostengünstige und konsensfähige Architektur den Markt. Hinzu kommt, dass ein Aufsichtsteam aus konservativen Architekten und Stadtplanern über die Ästhetik der Entwürfe wacht und manch eine Idee im Keim erstickt.

Auch die Reihenhäuser auf dem Grossen Rieteiland haben wenig Neues zu bieten. Einzig das Kleine Rieteiland verspricht spannend zu werden, denn es besteht grösstenteils aus freien Grundstücken, die der Käufer mit einem Haus nach seinem Geschmack bebauen darf - in Holland noch immer eine revolutionäre Idee. Die Bauherren müssen sich lediglich an den städtebaulichen Rahmenplan halten, den das Amsterdamer Büro Bosch Architecten entwickelt hat und der eine Bebauung mit „Reihenvillen“ mit Skyboxes vorsieht. Auf vier Parzellen haben Bosch ihre Vorgaben zu beispielhaften Villen ausgearbeitet und damit die bisher schönsten und typologisch interessantesten Bauten auf IJburg geschaffen. Äusserlich suburbane Villen, haben die schwarz glitzernden Bauten innen Loftcharakter und inszenieren dank einem Wechselspiel introvertierter und extrovertierter Räume den Dialog mit der wasserreichen Umgebung. Es bleibt zu hoffen, dass in Zukunft noch mehr solche architektonischen Perlen im Sand von IJburg zu finden sein werden. Nächstes Jahr beginnt das Aufspülen der vierten Insel, des Centrumeilands. Dort, wo einmal eine Brücke das Haveneiland mit dem Centrumeiland verbinden soll, liegt der schönste Ort von IJburg: ein temporärer Strand mit Restaurant und Blick übers IJsselmeer. Hinter dem Zaun, der das Areal umgibt, weist ein Schild den Besucher darauf hin, auf welch unsicherem Grund er sich befindet: Vorsicht, Treibsand!

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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