nextroom.at

Profil

Studium der Architektur an der ETH; Baupraxis. 1977-85 Assistent bei Prof. A.M.Vogt und Doktorat in Architekturgeschichte an der ETH Zürich. Lebte seit 1985 in Wien und arbeitete auf dem Gebiet der Architektur als Entwerfer, Historiker, Kritiker, Kurator und Austellungsmacher.

Seit 1989 gemeinsames Atelier mit Architekt Walter Hans Michl in Wien: Möbeldesign, Bau- und Wettbewerbsprojekte, Wettbewerbsorganisationen, Juryteilnahmen, städtebauliche Konzepte.

Bauten: Stadthaus in Wien-Neubau, Kirchenzentrum St.Benedikt in Wien-Simmering. Konzept und wissenschaftliche Leitung für die Steirische Landesausstellung 1995, „Holzzeit“ und Initiierung der „Murauer Werkstätten“ (mit Franziska Ullmann, Wien).

Buchpublikationen u.a. über Adolf Krischanitz, Gustav Peichl, Boris Podrecca. Regelmäßige Architekturkritik im Spectrum (Die Presse, Wien) sowie Beiträge in Fachzeitschriften und Ausstellungskatalogen.

Bauwerke

Artikel

2. März 1996 Spectrum

Rot-Weiß-Rot in größter Eile

In Neuhofen an der Ybbs ist für die Milleniumsfeier innerhalb kürzester Zeit Ernst Beneders „Ostarrichi-Kulturhof“ errichtet worden. Nach dem Ende der Ausstellung „Menschen, Mythen, Meilensteine“ wird er der Gemeinde in vielfältiger Weise dienen.

An der Grenzlinie zwischen flachwelligem Alpenvorland und snowboardtauglichen Voralpenhängen liegt das Dorf Neuhofen im niederösterreichischen Mostviertel. Man erinnert sich bei der Anfahrt an das Jahreszeitenbild von Pieter Breughel, weil sich die unbelaubten Kronen der Obstbäume von den verschneiten, im Sommer landwirtschaftlich genutzten Fluren abheben. Der Flecken hat sich einen intakten Siedlungsrand bewahrt und die Ausbreitung der Einfamilienhäuser auf einen Talausgang im Südosten beschränkt.

Wie ein aufmerksames Muttertier wacht der hohe Bau einer gotischen Hallenkirche über das Dorfzentrum, dessen breitgelagerte Gasthöfe Übernachtungsstation auf der Pilgerstraße zum nahen Sonntagsberg waren. Räumlich sind sie als Vierkanter oder zumindest als Dreikanter organisiert. Der nahe Pfarrhof, in dem sich die Reste eines „festen Hauses“ verbergen - er wurde vor nicht allzu vielen Jahren um den Wirtschaftsteil reduziert und bildet jetzt einen zum Dorf offenen Winkel -, überragt gemeinsam mit der Kirche auf steil geböschter Terrasse eine vom Elzbach durchflossene Geländemulde. Südlich davon beginnen die Berge. Zwischen Pfarrhof, Gasthöfen und der vom Turm dominierten Westfront der etwas abgerückten Kirche war ein weiträumiger Bereich offengeblieben; seine Westseite wurde von dem 1980 erstellten, an ländliche Wirtschaftsgebäude gemahnenden Bauwerk der Ostarrichi-Gedenkstätte eingenommen.

Wir haben mit Neuhofen ein schmuckes Dorf vor uns, das - außer einem kleinen, leicht übermöblierten Platz mit einer besenartig zurechtgestutzten Linde - mit der angerartigen Weite der Ostarrichi-Gedenkstätte in zentraler Lage über einen großzügigen öffentlichen Bereich verfügt. Hier sollte für die 1000-Jahr-Feier der schriftlichen Erstnennung von „Ostarrichi“ eine aktualisierte Gedenkstätte und zugleich ein Mehrzweckgebäude mit Ausstellungs-, Seminar-, Club- und Tourismusräumen sowie einem Festsaal für die Gemeinde entstehen. Nach einer mißglückten ersten Planung wurde in höchster Eile ein Gutachten ausgeschrieben, das Architekt Ernst Beneder gewann. Unter enormem Zeitdruck folgten Ausführungsplanung und Baubeginn, sodaß der neue „Ostarrichi-Kulturhof“ für den zur Zeit stattfindenden Einbau der Länderausstellung „Menschen, Mythen, Meilensteine“ zeitgerecht bereitstand.

Das Konzept, das Ernst Beneder zusammen mit seiner Mitarbeiterin Anja Fischer ausgearbeitet hat, verstärkte die räumliche Wirkung des bestehenden Gedenkstättengebäudes durch einen flach quadrischen Obergeschoßaufbau, der zu Pfarrhof und Gasthöfen in räumliche Beziehung tritt und auch zur Kirche ein polares Spannungsverhältnis eingeht. Die übrige erforderliche Kubatur legte Beneder als winkelförmigen Bau unter das Terrain; zugleich schuf er einen abgesenkten Hof, der sich U- förmig nach Süden öffnet. Typologisch verwendet er dieselben volumetrischen Grundformen, wie sie in der unmittelbaren Nachbarschaft vorkommen: gedrungener Solitär, Winkelbau und Hof; die architektonische Ausformulierung als transparenter Skelettbau ist jedoch zeitgenössisch. Mit der Tieflegung bewahrt er die Weiträumigkeit der vorherigen Situation, und der abgesenkte Hof zentriert den öffentlichen Bereich in nutzungsmäßiger Hinsicht. Ein leichter Stahlsteg überspannt die offene Hofseite und durchstößt das selbständige Element einer riesigen, halbtransparenten Fläche in Rotweißrot. Dieses symbolhafte Superzeichen aus farbigen Netzen, die auf Rahmen gespannt sind, verengt die offene Ecke zwischen Kulturhof und Pfarrhofmauer. Es trennt räumlich und ist für Blicke zugleich schleierartig durchlässig, je nachdem, wie das Licht darauf fällt.

Mit den gesetzten Maßnahmen gelingt es, dem attraktiven Dorfzentrum ein weiteres Element dazuzugesellen, das strukturell und räumlich vielfältig mit der Nachbarschaft in Beziehung steht, ohne die Besonderheit der räumlichen Weite aufzugeben. Obwohl keine geschlossene Bebauung vorliegt, treten die größeren Baukörper zueinander in Beziehung, es kommt zu einer Verdichtung, die die Mitte offenläßt. Architektonisch gesehen nützt der Hauptbau den alten Mauerwerkskörper als Sockel für das mit einem Oberlichtband optisch ins Schweben versetzte Obergeschoß. Es wirkt bei heruntergelassenen Lamellenstores ebenfalls verschleiert und ist doch einsehbar, da die Wände dahinter mehrheitlich verglast sind. Prinzipiell ist das Bauwerk in mehrere vertikale Schichten geteilt - als erste schließt hinter der symbolhaften Fahne eine langgezogene Rampe an, die in das Foyer übergeht. Durch das Netz der Fahne entsteht eine subtile Blickbeziehung zum abgesenkten Hof und darüber hinweg zur Kirche.

Vom anschließenden Festsaal trennt eine raumhältige hölzerne Wand mit technischen Installationen und Stauraum. Sie steht strukturell in Beziehung mit dem erforderlichen Brandabschluß zum Stiegenhaus. Beneder wählte hier Teleskop-Hubtore, damit die räumliche Offenheit bei Normalbetrieb gewahrt bleibt. Die schwarz gestrichenen Tore sind unübersehbar, bilden aber keine Störung, sondern sind in ihrer architektonischen Wirkung integriert. Das luftige Stahlbetonskelett des Tragsystems setzt sich ins Obergeschoß fort, wo Büros und Seminarräume vorgesehen sind. Der Grundriß erlaubt auch hier eine optimale Flexibilität. Nach Südosten ist eine Terrasse vorgelagert, die mit den Lamellenstores in einen blickgeschützten Arbeitsraum unter freiem Himmel verwandelt werden kann und damit in den schwebenden Quader integriert ist.

Der im Untergeschoß über das Gelenk des Stiegenhauses anschließende Winkelbau ist für eine Dauerausstellung zur Regionalgeschichte vorgesehen. Er wird außenseitig von der Erde berührt, während die Hofseiten vollverglast sind. Als zusätzliche Lichtquelle wurde im rückseitigen Bereich ein Oberlichtstreifen über die Länge beider im rechten Winkel zueinander stehender Trakte durchgezogen. Ein gedrücktes Glasbausteingewölbe deckt ihn ab, sodaß er von oben als Grenzziehung streifenartig hervortritt. Das flache Dach des Winkelbaus ist begrünt und begehbar.

Die beiden Flanken des langen, abgewinkelten Innenraumes erhalten Tageslicht unterschiedlicher Qualität: Vorn fällt es, klare Schatten werfend, direkt ein, hinten sickert es als Streulicht durch die Glasbausteine, tropft auf die glatte Rückwand aus schön gearbeitetem Sichtbeton und wird von dieser als feiner Sprühregen in den Raum reflektiert. Die Raumzone, in der dieses Eindringen des Lichts stattfindet, ist durch eine Reihe schlanker Stützen, die eine Durchgangsbreite vor der Rückwand stehen, andeutungsweise abgetrennt. Der scharfkantige quadratische Querschnitt läßt die Stützen im Licht plastischer hervortreten. Zugleich bindet die Geometrie vertikale und horizontale Elemente stärker zusammen.

Dieser Gebäudeteil wirkt, wie für Ausstellungszwecke dienlich, neutraler und ruhiger. Weil auch der Hauptbau für die Länderausstellung 1996 vorgesehen ist, fehlen die definitiven Einbauten, damit möglichst wenig präjudiziert ist. Die Rundumverglasung und die architektonisch ausgekosteten Erschließungswege machen ihn aber zu einem öffentlichen Gebäude, das durch die klimatische Glashülle und die schleierartigen Filter der Fahnenwand und der Lamellenstores differenziert abgrenzbar ist. Besonders am Abend kommt hier die Lichtregie Beneders stark zur Geltung.

In der enorm kurzen Planungs- und Ausführungszeit hat Ernst Beneder architektonisch und organisatorisch Außerordentliches geleistet, er war oft tagelang auf der Baustelle anwesend und hat, was bei Zeitdruck selten ist, den Rahmen von 28,8 Millionen Schilling Gesamtbaukosten (inklusive Umsatzsteuer) gehalten.

Dennoch sei den Politikern ins Stammbuch geschrieben, daß es verfehlt wäre zu glauben, Zeitdruck sei gut für die Architektur; auch qualifizierte Fachleute wie Ernst Beneder können nicht pausenlos Wunder vollbringen.

10. Februar 1996 Spectrum

Blinde Flecken im Gewühl...

In der Masse des Gebauten finden sich da und dort blinde Flächen, die der Gestaltungswille glücklich verschont hat: die freistehenden Feuermauern. Auf ihnen kann der Blick zur Ruhe kommen.

Manchmal wird den Augen das chaotische Gewühl der Zeichen und Signale im Dickicht der großen Städte zuviel. Der Blick ist, mit Rilke gesprochen, „so müd geworden, daß er nichts mehr hält“. Zur Erholung nehmen unsere Augen dankbar jene Bilder auf, die absolut unbedeutend sind, die nicht entziffert und interpretiert werden wollen und weder flüsternd noc schreiend nach Bedeutung heischen, weil dahinter nicht die leiseste formale Absicht steht. Wenn der Blick auf derartige „leere“ Zeichen oder ganze Flächen fällt, können die Augen sich absichtslos darauf richten, sich vom Denken des Gehirns loslösen und mit offenen Lidern nur mehr als optisches Organ wirken, ohne die Information verarbeitend weitergeben zu müssen. Nach einigen Augenblicken der Ruhe und Entspannung gleitet man dann wieder zurück in den normalen Wahrnehmungsprozeß der übrigen Umwel.

Mag sein, daß sich die Augen mit einem derartigen „Nulldurchgang“ gleichsam entleeren oder daß verbliebene Nachbedeutungen gelöscht werden. Zugleich scheinen sie sich in einer Art Eichung rückzuversichern, um sich danach im relativen Bezugssystem vielfältiger Zeichen und Zeichenkombinationen wieder gewissenhaft der Bilderübermittlung zu widmen. Wesentlich scheint mir jedenfalls, daß die Augen dabei vor der Welt nicht geschlossen werden. Denn es ist nicht das Sehen, das ausgeschaltet wird; der Verzicht betrifft den Interpretations- und Beurteilungszwang. Der Blick zum Himmel mit seinen Wolken oder auf einen nahen Wald, auf das spiegelnde oder gekräuselte Wasser eines Sees, auf einen dahinströmenden Fluß und selbst über ein breites Feld von Geleisen kommt diesem Bedürfnis nach visueller Entspannung entgegen.

Vergleichbar damit sind in der Stadt jene unverbauten Feuermauern, die von den Ungleichzeitigkeiten städtebaulicher Entwicklung fast in jeder Straße und in manchem Hof verblieben sind. Als Abschlußflächen eines Gebäudes sind sie an den Grundgrenzen hochgezogen worden und warten seither ohne Eile auf ein Anschlußbauwerk. Denn sie sind laut Bebauungsplan im Prinzip dazu vorgesehen, von einem ähnlich hohen Nachbargebäude mit einer ebensolchen geschlossenen Mauer verdeckt zu werden.

Das ist wohl der Hauptgrund, warumnie ein Gedanke an ihre Gestaltung verloren wurde und wird. Eigentlich ist es ein ausgesprochener Glücksfall, daß im städtischen Kontext derartige Flächen aufscheinen, die offen sichtbar bleiben, obwohl sie prinzipiell dafür vorgesehen sind, verdeckt werden. Sie bilden die blinden Flecken in der alles überwuchernden Schicht gestalteter Oberflächen, sie sind Orte der Ruhe im Aufmarsch der Eitelkeiten unterschiedlichster Qualität. Bei einer Feuermauer handelt es sich in keiner Weise um eine Ansichtsseite, wie es die Vorder- oder die Hinterfassade eines Hauses sind, sondern um eine nicht vorgesehene Ansicht.

Es fehlt ihr die Bekleidung, das, was die Mauer zur Fassade macht. Der Blick fällt direkt auf die Masse des verbauten Materials. Irgendwie bilden diese leeren Mauern eine Art Einschnittfläche in den normalen Lauf der Dinge, durch die das Auge wie durch einen leicht angehobenen Vorhang ins Zeitlose blicken kann. Dabei wird nichts bloßgelegt, kein Blick, der etwas Privates oder gar Peinliches freilegen würde, nicht der leiseste Anflug von Obszönität, wie er durch ungewollte Einblicke auch bei Bauwerken durchaus entstehen kann. Es läßt sich auch nicht sagen, eine Feuermauer sei aus anderen Gründen als wegen ihrer ureigensten Bestimmung - nämlich die seitliche Ausbreitung eines Brandes zu verhindern -, etwa aus gestalterischen Gründen, absichtsvoll geschlossen, womöglich gar, um einen bestimmten Effekt zu erzielen.

Im Gegenteil, völlig spannungslos setzt ihre Oberfläche an der vorderen Hauskante an und zieht sich nach hinten zur hofseitigen Kante. Meist sind die Feuermauern in einfacher Weise glatt verputzt, aber selbst wenn im Lauf der Jahre der Bewurf als Folge ungehinderter Witterungseinflüsse abgefallen und die nackte Ziegelmauer zum Vorschein gekommen sein sollte, ergibt sich keine andere, auch keine inhaltliche Aussage. Natürlich kommt es ab und zu vor, daß eine Feuermauer in gut exponierter Lage als Werbefläche genützt wird, aber das soll uns hier nicht irritieren. Die Tatsache, daß sich die gesamte Fläche problemlos als Werbeträger verwenden läßt, ohne die Botschaft im geringsten zu kommentieren oder inhaltlich zu beeinflussen, zeigt, wie bedeutungsleer sie vorher war.

Auch geometrische Muster, die aus der Verzweiflung des Horror vacui, der Angst vor der Leere, an ihrer Fläche aufgebracht werden, können der Bedeutungslosigkeit der Feuermauer nichts anhaben, genausowenig wie Rankgerüste oder Pflanzenbewuchs die erhabene Aussagelosigkeit behindern. Eine Feuermauer bleibt schlicht eine Feuermauer. Sie ist in ihrer Art ein Dauerbrenner, ein „permanent“ im Sinne von Kneissl/ Pirhofer.

Seit Jahrhunderten haben sich auch die sichtbar gebliebenen Feuermauern keinem Stildiktat gebeugt. Fast möchte man sagen, sie sind ewig, jedenfalls so ewig wie die Stadt, der sie dienen. Zwar kommt es immer wieder vor, daß eine offene Feuermauer verschwindet, weil ein altes, zweigeschoßiges Haus durch ein höheres ersetzt wird. Dafür wird andernorts wieder eine freigestellt, weil der erneuerte Bebauungsplan eine niedrigere oder gar keine Bebauung vorsieht. Aber auf die einzelnen Feuermauern kommt es nicht an. In ihrer Beliebigkeit und Anonymität sind sie austauschbar, in der Summe bleiben sie gleich. So sind paradoxerweise die ganz oder teilweise sichtbar bleibenden Feuermauern ein Indikator für die Lebendigkeit und die permanente Veränderung der Stadt.

Die durch Feuermauern akzentuierten feinmaßstäblichen Brüche im Stadtgefüge bezeichnet Hermann Czech als besonders typisch für die gründerzeitlichen Wiener Stadtviertel. Und bei seiner Volksschule an der Fuchsröhrenstraße hat er mit diesem Motiv den Turnsaaltrakt zum Spielfeld hin abgeschlossen, als Referenz zu benachbarten, bestehenden Feuermauern. Zugleich wollte er vermutlich diese Front, für deren Gestaltung es keinen Anlaß gab und in der keine Fenster erforderlich waren, einfach ungestaltet lassen. Ihr Anblick wirkt so beruhigend, daß kürzlich einige Schweizer Architekten auf Wiener Architekturreise, die ja bezüglich gestalterischer Absenz einiges gewöhnt sein müßten, schon nach zwei Minuten weiterwollten, weil sie nichts Gestaltetes zu erkennen vermochten, was ihrer Erwartungshaltung an die „Wiener Architektur“ entsprochen hätte.

Nicht sehr oft und nur unter bestimmten Bedingungen kommt es vor, daß von der gesetzlichen Regelung, daß in Feu-ermauern keine Öffnungen gemacht werden dürfen, eine Ausnahme bewilligt wird. So können, meist bis auf Widerruf, Fenster herausgebrochen werden. Aber wenn das niedrigere Gebäude davor beispielsweise unter Denkmalschutz steht oder das Nachbargrundstück überhaupt frei bleibt, kann es lange dauern, bis widerrufen wird.

Interessanterweise verliert auch die mit Öffnungen durchsetzte Feuermauer nur selten ihren spezifischen Charakter. Sie erscheint immer noch nicht als Fassade im herkömmlichen Sinn. Weil nämlich die Fenster, von innen her gedacht, in die Mauer geschnitten werden, sind sie nicht in eine gewollte Fassadenkomposition integriert. Der Zufall ist echt, nicht aufwendig absichtlich unabsichtlich geplant - damit bleibt die eingangs erwähnte Absenz von Gestaltung in der gesamten Erscheinung gewahrt. Die Wirkung der Ansicht einer solcherart befensterten Feuermauer liegt in der impliziten Kritik, die ihre nüchterne Funktionalität an akademistischen und neoakademistischen Fassadenkonzeptionen übt, deren Öffnungen nur im Hinblick auf äußerliche Bildwirksamkeit in die Fläche gesetzt sind, auf die räumliche und funktionelle Wirkung von innen nach außen jedoch wenig Rücksicht nehmen. Weil nun die Feuermauer, von ihrem Charakter her, primär nicht als Fassade wahrgenommen wird - meist wird sie sogar aus dem bewußten Blickfeld ausgeblendet -, sondern erst durch die nachträglich ausgebrochenen Öffnungen, quasi sekundär, zu einer solchen gemacht wird, stellt ihr Aussehen klar, daß die „gestalteten“ Fassaden an Vorder- und Rückseite wie eine Folie über die neutrale Mauer gezogen sind. Ihre Nichtgestaltung macht einen Sachverhalt sichtbar, der üblicherweise zugedeckt bleibt. Daß eine befensterte Feuermauer diese aufklärerische Wirkung entfalten kann, verdankt sie dem durchgängig architektonisch bedeutungsleeren Ausdruck, den die vielen über die Stadt verteilten unbefensterten Wände in ihrer Gesamtheit unverrückbar festlegen.

Vor diesem kompakten Hintergrund der Nicht-aussage gewinnt das unregelmäßig im Stadtbild auftauchende Phänomen der befensterten Feuermauer ein wenig Bedeutung und Gewicht. Es ist einfach erholsam, auf so eine Wand zu blicken. Keinen Anlaß zu spüren, in den Gehirnwindungen nach dem bekannten Architektennamen zu kramen, dessen Genie die gekonnten Unregelmäßigkeiten entsprungen sein könnten. Man braucht nicht zu denken oder zu interpretieren, darf aber schauen. Falls nun der Eindruck entstanden sein sollte, es handle sich bei diesen befensterten Feuermauern um den kommenden Ausdruck der Architekturavantgarde, muß ich die Erwartungen enttäuschen. Feuermauern anzuschauen ist Therapie, ist Erholung von den Produkten demonstrativen Architekturwollens. Außerdem kann man dabei lernen, unvoreingenommenen Blickes an Gebautes heranzutreten, ohne sofort wissen zu müssen: „gut“ oder „schlecht“. Feuermauern sind einfach da, ob mit Fenstern oder ohne.

20. Januar 1996 Spectrum

Vom Kitzel des Querens

Elegant wird er sich über den Wasserfall an der „Schmiedemeile“ in Ybbsitz schwingen: der Fussgängersteg von Franz Wahler - zeitgenössische Handwerkskunst, verbunden mit Ingenieurswissen.

Ein Fußgängersteg als Aufgabe der Ingenieurbaukunst bot schon immer etwas mehr gestalterische Freiheit als beispielsweise eine Straßenbrücke, weil die beweglichen Lasten relativ klein sind. Die geringe Breite eines Wanderpfads - 1,20 Meter reichen zum Kreuzen aus - erlaubt, so einen Steg als lineares Element auszubilden. Nur eine Fußspur ist über das Hindernis zu tragen.

Die leichtesten Brücken dieser Art waren und sind wohl die jährlich erneuerten Hängestege der Inkas aus mehrfach geflochtenen Graszöpfchen, die wundersamerweise noch heute regelmäßig an zwei oder drei Brükkenstellen in den Anden von der Bevölkerung des zu diesem Zweck vom Inkakönig angesiedelten nahen Dorfes unter Leitung eines „Brückenmeisters“ hergestellt werden. Im Himalajagebiet sind es vier Seile aus Ziegenhaar und darauf gelegte Steinplatten, die als Tragelemente dienen.

Wohl nur wenige Europäer würden sich auf solch luftigem Gespinst zwei Dutzend Meter weit über eine Schlucht und tief unten rauschende Wasser wagen. Nicht nur als Mutprobe, sondern als primäres räumliches Erlebnis bliebe einem so ein Übergang in Erinnerung. Damit ist ein Kernpunkt dieser Bauaufgabe angesprochen: Der Fußgängersteg erlaubt von allen Brücken das intensivste Wahrnehmen von Flußraum, künstlichem Weg durch die Luft, Oben und Unten, Kragen und Wagen.

Der Steg, den der deutsche Fachwerkpionier Heinrich Gerber (1832 bis 1912) bei Neuschwanstein als Teil einer Aussichtspromenade über eine Schlucht gespannt hat, ist ein frühes Meisterstück der modernen Ingenieurbaukunst. Nach der Mutter des späteren Ludwig II. Marienbrücke genannt, erlaubt sie bis heute einen herrlichen Blick auf das vom Bayernkönig ein paar Jahre später auf den Grundmauern einer Ruine erbaute Märchenschloß. So ist dieser Steg ein bewußt eingesetztes Element zur Inszenierung der Landschaft.

Stege dieser Art gibt es einige im Alpenraum, oft weit hinten in einem Tal verborgen, sodaß sie nur den Einheimischen und ein paar Bergwanderern bekannt sind. Doch wer sie begangen hat, erinnert sich an das Erlebnis des Querens, vielleicht auch des Kitzels, weil das Bauwerk unter den Tritten der Wandergruppe vibriert. Und wenn sich ein Ausblick bietet, wird auch dieser gespeichert. Die mehrfache Bedeutung verfestigt das Erinnern.

Diese kulturgeschichtlichen Wurzeln prägen, bewußt und unbewußt, ein Brückenprojekt an der „Schmiedemeile“ bei Ybbsitz, einem Abschnitt des niederösterreichischen Astes der Eisenstraße. Das Bauwerk wird von der lokalen Bevölkerung getragen und profitiert vom modernen Ingenieurwesen durch den erfahrenen Konstrukteur und Bauingenieur Oskar Graf aus Wien, der am Anfang hilfreiche Ratschläge gab. Die Vorstatik rechnete der Ybbsitzer Diplomingenieur Wilhelm Junker.

Die Initiative ergriffen hatte der junge Ybbsitzer Schlossermeister Franz Wahler, der aus berufsgeschichtlichem Interesse die Reste der ehemaligen Jubiläumsschleife erwarb, die „in der Noth“ an einer Folge von Wasserfällen bis nach dem Ersten Weltkrieg in Betrieb gestanden hatte. Die naturlandschaftlich attraktive Lage mit eingefügten frühindustriellen Betrieben, deren Reste bedeutungsschwer ins schnell wachsende Grün zurücksinken, all das ergibt einen außergewöhnlichen Ort.

Zusammen mit dem jungen Architekten Robert Schwan, der im Sommer 1995 beim Tauchen tödlich verunfallte, entwickelte Franz Wahler den Steg. Dieser schwingt sich von jenem Punkt in die Höhe, von dem aus der Wanderer den Wasserfall erstmals von nahe zu Gesicht bekommt. Eine luftige Treppe steigt zwischen zwei V-förmig auseinanderstrebenden, zum Bogen sich krümmenden Fachwerkträgern zum Scheitelpunkt hinauf, wo der Gehweg ein Stück weit flacher verläuft, um dann mit wenigen abwärts führenden Stufen wieder gewachsenen Boden zu erreichen.

Der nahezu ebene Scheitelbereich verführt zum Innehalten und Schauen. So verläuft denn die Brückenachse nicht in kürzester Richtung quer zur Klamm,sondern liegt schräg, sodaß der Raum über dem Wasserfall durchschritten werden kann und das intensivste Landschaftserlebnis möglich wird. Wem die Treppe auf der Brücke zu steil und zu filigran ist, der gelangt über einen Fußweg am festen Ufer auch ans Ziel. Dieser Steg ist in mehrfacher Hinsicht bedeutsam: im Verhältnis zur Landschaft, in seiner Filigranität, in der statisch-konstruktiven Konzeption, im Verhältnis von tragenden und dienenden Teilen und nicht zuletzt in der Tatsache, daß er als zeitgenössisches Bauwerk auch Produkt beruflichen Stolzes und des industriearchäologischen Interesses eines örtlichen Handwerksmeisters ist.

Vom gestalterischen Standpunkt ist die „doppelte“ Überhöhung des Scheitelbereichs interessant: Die Künstlichkeit des Übergangs, die wegen dessen Filigranität intensiv erlebt werden kann, verhindert nicht, daß man dennoch vollständig in der landschaftlichen Situation integriert bleibt. Zwar wird man hinaufgeführt in luftige Ausgesetztheit über dem Wasser, doch gerade zuoberst kann man den Umraum am intensivsten wirken lassen. Die kräftige Überhöhung des Scheitels gibt dem Brückenbauwerk Eigenständigkeit und Gewicht und überspielt die rein dienende Rolle; es will „höher hinaus“, aber mit welcher Eleganz!

In der Seitenansicht wird leicht erkennbar, wie wenig Material für das Tragwerk, für Gehwegplatten und Stufen sowie für das Geländer Verwendung findet: Das weitmaschige Zickzackfachwerk mit dünnstmöglichen Stäben bildet eine erste imaginäre Hülle um das feinere und engmaschigere Gespinst von Gehweg und Geländer, das den linearen Raum des Übergangs fast schleierartig unterfaßt. Wie etwas ganz Besonderes wird der Weg über dem Wasserfall gleichsam auf Fingerspitzen getragen und von Spinnwebfäden geleitet.

Das Tragwerk besteht aus dem bogenförmig geschwungenen Untergurt, einem Profilrohr von 150 mal 150 Millimetern. Von diesem aus streben die Dia-gonalen paarweise V-förmig zu den beiden Obergurten aus 80-er-Rohr. Der etwas kräftigere Untergurt mit Kastenquer-schnitt übernimmt die Torsions-beanspruchung, betont aber auch die Grundform der Bogen-brücke, während die langen Diagonalstäbe zusammen mit den Obergurten eine hohe Steifigkeit bewirken.

Im Bogenbereich werden wohl hauptsächlich Druckspannungen auftreten, die im länge-ren Schenkel des asymmetri-schen Tragwerks wechseln auf Zug im Untergurt und Druck in den beiden Obergurten. Die Spannweite ist mit 22 Metern relativ groß. Die Minimierung der Stabdimensionen konnte also nicht aus dem Handgelenk heraus erfolgen.

Wenn man die beiden wie Schmetterlingsflügel sich öffnenden Fachwerkstränge als „tragend“, die Treppe und das Geländer als „dienend“ anspricht, fällt die sorgfältige gestalterische Trennung der beiden Systeme auf: Die Stufenplatten aus Lochblech sind einerseits aufgestelzt, andererseits hängen sie an den Geländerstäben, die, dicht gereiht, fast eine Harfe abbilden. Der Handlauf wiederum wird mit einer tetraederförmigen Zwischenkonstruktion vom Obergurt und den Diagonalen auf Distanz gehalten, sodaß seine formale Eigenständigkeit gewahrt wird. Daß er außerdem vielleicht noch mithilft, den Obergurt zu versteifen, ist zumindest denkbar.

Angenehm fällt auf, wie der Übergang gleichsam unaufge-regt aus den Auflagern herauswächst. Hier wird die Kontinuität des Weges betont, der, vom feinen Stabwerk begleitet, im Fachwerk des Trägers eingebettet liegt. Dieser zwischen dienenden und tragenden Teilen liegende Maßstabssprung verleiht der Brücke über die Großform hinaus zusätzliche gestalterische Qualität.

Das Bauwerk des Schlossermeisters Franz Wahler, der einer neuen Generation handwerklicher Spezialisten anzugehören scheint, ist tatsächlich beeindruckend. Wahler nimmt nicht nur seine kulturelle Verantwortung wahr, er verfügt darüber hinaus auch über ausgezeichnete fachliche Qualifikationen und beherrscht virtuos die kreative Zusammenarbeit mit Architekt und Bauingenieur.

So wird der Steg zu einem herausragenden Ereignis an der Ybbsitzer Schmiedemeile, und er stellt die heutige Leistungsfähigkeit eines Berufsstandes unter Beweis.

Ein Detail muß am Ende freilich klargestellt werden: Die Vorlage für die Photographien und den Text bildet ein Modell im Maßstab eins zu zehn, das der Illusion eine perfekte Grundlage liefert. Der auszuführende Bau bedarf noch einiger privater Sponsoren. Die Beschaffung der notwendigen Mittel dürfte aber bei der hohen Qualität des Entwurfs wie des Modells kein unüberbrückbares Hindernis bilden.

30. Dezember 1995 Spectrum

Die Harmonie für Buxtehude

„In welchem Style sollen wir bauen?“ fragte 1828 der „Großherzogliche Badische Residenzbaumeister“ Heinrich Hübsch. Auch heute noch läßt sich über Architektur gut streiten. Ein Brief und eine Erwiderung.

Der Wiener Kulturkritiker Robert Schediwy verfaßte zu meinem Beitrag vom 9. Dezember einen Leserbrief und fragte: Wären Sie bereit, sich mit ihm auf der Architekturseite auseinanderzusetzen? Da der behandelte Gegenstand komplexer Natur und kaum abschließend beantwortbar ist, sehe ich in einem Weiterführen der Diskussion eine interessante Aufgabe.

Schediwy: Beim Streit um die Erweiterung des Kremser Bauamtes geht es nicht um eine „Neuauflage“ des „Stadt-Land-Konfliktes“, sondern offenkundig um das Aufeinanderprallen zweier ästhetischer Grundkonzeptionen der Architektur, die einander auch in London, Wien oder anderen Großstädten seit Jahrzehnten nahezu unversöhnt gegenüberstehen: Eine kleine, aktive Minderheit verficht seit Loos und Le Corbusier mit viel Verve den Bruch mit den alten Bautraditionen, wettert gegen das „Geschmückte“ und gegen harmonistische Konzepte wie Bauhöhenangleichungen und Satteldächer.

Die meisten Bürger, auch viele Kunsthistoriker, sehen dagegen genau jene „Harmonie“ als positiven Wert an und stehen Sichtbeton und Flachdächern, wie sie von den „Modernen“ seit den späten zwanziger Jahren forciert wurden, ebenso kritisch gegenüber. Das gilt für Paris mit seinen beliebten traditionellen Mansardendächern ebenso wie für Buxtehude - auch wenn der Vorwurf der „engagierten Modernen“ stets dahin geht, der eigenen Bevölkerung besondere „Provinzialität“ vorzuwerfen.

Der Stadt-Land-Konflikt basiert auf Ungleichzeitigkeiten der Entwicklung und auf Differenzen des Informationsstandes. Ihrer Behauptung, es handle sich um zwei aufeinanderprallende ästhetische Grundkonzeptionen der Architektur, kann ich nicht folgen, da ich die von Ihnen umschriebene Grundkonzeption weder in der Theorie noch in wichtigen zeitgenössischen Bauwerken zu erkennen vermag.

Hingegen sehe ich im Architekturschaffen der vergangenen zehn Jahre unterschiedlichste Strömungen: Die Bauten von Hans Hollein, Gustav Peichl, Hermann Czech, Helmut Richter, Adolf Krischanitz, Rüdiger Lainer oder Michael Loudon sind in ihren Konzepten verschieden, passen aber kaum auf das von Ihnen angedeutete „ästhetische Grundkonzept“. Die Schaffenskrise der „Traditionalisten“ darf wohl nicht den „modernen“ zeitgenössischen Architekten angelastet werden. Überhaupt scheint es mir unzulässig, daß Sie die Fachdiskussion mit der allgemeinen Geschmacksdiskussion gleichsetzen.

Eine Teilnahme an einer Fachdiskussion erfordert über die oberflächlich visuelle Erfahrung hinaus eingehendere Kenntnis der Materie. Es gibt kein angeborenes Kulturverständnis, das über alles Vergangene ein sicheres Urteil gewährleistet; vielmehr führt das Ambiente, in dem man aufwächst, zu meist unbewußten Prägungen. Diese können durch das Sammeln von Erfahrungen erkannt werden, worauf die Urteilsbildung dem Gegenstand angemessener erfolgen kann. Ihr Harmoniebegriff bedarf einer Nachfrage: Offenbar geht es Ihnen bei „Harmonie“ um selektive Auswahl vertrauter Elemente und die Ausblendung all dessen, was stören könnte. Zahlreiche zeitgenössische Architekten streben nicht weniger „Harmonie“ an, aber sie versuchen, scheinbare Störfaktoren in die Gestaltung einzubeziehen, eine Balance unter Gegensätzen zu suchen, die sich nicht an oberflächlichen Stilmerkmalen oder axialen Symmetrien orientiert.

Schediwy: Die von Ihnen vorgestellten Kremser Entwürfe repräsentieren diesen Jahrhundertkonflikt, der in der Architekturgeschichte früherer Epochen keine Parallelen findet, an Hand zweier ziemlich unbedeutender Projekte.

Ihre Behauptung, es habe früher keine Auseinandersetzungen zwischen Traditionalisten und Erneuerern gegeben, ist schlicht nicht wahr. Lesen Sie nach, mit welcher Vehemenz sich Kulturschaffende 1888 gegen den Bau des Eiffelturms wandten, versuchen Sie im Gegenzug, den Parisern heute den Turm wegzunehmen. Oder schlagen wir in Heinrich Hübschs Schrift „In welchem Style sollen wir bauen?“ (1828) nach: „Die Malerei und die Bildhauerei haben in der neueren Zeit längst die todte Nachahmung der Antike verlassen. Die Architectur allein ist noch nicht mündig geworden, sie fährt fort, den antiken Styl nachzuahmen. Ein großer Theil (der Architekten) lebt in dem Glauben, daß die schönen Formen in der Architectur etwas Absolutes seien, was für alle Zeiten unverändert bleiben könne.“ In den folgenden Jahrzehnten setzte sich der Historismus gegen den Klassizismus durch. Allerdings ist von Bedeutung, daß sich erst in diesem Jahrhundert die demokratische Gesellschaft in Europa verfestigte, sodaß die Konflikte unter anderen Bedingungen ausgetragen werden.

Schediwy: Bedauerlich erscheint, daß Sie, der unter den Beiträgern der stark „ideologisierten“ „Presse“-Architekturseite bisher eher zu den Besonneneren zählte, nun auf eine denunziatorische Schimpfterminologie setzen. Da ist - angesichts der vielfach ausgezeichneten „Denkmalschutzstadt“ Krems - von „dumpfem Beharren auf einem harmonischen Stadtbild“ die Rede. Da wird, ohne die funktionale Brauchbarkeit der konkurrierenden Projekte zu erörtern, eine „fachliche“ Überforderung des Bürgers behauptet, wo es in Wahrheit um Geschmacksfragen geht. Da liest man von „kleinkrämerischen Attacken“, „Froschperspektive“ und „Zuckerguß der Heile-Welt-Ideologie“.

Sie gehen davon aus, daß die im „Spectrum“ publizierenden Architekturkritikerinnen und -kritiker alle aus derselben „ideologischen“ Schule stammen. Den Vorwurf einer Ideologisierung weise ich zurück, da ich meine Argumentation mit fachlichen und historischen Kenntnissen begründe. Bei der Vermittlung des aktuellen Baugeschehens bleiben die Urteile vorläufig; sie werden sich erst nach 50 und mehr Jahren verfestigen, unterdessen aber womöglich auch ins Gegenteil verkehrt werden. Jeder, der sich mit der Rezeptionsgeschichte von Architektur befaßt hat, kennt diesen wechselvollen Prozeß. Sie aber glauben offenbar an ein fixes Beurteilungssystem.

Soweit „Geschmack“ als unbewußte Vorliebe für diese oder jene Richtung gilt, ist eine Diskussion vielleicht wirklich unmöglich. Sobald sich aber die Gesprächspartner der eigenen Position bewußt sind und fachlich und sprachlich differenzierend in einer Diskussion mithalten können, werden auch Fragen des „Geschmacks“ - ich würde eher sagen, der Gestaltung - diskutierbar. Daß im „Spectrum“ manchmal auch Fehdehandschuhe hingeworfen werden, macht das Schreiben und Lesen nur spannender.

Schediwy: Die asketische Ästhetik, die von Teilen der Kulturelite seit Anfang dieses Jahrhunderts vertreten wird, ist gewiß eine legitime persönliche Entscheidungsmöglichkeit und ein interessantes sozialpsychologisches Phänomen: Ebenso wie die derzeit als „Uniform der Kulturprogressiven“ abzeichenartig getragene Schwarzkleidung darf eine solche Präferenz aber nicht einfach dekretiert werden. Und so wie sehr viele Menschen eben gerne „bunt“ tragen, empfinden viele den Sichtbeton von Adolf Krischanitz' neuer Kunsthalle in Krems als „gefängnishaft“ und seinen Wiener „Kunstcontainer“ nicht unbedingt als „erfrischende Abwechslung gegenüber der historischen Pracht“ rundum. „Fachargumente“ sind für solche grundsätzliche Orientierungen irrelevant.

Von den Schlenkern der Kleidermode einmal abgesehen, ist die Frage interessant, warum viele Menschen den Beton, sobald er sichtbar angewendet wird, ablehnen, sich aber nicht daran stoßen, wenn er unsichtbar als Material für Tragwerk und Wände dient. Daß Architekten derartige Widersprüche zu thematisieren versuchen, ist eines der Merkmale zeitgenössischen Architekturschaffens, das neue Ausdrucksformen sucht, um über die heutige Wirklichkeit hinausbauend Werke zu errichten, die womöglich Denkmale von übermorgen sein werden. Wie der Gestalter die Tiefen des Materials oft in innerem Ringen auszuloten sucht, darf auch ein Betrachter nach einem ersten Eindruck sich und das Werk eindringlicher befragen.

Schediwy: Es ist tief bedauerlich, daß hierzulande derzeit fast nur die F-Bewegung die kulturpolitische Vertretung jener eher harmonisierenden ästhetischen Konzepte übernimmt, die auch die Wiener Gemeindebauten der Otto-Wagner-Schule in der Zwischenkriegszeit auszeichneten.

Die F-Gruppierung arrogiert sich so im kulturpolitischen Bereich eine Repräsentationsbreite, die ihr eigentlich nicht zukommt. Und sie verstärkt die Konfliktdynamik - indem sie für alle harmonisierenden Konzepte den „Rechtsaußenvorwurf“ provoziert. Auch Beiträge wie jener von Ihnen oder von Frau Waechter-Böhm, die einmal von „bonbonfarbener Verkremserung“ sprach, tragen aber zur Aufschaukelung der Gegensätze bei.

Auch ich sehe die Schwierigkeiten, die Kluft zu überbrücken, die sich öffnet zwischen dem langsamer sich entwickelnden breiten Verständnis von bildender Kunst oder Architektur und den verschiedenen Strömungen einer enteilenden Avantgarde. Mit dieser nicht harmonisierbaren Problematik müssen Künstler und Kritiker leben und arbeiten. Indem man sich eingehend mit neuartigen Entwicklungen oder vorerst fremden Kulturen befaßt, wächst das Verständnis.

Wer sich dem Beschreiten dieses Erkenntnisweges verweigert, kann das Fremde oder Neue nicht in sein Weltbild einbauen, wird daher auch nicht zu einer Harmonie der aktuell vorhandenen Aspekte und Erscheinungen mit der jüngeren und älteren Geschichte gelangen, sondern lebenslang nach jener prästabilisierten, in eine virtuelle Vergangenheit „vor dem Sündenfall“ projizierten „Harmonie“ suchen.

9. Dezember 1995 Spectrum

Geburtswehen der Urbanität

Um die Pläne zur Erweiterung des Kremser Bauamts ist ein Kulturkampf entbrannt: hochwertige zeitgenössische Architektur oder dumpfes Beharren auf einem „harmonischen“ Stadtbild?

Wenn die Metropole Wien ihre Rolle in der europäischen Städtekonkurrenz unter anderem mit interessanter zeitgenössischer Architektur erfolgreich zu festigen versteht, warum sollten die niederösterreichischen Städte in der landesweiten Konkurrenz da hintanstehen – das dachten sich wohl der weltoffene Bürgermeister Erich Grabner und sein initiativer Baudirektor Wolfgang Krejs. Wer die Großbaustelle des Kulturbezirks in St. Pölten gesehen hat, weiß, daß die Auseinandersetzung um die vorderen Plätze im Rennen um zeitgenössische Kulturpräsenz intensiv und hart ist. Das Projekt „Kunst.Halle.Krems“ war Anfang der neunziger Jahre ein früher Glückstreffer. Die schwierige Situation bewältigte damals Adolf Krischanitz am besten. Heute ist der Bau ein Grundpfeiler der zeitgenössischen Architektur in Krems.

Krischanitz' Entwurf für ein kleines Bürogebäude zur Erweiterung des Kremser Bauamts mit nicht einmal 400 Quadratmeter Nutzfläche und einer Bausumme von vier bis fünf Millionen Schilling hat nun die lokale F-Bewegung unter Ausnützung der politischen Großwetterlage zum Anlaß genommen, einen Kulturkampf vom Zaun zu brechen. Dazu ist zu sagen, daß diese Art der Auseinandersetzung uralt ist. Immer wieder mußten sich neue Formen gegen dumpfes Beharren und gegen willentliches Unverständnis durchsetzen. Das galt für den Klassizismus gegenüber dem Barock wie für die Neorenaissance Gottfried Sempers gegen den dritten Aufguß des Rokoko in der Restaurationszeit; Jugendstil und Vormoderne standen, nicht zuletzt in Wien, unter dem Druck des eklektizistisch verknöcherten Akademismus.

Die meisten Kämpfe dieser Art fanden unter vordemokratischen Verhältnissen statt. Der private, nicht von tieferer Architekturkenntnis getrübte Geschmack eines Herrschers war maßgebend; oder, was schwerer wog, die Mißgunst einer mittelmäßigen Architektenclique, die sich unter der Führung des Malerarchitekten und „Rassentheoretikers“ Paul Schultze-Naumburg den Nationalsozialisten anbiederte und gegen angeblich „entartete“ Bauformen – wie die Bauhausarchitektur – vorging.

Tatsache ist, daß auch in einer von der Distanz der Jahre geklärten Rückschau nur in den wenigsten Fällen die von den Innovationsgegnern durchgesetzten Projekte einen wesentlichen Platz in der Architekturgeschichte beanspruchen konnten. So macht denn das von den Kremser Freiheitlichen gerühmte Projekt des örtlichen Hochbauamtsleiters im Ruhestand keine Ausnahme. Es erinnert eher an die „Stuttgarter Schule“ der dreißiger Jahre unter Paul Schmitthenner denn an historische Kremser Bauten. Dennoch würde man es – einmal errichtet – als schwachen Versuch erkennen, vergangene Stilformen mit untauglichen Mitteln wieder herbeizwingen zu wollen.

Denn seither haben sich die Arbeitsweisen und Materialien auf der Baustelle derart verändert, daß selbst bei einem guten Projekt das Herkunftsjahr sofort erkennbar würde. In seiner naiv anbiedernden Art würde es die wirklich alten Bauwerke der Nachbarschaft verunglimpfen. Den Bauten der Baumeister aus dem 18. und 19. Jahrhundert wird man nicht gerecht, indem man sie ungeschickt nachzuahmen versucht, sondern nur, indem man ihrer historischen Qualität heutige Qualität zur Seite stellt. Der Bau von Adolf Krischanitz hätte vor allem folgende Aussage gemacht: „Hier wurde Mitte der neunziger Jahre ein kleines Bürogebäude errichtet. Die gestalterischen Mittel sind minimiert, wie es in dieser Zeit von vielen Architekten angestrebt wurde.“ Daß der Architekt mit diesem Bau „sich selbst verwirklichen“ wollte und angeblich „das große Geld wittert“, sind Unterstellungen der Kremser Kulturkämpfer.

Der Anlaß ist relativ geringfügig. Doch die Art, wie die Auseinandersetzung geführt wird, die versuchten Untergriffe und die fehlende Bereitschaft, sich mit dem Bauschaffen unserer Zeit wirklich zu befassen, verlangen ein prinzipielles Eingehen auf den gesamten Komplex politischer (Un-)Kultur. Das Verhältnis von Architektur und moderner Demokratie ist jung und nicht so leicht zu durchleuchten. Der Gestaltungsakt als solcher ist in populistischer Weise nicht demokratisierbar, weil er Ausdruck ist von hochgradiger Durchdringung des Problems in technischer, funktioneller und ästhetischer Hinsicht. Die projektspezifische, aktive Sachkompetenz beschränkt sich auf die kleine, mit der Aufgabe unmittelbar befaßte Gruppe von Fachleuten. Allerdings ist es möglich, den Vorgang nachvollziehbar zu machen, sodaß er von Menschen mit entsprechender passiver Sachkompetenz und einer unkomplizierten Bereitschaft, sich von vorerst Ungewohntem nicht erschrecken zu lassen, verstanden werden kann.

Die Überforderung des einzelnen Bürgers durch die komplexen Sachgeschäfte wurde im Lauf der Weiterentwicklung der Demokratie erkannt, weshalb im Normalfall die gewählten Volksvertreter diese Arbeit leisten. Da diese in technischen wie in künstlerischen Disziplinen, zu denen im doppelten Sinn auch die Architektur gehört, überfordert sind, wurden Fachbeiräte ins Leben gerufen. Waren es vorerst die großen Landeshauptstädte, versuchen seit kurzem auch Mittelstädte diese Art der kompetenten Entscheidungsfindung zu nützen.

Freilich: Weil adäquat besetzte Fachbeiräte höhere Ansprüche stellen, als die lokale „Gemütlichkeit“ bisher zuließ, werden sie von einheimischer Seite gern ins Visier genommen. Doch gerade aus demokratiepolitischen Gründen wird darauf geachtet, daß die Fachbeiratsmitglieder nicht aus derselben Stadt kommen und in der fraglichen Zeit dort auch keine Bauaufträge bearbeiten.

Aber demokratische Verfahren kosten etwas. Die qualifizierten Köpfe eines Fachbeirats oder einer Jury konnten ihre Fachkompetenz nicht in der Shopping City Süd billig einkaufen. Polemische Anwürfe seitens der freiheitlichen Kulturkämpfer gegen „Experten aus Wien“ und unterschwellige Akademikerfeindlichkeit verweisen auf einen Konflikt, der mit zunehmender Urbanisierung auch der Landstädte neuerlich aufbricht: Architektur entspringt urbaner, ja großstädtischer Kultur. Deswegen ist das traditionelle Bauen nicht etwa „primitiv“, aber der direkte Zugang ist heute versperrt, weil der Weg der Erkenntnis nicht rückwärts gegangen werden kann.

Was in Krems zutage tritt, ist eine Neuauflage des Stadt-Land-Konflikts, bei dem sich die Verteidiger eines angeblich harmonischen Stadtbildes in ihrer ahistorischen und provinziellen Haltung sonnen. Eine barocke Fassade neben einer gotisch bestimmten wirkt nur scheinbar harmonisch, weil der Alterswert und die Gewöhnung der Einheimischen die strukturellen Unterschiede übertünchen. Erst wenn diese beiden Faktoren analytisch ausgeklammert werden, kann man zur städtebaulich-architektonischen Qualität vordringen, die damit diskutierbar und vergleichbar wird. Dann wird man auch merken, daß entwicklungsbedingte Brüche das Stadtbild erst interessant machen.

Hat man dagegen je gehört, daß sich „(Volks-)Bewegungen“ gegen das jeweils neueste Design der Automobile richten? Daß Autos zum Schutz des „harmonischen“ Bildes nach Jahrgängen oder Farben zu parken seien? Es zeigt sich, daß die „Kulturkämpfer“ sektoriell blind sind, daß sie willkürlich den anspruchsvollen Bereich der Architektur als Feld für unsachlich geführte Auseinandersetzungen gewählt haben, weil sie sich davon wahltaktische Vorteile erhoffen. Die Relativierung des Gegensatzes Stadt – Land durch die Omnipräsenz elektronischer Medien kann durch populistische Angriffe auf zeitgenössische Bauwerke nicht rückgängig gemacht werden. Auch wenn man die Gründe für die Verunsicherung anerkennt, der Weg kann nur über die Aneignung von Kompetenz führen. Diesem Zweck dient die auch in Niederösterreich in Gang gekommene Vermittlungsarbeit in Sachen Architekturkultur.

Die Auseinandersetzung mit Architektur erfordert ein genaues, lang geübtes Hinschauen. Wenn das Auge „sich beleidigt fühlt“, weil das Gehirn nicht auf dem heute möglichen Erkenntnisstand bezüglich Architektur angelangt ist, muß nicht unbedingt das anvisierte Gebäude daran schuld sein.

Das in den vergangenen zwei Jahrzehnten in Österreich erreichte Niveau in der Architektur hat kürzlich im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt die gebührende Anerkennung gefunden. Mit dabei war neben anderen Bauwerken auch die „Kunst.Halle.Krems“. Eine kleinkrämerische Attacke auf diesen Erfolg aus der Froschperspektive des synthetischen Dorfes, verstärkt mit dem Zuckerguß der „Heile-Welt-Ideologie“, zeugt von einem vorsätzlich eingeschränkten Horizont. Diese Art der Polemik ist einer spannungsvollen Kulturentwicklung kaum förderlich.

28. Oktober 1995 Spectrum

Alle Zeiten im Gespräch

Ein über Jahrhunderte gewachsenes Gebäudekonglomerat in Waidhofen an der Ybbs wird seit mehr als 70 Jahren als Rathaus genutzt. Architekt Ernst Beneder hat es für unsere Zeit neu interpretiert und adaptiert.

Waidhofen an der Ybbs: mittelalterliche Stadtstruktur, die von mehreren Erweiterungen zeugt. Zwei langgezogene Plätze – der Obere und der Untere Stadtplatz – liegen parallel, verbunden durch die breite Gasse des Fischmarkts, sodaß die öffentlichen Räume ein H bilden. Am oberen Abschluß des Fischmarkts steht der hohe Stadtturm, ehemals Teil des ältesten Befestigungsgürtels, der nun, mitten in der Altstadt, als Gelenk zwischen Fischmarkt und Oberem Stadtplatz wirkt.

Ein erstes, mit einer „Reiche“ an den Turm anschließendes Haus wirkte im 14. Jahrhundert wohl recht stattlich, mit den drei breiten Fensterachsen, im Erdgeschoß einer überwölbten Halle und darüber einem Saal mit geschnitzter Tramdecke. Dahinter ein Zwischentrakt, anfangs vielleicht einmal Hof oder „Stiegenhaus“, und anschließend ein Hinterhaus. Man findet diese Typologie in den meisten mittelalterlichen Stadtgrundrissen Mitteleuropas, wo auf schmalen gotischen Parzellen jeweils Vorder- und Hinterhaus stehen, mit einem Hof und dem Stiegenaufgang dazwischen.

An den beiden Häusern vorbei führte ein Durchgang in den dahinterliegenden Wirtschaftshof. Neben dem Durchgang, der mit kleinen Wagen und Pferden wohl auch durchfahren werden konnte, schloß ein zweites, etwas bescheideneres und daher schmäleres Haus von ähnlicher Struktur an: Vorder- und Hinterhaus, dazwischen ein enger Hof mit Treppe. Heute werden das breite und das schmale Haus von einem einzigen großen, giebelständigen Dach überdeckt. Sie bilden zusammen das nunmehrige Rathaus. Die Rückfassade zum Wirtschaftshof, nach Südwesten gerichtet, besaß seit gotischer Zeit eine Arkadenreihe mit Loggien.

Der Wirtschaftshof erhielt später einen Seitenflügel mit kappenüberwölbten Stallungen. Keine Frage, daß alle paar Jahrzehnte, bis in die neueste Zeit, immer wieder etwas um- und angebaut wurde. Gleichsam als Krönung wurde den beiden Hinterhäusern im frühen 19. Jahrhundert als zweites Obergeschoß ein querliegender Theatersaal mit lauschigen Seitenlogen aufgesattelt.

Die beiden gotischen Häuser dienten anfangs als bürgerliche Wohnhäuser und offenbar als Weinschank. Zuletzt war das kaum mehr zu entwirrende Konglomerat das Gasthaus „Zum roten Krebs“. Ab 1922 erfolgte die Umnutzung zum Rathaus. 1941/42 wurde der Wirtschaftshof in schwerfälligem Stil zu einem mehrgeschoßigen Arkadenhof ausgebaut. Natürlich wurden auch die Fassaden ohne Ansehen der dahinterliegenden Räume „gleichgeschaltet“, sodaß Fensterbrüstungen plötzlich sehr hoch oder sehr niedrig liegen, weil sich hinter der regulierten Fassade noch immer Hausteile aus verschiedenen Zeiten und mit wechselnden Bauhöhen befinden. In den fünfziger Jahren erfolgte dann eine weitere Aufstockung der westlichen Gebäudeflügel um den ehemaligen Wirtschaftshof.

Ernst Beneder, in Waidhofen aufgewachsen, in Fachkreisen bekannt durch seine klaren Neubauten und einen subtilen Turmaufbau, hatte bei dem Wettbewerb für ein Sanierungskonzept des Rathauskomplexes die Formulierung vom „offenen Rathaus“ gewählt, eine, wie er schreibt, „doppelte Herausforderung und mehr als eine sprachliche und architektonische Metapher. Einerseits im Sinne eines offenen, ,geöffneten', einladenden Hauses, andererseits erfordert gerade das ,offene' Gespräch mit dem Amt auch eine bauliche Zone der Vertrautheit und Diskretion.“

Nach dem ersten Preis im Wettbewerb fing die Arbeit erst richtig an. Der Schwierigkeiten waren viele: Da war die völlig verbaute und überalterte Bausubstanz; da war ein Gebäudekomplex, der nicht als Rathaus gebaut, sondern nur als solches genutzt wurde. Obwohl kein Repräsentationsgebäude, enthielt es mehrere große, attraktive und schützenswerte Räume, aber die Struktur war unklar geworden und da und dort von Engpässen und funktionalen Pfropfen durchsetzt. Zusammen mit seiner Mitarbeiterin Anja Fischer machte sich Ernst Beneder an die Arbeit; die letzten Monate, wie bei einer derart komplexen Aufgabe nicht verwunderlich, waren sie die meiste Zeit auf der Baustelle.

Von außen sieht man dem Gebäude nichts an. Im Inneren jedoch mußten unendlich viele kleinkrämerische Einbauten entfernt werden, um dem Konzept „offenes Rathaus“ Raum zu schaffen. Zu den strukturell wesentlichen neuen Elemente zählt ein Lift, der im ehemaligen Hof des schmäleren Hausteils steht und bis ins Dachgeschoß reicht. Er greift zwischen die beiden

Hauptträger eines räumlichen Fachwerks, das wie eine Brücke im dritten Obergeschoß, quer, wie der alte Theatersaal, von Feuermauer zu Feuermauer gespannt ist. &&gDieses trägt und enthält das neuerrichtete Dachgeschoß, mußte aber bis in die Fundamente auf neuen Betonscheiben abgestützt werden. Das Tragwerk selbst ist aus schichtverleimtem Fichtenholz, dimensioniert auf Abbrand, und kann daher sichtbar bleiben. Holz war aus Gründen der Materialkontinuität erwünscht.

Ein weiteres wesentliches neues Element ist ein gläsernes Pultdach über dem Arkadenhof im hinteren Gebäudebereich. Es liegt eingetieft und nach Norden geneigt, sodaß es weder von den nahen Höhen eingesehen werden kann, noch als unerwünschte Sonnenfalle wirkt.

Schier unlösbar schien das Problem der Treppen. Eine enge, abgewinkelte Mauerstiege führte vom Erdgeschoßdurchgang ins erste Obergeschoß; dort ging es im anderen Hausteil spiegelgleich weiter und wieder abgewinkelt zum aufgesattelten Theatersaal hinauf. Offenbar ist nie etwas passiert, und zu keiner Zeit mußten sich Menschen in Panik durch diesen engen Stiegenschlauch drängen.

Hier reagierte Beneder mit einem Befreiungsschlag. Er brach das Deckengewölbe über dem hinteren Teil des Durchganges weg und legte einen geraden Treppenlauf, leicht aus der Gangachse ausscherend, in den Raum. Wenn man vom Haupteingang am Oberen Stadtplatz kommt – in unserer Schnittperspektive von links –, laden die ersten Stufen freundlich zum Hinaufsteigen ein.

Oben führt ein schmaler Steg wieder zurück, dann dreht die Richtung um 90 Grad, damit man am Saal vorbeikommt. Neben dem Steg und den Stiegenläufen bleiben lange Lichtschlitze offen, und nach oben weitet sich der Raum bis zu dem oberseitig verglasten Raumfachwerk des Dachträgers. Damit gelingt es, Licht auch in diesen engen ehemaligen Hofbereich zu holen. In Schrägsicht ergeben sich gewagte Durchblicke, die zum Tageslicht greifen. Die konsequente Verwendung von Glas für die Geländer ermöglicht eine hohe Transparenz, sodaß die ehemals düster-gedrückte und bescheidene Stimmung im Hausgang einer luftigen Hallenatmosphäre gewichen ist.

Auch im hinteren Bereich war ein Treppenlauf aus dem Erdgeschoß hinauf neu anzulegen, denn die zweiläufige Stiege aus den fünfziger Jahren begann erst im ersten Stock. Nachdem die Erschließung geklärt war, ging es um die Optimierung der durchaus vorhandenen repräsentativen Räumlichkeiten, wobei die Nutzfläche nahezu verdoppelt werden konnte. Die gewölbte Halle im Erdgeschoß des größeren Vorderhausteils wurde zum Trauungssaal. Obwohl die Formensprache der Möbel zeitgemäß ist, bleibt durch die Anordnung der Bänke vor den Fenstern und in seitlichen Nischen ein Rest der Raumstimmung gewahrt, wie sie im Gasthaus früher einmal bestanden haben mag.

Darüber liegt der Saal mit der geschnitzten Tramdecke. Die Entfernung einer Zwischenwand erlaubt wieder den Blick auf den dreiteiligen Plafond, ein gediegener Sitzungssaal ist entstanden.

In einem anschließenden, tonnenüberwölbten kleinen Raum legten Restauratoren ein Fresko frei, auf dem für Kenner der örtlichen Verhältnisse Waidhofen im 16. Jahrhundert deutlich zu erkennen ist.

Der große Sitzungssaal fand im zweiten Obergeschoß, im ehemaligen Theatersaal, Platz, dessen biedermeierliche Stimmung gewahrt wurde. Der rückwärtige Teil um den arkadierten Lichthof weist zahlreiche schöne, helle Büroräumlichkeiten auf. Im Erdgeschoß findet man den Bürgerservice und die Information – dort sind daher die meisten Besucherbewegungen zu erwarten. Je höher man hinaufsteigt, desto heller und luftiger wird die Raumstimmung, und durch das Lichthofdach blickt der Helm des Stadtturms grüßend herein.

Über dem großen Sitzungssaal, unter dem hohen, querstehenden Walmdach, konnte noch ein Mehrzwecksaal eingerichtet werden. Aus dieser Höhe bieten sich durch die Gaupen in Schrägsicht schöne Ausblicke auf die Dächer der Bürgerhäuser, auf die nahen, grünen Talflanken und natürlich auf die Türme naher Kirchen; nicht weit entfernt erkennt man auch den vor ein paar Jahren durch Ernst Beneder ausgebauten Turmsockel.
Die Möblierung ist zeitgenössisch; viel helles Birkensperrholz wurde verwendet. Leichte Trennwände kamen von der Stange aus dem nahen bene -Werk. Andere sind als verschiebbare Gestelle ausgebildet und sichern Flexibilität.

Es war sehr viel an dienender, unspektakulärer, aber dennoch anspruchsvoller Architektenarbeit zu leisten. Auf allen Ebenen hat Ernst Beneder Augenmaß bewiesen und Angemessenheit bewahrt. Er hat sich nicht unnötig in Szene gesetzt. Trotzdem hat er sich nicht verleugnen müssen. Daß die Kosten im Rahmen geblieben sind, paßt gut dazu.

Insgesamt hat eine Transmutation stattgefunden: Die Stimmung ist rundum zeitgenössisch, bleibt aber mit jeder vertretenen Epoche der Vergangenheit im Gespräch.

14. Oktober 1995 Spectrum

Köpfe, Bauten, Bild und Ton

Als Giorgio Vasari 1550 die erste Auflage seiner Lebensbeschreibungen von Künstlern der Renaissance herausgab, war der Buchdruck knappe 100 Jahre alt. Eine zweite, stark erweiterte Ausgabe folgte 1568. Vasaris Medium war die Sprache in Schriftform, sein Kanal war das Buch. Abbildungen waren darin wegen der hohen reproduktionstechnischen Hürden keine enthalten. Die Kenntnis der Werke der Renaissance wurde beim Leser vorausgesetzt. Die Schrift hatte eindeutig Vorrang. Ob es sich dabei um Literatur handelt, dürfen wir in Zweifel ziehen. Das Werk ist vielmehr als Sachbuch einzustufen, wurde aber nichtsdestoweniger in den vier Jahrhunderten seit seinem Erscheinen zu einem Bestseller. Soweit die Alten.

Der Aderlaß, den die österreichische Architektur der Moderne in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts als Folge erzwungener Emigration erleiden mußte, hat sich bis weit in die fünfziger und sechziger Jahre hinein ausgewirkt. Die Ausstellung „Visionäre & Vertriebene“, erarbeitet von Matthias Boeckl, Otto Kapfinger und Adolph Stiller, die im Frühjahr in der Wiener Kunsthalle zu sehen war, hat das Ausmaß des Verlustes aufgezeigt und die Qualität der exilierten Fachleute belegt. Auch wenn einige – wie Rudolf M. Schindler, Richard Neutra oder Friedrich Kiesler – schon vor 1930 die mitteleuropäische Enge mit den weiträumigen USA vertauscht hatten, lag das Schwergewicht der Ausstellung doch bei jenen Architekten, die in den späten dreißiger Jahren das angeschlossene Österreich verlassen mußten. Bekannte Namen wie Felix Augenfeld, Josef Frank, Viktor Gruen, Bernard Rudofsky und Oskar Wlach gehören zu dieser Gruppe.

Es handelt sich bei dieser Phase österreichischer Kulturgeschichte um äußerst komplexe Inhalte: politische Geschichte, Lebenswege und die Werke der Protagonisten. Gebautes und Projektiertes bilden ein dichtes Gewebe. Dazu kommt die bekannte Problematik des Architektur-Ausstellens, bei der mit Plänen, Photographien und Modellen weitere Medien beigezogen werden müssen, sodaß der Besucher in die Lage versetzt wird, sich das gebaute Original vorzustellen. Die Ausstellung erreichte ein außerordentlich hohes Niveau, das von einem Katalog nur teilweise konserviert und für die Nachwelt erhalten werden kann.

Schon in der Kunsthalle war daher eine Multimediaproduktion über die Biographien der wichtigsten Köpfe in der Ausstellung zu sehen gewesen. Nach weiterer Überarbeitung ist nun eine CD-ROM unter dem Titel „Visionäre im Exil“ für Macintosh oder für Windows erhältlich. Wer sich nun vor das Bildschirmfenster begibt, kann durch dieses in ein unübersehbares Labyrinth aufbereiteter Fakten, Bilder und Texte hineinsteigen. Erst nach mehrmaligem Durchstreifen und nach einigen verklickten Stunden werden einem die Dimensionen gegenwärtig. In jedem Fall hat man sehr viel erfahren, Quervermerke registrieren und vor allem nach Lust und Interesse dieser oder jener Spur nachgehen und so ein eigenes Wegsystem durch den Materialberg legen können, sodaß ein zufriedenes Forschergefühl aufkommt: Man sucht, vermutet, stößt auf neue Fakten und auf spezielle Formen der Präsentation. Dabei überlagern sich Geschriebenes, Gesprochenes, Bilder, Pläne und dazupassende Musik.

Wenn man etwas Bestimmtes sucht, gibt es Register für Historie, Namen und Bauwerke. Gleich einem imaginären Gebäude, einem Gedankengebäude eben, läßt sich in der Multimediaproduktion herumspazieren, Wiederholungen und Schlaufen oder Abkürzungen und direkte Wege sind nebeneinander möglich. Man kann beliebig auswählen und ist nach fünf Minuten mit den meisten Interaktionsregeln vertraut, sodaß die Inhalte hinter der Programmstruktur greifbar werden.

Das anspruchsvolle und komplexe Thema aufzuarbeiten und multimedial umzusetzen war eine Riesenarbeit. Die eingangs genannte Forschergruppe Boeckl, Kapfinger, Stiller lieferte Inhalte, die Umsetzung wurde von einem jungen Team, das sich in der Firma „Science Wonder Productions“ zusammengeschlossen hat, in vielen und langen Wochen erarbeitet. Michael Perin-Wogenburg, Wolfgang Oblasser und Stefanie Sachweh sind alle unter 30 Jahre jung und kommen von anderen Fachgebieten als der Architektur oder der Informatik. Insofern sind sie „Wilde“, engagierte Autodidakten, die sich über verschiedene Projekte in die Welt der Multimediaproduktion eingearbeitet haben. Perin-Wogenburg kommt von der Malerei her, Oblasser studierte Japanologie und Ethnologie, Stefanie Sachweh schloß die Meisterklasse für Modedesign ab.

Diese Mischung garantierte eine interessante und formal anspruchsvolle gestalterische Umsetzung. Neben der Programmierarbeit und der Digitalisierung von Bild und Ton benötigte das Team auch Sprecher für die Texte, die in ihrer kompakten Form nur von einem Formulierer vom Format eines Otto Kapfinger zu bewältigen waren. Weitere Bildquellen mußten erschlossen, die Rechte gesichert werden, und es galt, passende Begleitmusik zu finden.

Dabei zeigt es sich, daß das Bemühen um individuelle Darstellung der jeweiligen Lebensläufe es absolut verbietet, mit Klischees zu arbeiten, weil dies beim mehrmaligen Durchgehen für die Benützer rasch ärgerlich würde. Die umfangreiche Arbeit ist zu vergleichen mit dem Aufwand für einen Film oder für eine Theaterinszenierung. Jeder Vergleich und jedes Beispiel, das man erwähnen will, verlangen nach einem Bild und einem erklärenden Text. Bei der Fülle des Materials gerät man auch bald einmal an die Grenzen des Speichermediums. Man muß auswählen, kürzen und verknappen, darf aber nicht flach werden, sondern muß dicht bleiben, denn der Benützer will nicht belehrt, sondern informiert und unterhalten werden.

Damit ist die Multimediaproduktion auf CD-ROM viel mehr als ein Sachbuch im Sinne der eingangs genannten Viten von Vasari. Es handelt sich um eine neue Medienkategorie, deren Qualitätskriterien noch in Entwicklung begriffen sind. Doch läßt sich jetzt schon sagen, daß sehr viel hochqualifizierte Arbeit hineingesteckt werden muß. Obwohl der Benützer frei im Labyrinth vernetzter Fakten herumspazieren kann, muß eine Art Regie dafür sorgen, daß Rhythmus und Abläufe ihren spezifischen Charakter erhalten, daß Brüche oder gleitende Übergänge aus inhaltlichen Gründen erfolgen und nicht wegen Wechseln in der Bearbeitergruppe. Daß solcher Aufwand kostet, wird jedem klar. Der silbern glänzenden CD-Scheibe ist dies nicht anzusehen.

Es wird jeweils genau zu überlegen sein, ob ein Stoff für die Umsetzung in eine Multimediaproduktion geeignet ist und ob genügend Material für eine audiovisuelle Umsetzung vorliegt. Man würde einem Bild anmerken, daß es nicht das richtige ist, daß es nur als Platzhalter dient für ein anderes, das nicht ausgeforscht werden konnte. Nichts ist peinlicher als leeres Gerede, weil der Texter den Sachverhalt nicht begriffen hat oder unfähig war, die Inhalte auf die nötige Knappheit zu verdichten. Ärgerlich, wenn Musik zum lästigen Gedudel wird, das man gern ausblenden möchte.

Gemessen an diesen drohenden Klippen und Untiefen ist das wissenschaftlich von Otto Kapfinger angeleitete Team Perin-Wogenburg – Oblasser – Sachweh von „Science Wonder Productions“, unterstützt von zahlreichen Mitarbeitern und Helfern, sehr tief in das Gebiet der neuen Kommunikationsform vorgedrungen, hat ein erstaunlich reifes Produkt erzeugt und eine Qualitätsmarke vorgegeben.

Wenn jetzt die CD-ROM „Visionäre im Exil“ an der Buchmesse in Frankfurt auf den Markt kommt, stellt sich sofort die Frage, ob diese neue Form das Buch, zuvorderst das Sachbuch, ersetzen wird. Natürlich nicht, es scheint einer der Grundirrtümer der linearen Fortschrittsideologie des 20. Jahrhunderts zu sein, daß das Neue das Bestehende restlos verdrängen wird. So behauptete Richard Buckminster Fuller, das Flugzeug habe die Eisenbahn aus dem Feld geschlagen und die Rakete würde das Flugzeug ersetzen, was Unsinn ist. Warum holt man die Zigaretten in der Trafik ums Eck immer noch zu Fuß, warum rentiert die Eisenbahn auf den Hauptstrecken, und wie bitte ist der Fahrradboom des letzten Jahrzehnts zu erklären?

Der Lauf der kulturellen und technischen Entwicklungen ist unstetiger, komplexer, widersprüchlicher und mehrspuriger, als selbst eine Multimediaproduktion es widerzuspiegeln vermag. Doch für das Verständnis und die Vermittlung dieser mehrdeutigen Vorgänge, der Ungleichzeitigkeiten und Unstetigkeiten scheint das Multimediale das geeignete Mittel, das zusätzlich zum bisherigen Instrumentarium genutzt werden kann. Es ist das mehrfach wirksame Gegenmittel gegen Simplifizierer, eindimensional denkende Sturschädel und gleichschalterische Demagogen. Denn bei intelligenter Bearbeitung bietet es Wahlfreiheit und beliebige Vertiefungsmöglichkeiten.

Und es wird auf der Produzentenseite selektierend wirken. Nur wer die komplexe Klaviatur mehrerer Medien beherrscht, kann Spielmacher werden; die andern werden scheitern. Damit wird eine breite Bildung erforderlich – in sprachlichen, bildnerischen und technisch-naturwissenschaftlichen Disziplinen. Selbst wenn im Team gearbeitet wird, wachsen die Anforderungen an den einzelnen. So kann der flache Bildschirm zum Fenster werden in eine anspruchsvolle und spannende Zukunft kultureller Erkenntnis- und Vermittlungstätigkeit.

1. Oktober 1995 newroom

Bauen in der Landschaft

Architektur im 20. Jahrhundert: Österreich

In seiner Wiener Zeit an der Architekturabteilung der k.u.k. Kunstgewerbeschule, der heutigen Hochschule für angewandte Kunst, entwarf Heinrich Tessenow (1870-1950) ein Wohnhaus für Friedrich Böhler, den kunstbeflissenen Sproß einer Wiener Industriellenfamilie. Das 1916-17 in Oberalpina bei St. Moritz errichtete Gebäude wurde vor wenigen Jahren zerstört, als Opfer seines letzten Eigentümers, dessen Architekten und einer desinteressierten Bevölkerung.

In der noch weitgehend alpwirtschaftlich genutzten Landschaft bildete das Haus eine Setzung abseits der ersten touristisch entwickelten Siedlungen. Kräftige, polygonal abgewinkelte Mauern unter einem die Hangneigung paraphrasierenden Schindeldach umfaßten einen rational kreuzförmig organisierten Grundriß. Stolz und unnahbar, wie eine der zahlreichen Burganlagen im alpinen Raum, saß das Bauwerk im Hang, ein schutzbietender Rückzugsort, dessen Terrasse auf einer Stützmauer hoch über der Alpwiese ansetzte. Ein Pionierbau, dazu ausersehen Wind und Wetter zu trotzen. Obwohl aus dem norddeutschen Flachland stammend, hat Tessenow dem damaligen Verständnis für ein Bauen in naturnaher alpiner Landschaft sprechende Form verliehen.

Anfang der dreißiger Jahre, als die Wintersport- und Wanderbewegung den Ober- und Mittelschichten ein Naheverhältnis zu Landschaft und Topographie ermöglicht hatte, fiel das Trotzige weg. Sowohl Lois Welzenbacher (1889-1955), der seine Lehrjahre bei Theodor Fischer in München genutzt hatte, als auch Ernst Anton Plischke (1903-92) treten in ihren Bauten mit der Geländemodulation und der Umgebung wesentlich stärker in Beziehung.

Das Haus Heyrovsky bei Zell am See, von Lois Welzenbacher 1932 erbaut, strebt mit seiner rund geschwungenen Front aus dem steilen Wiesenbord; im unteren Geschoß öffnen sich die Wohnräume auf eine kleine Terrasse, die alsbald in die Wiese übergeht. Der schlanke Balkon im Obergeschoß zieht sich um die Hauptfront, bis er auf den gewachsenen Boden trifft, von dem aus er auch betreten werden kann, so daß eine enge funktionelle Beziehung zur nahen Almwiese möglich wird. Von jedem der Zimmer bietet sich wegen der Fassadenkrümmung ein anderer Fensterblick, womit der prächtigen Aussicht über den See und auf die dahinter aufsteigenden Berge Rechnung getragen wird.

Ähnlich verhält es sich mit dem Haus am Attersee, das Plischke 1933 errichtete. In der etwas sanfteren Topographie bot sich eine Hügelkuppe als Bauplatz an, auf der das leichte, von Plischkes Amerikaerfahrung zeugende Holzskelett punktuell abgestützt ist. Die Flanken des Gebäudes schwenken, den Höhenlinien folgend, in stumpfen Winkeln nach hinten. Eine dünne Dachplatte wird von schlanken Rundstützen getragen und beschirmt das wie daruntergeschoben wirkende Volumen der Wohnräume, die von einem durchgehenden Bandfenster zusammengefaßt werden. Die Heuwiese tritt unmittelbar an das Gebäude heran, von den Wohnräumen führen Türen direkt ins Freie.

Hinter diesen beiden Bauwerken steht das Ideal einer neu gewonnenen Naturverbundenheit; abgehobener Stolz wird ersetzt durch Lebensfreude, und das Schutzbedürfnis weicht einer selbstbewußten Weltoffenheit. Die moderne, zeitgemäße Luftigkeit und Leichtigkeit wird unterstützt durch die Verwendung des Baustoffs Holz, der zwar als traditionell ländliches und naturverbundenes Material gilt, durch die dematerialisierende Wirkung der weißen Farbe jedoch relativiert und nurmehr in der Struktur betont wird. Das „Bauen in der Landschaft“, das weiterhin als primäre bauliche Setzung in einer von landwirtschaftlicher Tätigkeit geprägten Umgebung verstanden wird, verzichtet auf heroische Gebärden; die Natur erscheint nicht mehr ganz so wild, daß sie „bezwungen“ oder „beherrscht“ werden müßte. Selbst in prächtiger, aussichtsreicher Lage drängt sich die Architektur nicht in den Vordergrund, sondern wirkt gleichsam beiläufig. Innerarchitektonische Fragen haben Vorrang: das Verhältnis von Dach zu Volumen, von Öffnung zu Wand, von innen nach außen. Zugleich wird das Einfangen der Aussicht zum wesentlichen Thema; um diesen Zweck zu erfüllen, wird das Gebäude fast zum dienenden Gerät. Der Umraum wird bildhaft in die Zimmer des Hauses hereingeholt. Das Vorgehen tendiert dabei zum Aufheben des Gegensatzes innen - außen. Die Blicke aus den Fenstertüren, die ein Segment der Aussicht rahmen, werden zu Vorstufen des Rundblicks vom Balkon oder von der Terrasse, wo das gesamte Landschaftspanorama zur Verfügung steht.

Im August 1935 erfolgte die Fertigstellung der Großglockner Hochalpenstraße, geplant und errichtet unter der Leitung des Bauingenieurs Franz Wallack (1887-1966). Die großzügige Linienführung verzichtet auf die sonst zahlreichen, dicht gesetzten und engen Kehren, so daß die Fahrt sich flüssiger entwickeln kann und die Beziehung der Fahrzeuginsassen zur umgebenden Bergwelt sich geruhsamer gestaltet. Die ursprüngliche Schotterstraße wies bergseits eine flache, mit Steinplatten ausgekleidete Rinne auf, talseits begleiteten schräggestellte Wehrsteine den Straßenrand, der fast gleitend in den Moränenschotter überging. Der Bewuchs der anschließenden Almwiesen wurde intensiv gepflegt, so daß die Alpenflora in Straßennähe besonders gut zur Geltung kam. Im Zuge der vermehrten Automobilisierung, der Asphaltierung und der Begrenzung des Straßenrandes mit Leitplanken ist die ursprüngliche Konzeption des sanften Übergangs härter geworden. Der spezifische Charakter der kontinuierlichen Linienführung mit insgesamt nur 27 Kehren, der die Glocknerstraße von anderen Alpenpaßstraßen unterscheidet, wird in Motorradfahrerkreisen jedoch bis heute geschätzt.

Nach der kriegsbedingten Unterbrechung und der Wiederaufbauzeit dauerte es noch einige Jahre, bis auch die Architekturkultur wieder begann, sich in die Breite zu entwickeln. Mit der spürbar werdenden Zersiedelung veränderte sich die Haltung der engagierten Architekten, sie bemühten sich um stärkere Zurückhaltung, wenn sie für die freie Landschaft entwarfen. Bei seinem Projekt für ein Wohnhaus in St. Margarethen im Burgenland, das 1969 fertiggestellt wurde, nahm Roland Rainer (*1910) materialmäßig und strukturell Bezug auf die umgebende Landschaft. Die Steine für die Mauern des lagerhaft konzipierten Hauses stammen aus dem nahen Steinbruch, und da und dort stößt dasselbe Material auch durch die dünne Vegetationsschicht. Von weitem sieht die Anlage aus wie eine lokale Verdichtung von Weinbergmauern. Nur die Vertikale des Kamins signalisiert den Herd und damit die Behausung. Aus der Nähe stellt man fest, daß die Mauern kräftige, horizontale Dächer aus Stahlbeton tragen. Den geschlossenen Räumen sind mehrere hofartige Außenräume zugeordnet, die unterschiedlich stark definiert sind. Zahlreiche Maulbeer- und Mandelbäume umgürten das Gebäude mit einer weiteren Übergangszone. Damit wird die Wirkung der architektonischen Setzung noch weiter reduziert, als sie es aufgrund der Gliederung und der zurückhaltend-kargen Formensprache schon ist. Die Einbettung dieses Hauses in die Landschaft erfolgt über mehrere schleierartige Schichten, die seine Präsenz bereits auf kurze Distanz ausblenden, ähnlich der Wirkung der Hecke an Dornröschens Schloß.

In vergleichbarer Weise hat Ernst Hiesmayr (*1920) ein Wohnhaus in einen sanften Südhang der Wachau hineinkomponiert, das 1968 ausgeführt wurde. Die Rückseite ist vollständig eingegraben, nach vorn öffnen sich große Schiebefenster in eine hofartige Vorzone, die von niedrigen Anschüttungen flankiert wird. Über den einen dieser beiden Hügel zieht sich die Geländekontur hinauf bis zum flachen, grün bewachsenen Dach. Nur im Wohnraum, über dem runden Eßtisch wölbt sich die Decke nach oben und kulminiert in einer Lichtkuppel, die den darunterliegenden Bereich vor den anderen auszeichnet. Der Rückzug auf die Wohnhöhle, aus der nur ein paar wenige Fenster zwischen dem Bewuchs herausblinzeln, bezeichnet eine Haltung, die in der geschützten Landschaft ein Minimum an materieller Präsenz anstrebt, ohne dabei eine Einbuße an architektonischer Qualität zu erleiden. Die Formensprache bleibt nüchtern modern, für Gemütlichkeit sorgen die Bewohner selbst. Dieses Wohnhaus bezeichnet vielleicht einen Umkehrpunkt im Architekturgeschehen, denn das nächste Gebäude, das den Betrachter ob seiner Positionierung im Gelände faszinierte und rasch einen hohen Bekanntheitsgrad erlangte, war von ganz anderer Art.

Manfred Kovatsch (*1940) setzte den einfachen Holzbau für ein Sommerhaus giebelständig in eine steile Heuwiese hoch über dem Ossiacher See. 1975-77 errichtet, provozierte das helle Lärchenholz ein Jahr lang die Gemüter - bis es abgewittert war. Unter seinem schlanken, weit vorstehenden Satteldach scheint das Bauwerk fast aus dem Steilhang herauszuspringen. Als Steigerung bietet sich am äußersten Eck noch ein um 45° verdrehter, pavillonartiger Sitzplatz an. Die Neigung des Hanges wird im Innern des Gebäudes aufgenommen und über die Geschoße noch gesteigert. Von außen reicht die Heuwiese bis hart an die bretterverschalten Wände, und die seitlichen Zugangsmöglichkeiten sind bescheiden. Die Positionierung ist selbstbewußt und weit stärker wirksam als jene landwirtschaftlicher Gebäude, wird aber, wie bei diesen, durch das verwitterungsfreundliche Material Holz in der Präsenz relativiert.

Mit dem Wiedererstarken der Rolle der Architektur in der Gesamtkultur stießen auch kleinere und größere Ingenieurbauwerke wieder auf vermehrte gestalterische Zuwendung. Die Erdefunkstelle Aflenz, die Gustav Peichl (*1928) in der Obersteiermark 1976-79 errichtete, ist grundsätzlich derselben Haltung verpflichtet, wie sie die Häuser Rainers und Hiesmayrs vertreten. Die wesentlich mächtigere Anlage entwickelt sich unter dem ausgedehnten Teppich der Almwiese, die da und dort eingeschnitten ist, wo Licht und Luft gewünscht sind. Die höhenversetzten Schnittränder werden dabei von weißen Mauern auseinandergehalten. Nur Stirnseiten sind sichtbar, die niedrigen Fassaden liegen oft hinter einer Stützenreihe im Schatten des Grasdachs. Einerseits gelingt es auf diese Weise, die Präsenz der Diensträumlichkeiten im dünnbebauten Hochtal fast auszublenden, andererseits erlangen die riesigen Schirmantennen, die als einzige - objekthaft wie Pilze - aus der Wiese herausragen, mehr autonome Wirkung. Was aus technischen Gründen über der Erde sein muß, wird stolz gezeigt, alles andere bleibt unter dem Wiesengrün verborgen.

Die gestalterische Komponente erhält sogar bei den scheinbar reinen Ingenieurwerken des Wasserbaus mehr Gewicht: Der Kulturtechniker und Architekt Max Rieder (*1957) errichtete 1991 hinter Grödig bei Salzburg in der Königseer Ache das Kleinkraftwerk „Hangenden Stein“, das die dort vorhandene Geländestufe nützt. Eine lange Mauer scheidet den Oberwasserkanal vom Altwasser. Die Aggregate der hydroelektrischen Anlage bilden zusammen mit den anderen Elementen des Werks eine plastische Installation im Flußbett. Natürlich sind sämtliche Teile ingenieurmäßig bestimmt, aber darüber hinaus sind vorhandene Freiheitsgrade für die räumliche Komposition genutzt. Die ganze Anlage tritt mit der Landschaft in Beziehung, wie dies bei großen Felsblöcken der Fall ist.

Die jüngste Gruppe von Bauwerken beginnt mit der unmittelbaren Umgebung ein intensives räumliches Dialogverhältnis, in dessen Folge das Gebäude sowohl seine Selbständigkeit bewahrt als auch in Teilen in die Landschaft übergeht und von deren Elementen mitbestimmt wird.

In eine Waldlichtung bei Wiener Neustadt hat Rudolf Prohazka (*1947) ein 1993 fertiggestelltes Haus hineinkomponiert. Den Kern eines Vorgängerbaus, eine alte Holzhütte, integrierte er in den Neubau. Ebenso fanden die in Naturstein gemauerten Elemente wie Kamin und Stützmauern weitere Verwendung. Die Schlafräume sind als weiße, weitgehend geschlossene Volumen konzipiert, dazwischen grenzen Glaswände die Wohnräume klimatisch vom Umraum ab. Von der Waldwiese führt eine Treppe auf das begehbare Dach, das somit Teil der lokalen Topographie wird, von der der Blick durch die benachbarten Hochstämme in die nahen Baumkronen hinausgreift.

In einer Hanglage an der Südflanke eines waldreichen Tales hinter Klosterneuburg plante Franziska Ullmann (*1950) das Wohnhaus für eine Geschäftsfrau, das 1993 fertiggestellt wurde. Auf dem sockelartigen Untergeschoß mit der Breitseite zum Tal ist ein bergender Baukörper aufgelagert. Er deckt einen kleinen, offenen Vorbereich, eine „Winterterrasse“, die nach Süden orientiert ist und Ankommende freundlich empfängt. Hangseits hinter dem Haus liegt eine zweite Terrasse, die, privater und für die warme Jahreszeit gedacht, an den anderen drei Seiten von den Bäumen des nahen Waldes gefaßt wird. Der Wohnraum im Obergeschoß weist nach Süden, mit Blick zum dicht bewaldeten Gegenhang, ein überbreites Fenster auf, das fast den ganzen Wald und darüber noch einen Streifen Himmel einfängt. Der Rückzugs- und Ausblicksraum tritt nach außen als ordnender Baukörper auf, dessen Verhältnis zur Landschaft mehrdeutig ist und sich auf verschiedene Maßstabsebenen bezieht.

Mit dem 1994 errichteten Kleinhaus am Ufer eines Ausees bei Blindenmarkt/Niederösterreich treibt Ernst Beneder (*1958) den doppeldeutigen Landschaftsbezug ein Stück weiter. Ein einfacher quadrischer Baukörper balanciert landseitig auf einem Unterbau und kragt mit der Vorderseite über das Wasser aus. Die Lage des Bauwerks in der Gabelung einer den See begleitenden Straße ist präzis abgezirkelt und das Verhältnis zur nahen Vertikalen des Transformatorenturms ist bewußt einkalkuliert. So tritt das Bauwerk zum Umraum in ein dialogisches Verhältnis und bildet einen integrierenden Teil des gesamten Ambientes. Von innen wird der Blick dagegen von den geschlossenen Seitenwänden durch die raumhohen Glasschiebefenster über den See auf einen Ausschnitt des baumbestandenen gegenüberliegenden Ufers gelenkt. Diese Aussicht ist äußerst selektiv. Mit seiner starken räumlichen Definiertheit bietet das Haus ein hohes Maß an Geborgenheit.

Die mehrschichtige Kommunikation mit natürlichen und künstlichen Elementen der umgebenden Landschaft und mit einer raumbildenden und raumabstrahlenden Nachbarschaft erzeugt eine vielfältig vernetzte Situation. Sowohl Lage und Ausrichtung beziehen sich auf das Umfeld, unterstützt von sekundären Elementen. Klare, einfache Volumen ordnen die Außenräume. Die Aussicht bildet nur einen Teilaspekt, dem das Schutzbedürfnis zur Seite steht. Die Beziehung zur Landschaft erlangt den Charakter von Gesten. Damit werden beim architektonischen Ausdruck eine klare Aussage und eine präzise Wirkung mit ansprechender Offenheit verknüpft.

22. Juli 1995 Spectrum

Die Sechziger: War da was?

Klare Formen und die Verwendung von Stahlbeton kennzeichnen die Bauten der sechziger Jahre. In den Werken des Wiener Architekten Karl Mang zeigt sich der künstliche Stein mit Blähtonzuschlag von der freundlichen Seite.

Die zeitliche Einteilung der Geschichte nach Jahrhunderten und Jahrzehnten ist ungenau und oft falsch, aber sie ist praktisch im Sinne einer vorläufigen Benennung. Zwar halten sich Epochen und Entwicklungsphasen nicht an runde Jahreszahlen, aber wenn man weiß, was darunter zu verstehen ist, bieten Jahrzehntbezeichnungen eine neutrale Chiffre für die grobe Strukturierung der jüngst zurückliegenden Kultur- und Kunstgeschichte.

Mit dem, was die fünfziger Jahre ausmachen könnten, hat man sich mittlerweile angefreundet. Das „Daisy-Service“ aus Lilienfelder Porzellan hat seinen festen Platz in zahlreichen privaten Sammlungen, und der Stadthallenstuhl von Roland Rainer findet wieder Produzenten und Abnehmer. Nun aber die sechziger Jahre, war da überhaupt etwas Nennenswertes los? Betrachten wir die Masse des Gebauten, so können wir feststellen, daß ein unbedarfter Bauwirtschaftsfunktionalismus vorherrscht, dessen Qualitätskriterien sich in einer vereinfachten, weil gewinnträchtigen baulichen Herstellung erschöpfen.

Wir treffen in dieser Zeit auf das Bauen mit vorgefertigten Elementen, vornehmlich aus Beton. Überhaupt fand dieses Material in den sechziger Jahren eine ungeheure Verbreitung, sodaß es den Menschen bald zuviel und der Beton zum Inbegriff des Unveränderlichen, zum Symbol einer fortschreitenden Naturzerstörung wurde. „Zubetonieren“ lautete ein vorwurfsvoll gemeintes Schlagwort, das aber bereits zu den siebziger Jahren gehört, denn die Sechziger waren noch unbedarft grenzenlos und hoffnungsfroh.

Für die sechziger Jahre steht beispielsweise die Kugelkopfschreibmaschine von IBM, ein technisches Wunderwerk, bei dem Typenwahl und Anschlag mit ein und demselben Teil erfolgte, eben jenem Kugelkopf, und das alles mit ungeheurer Genauigkeit und Schnelligkeit. Spätere Modelle trennten diesen Vorgang wieder. Der Typenradschreibmaschine fehlte allerdings das faszinierende Moment der Letternkugel. (Und wer redet heute noch von den Typenradschreibmaschinen, wo es Laserdrucker gibt!) Die sechziger Jahre dürften jedenfalls als die Kugelkopf-Zeit in die Geschichte eingehen, als Inbegriff eines Denkens, das die Probleme mit einer einfach wirkenden, technisch anspruchsvollen Lösung in einem einzigen Punkt fokussierte. So gesehen hätte dieser Zeitabschnitt 1969 mit der erstmaligen Landung von Menschen auf der Mondkugel bereits seine Erfüllung gefunden.

Aber, wird man sich fragen, was hat das alles mit Architektur zu tun? Spezifische Denkmuster treten in der Regel zeitgleich in allen gestalterischen Disziplinen auf. In der Architektur galt die Faszination klaren Formen wie Quadrat und Kreis oder Kugel, Buckminster Fuller und seine geodätische Kuppel für die Weltausstellung 1967 in Montreal gehören dazu, wobei die Großform der Kugel die komplizierte Detailkonstruktion überstrahlte.

Das Prinzip der Königsidee – der Lösung aus einem Punkt oder jener mit einem einzigen Material – scheint auch beim Material Beton beziehungsweise beim Verfahren Stahlbeton enthalten: Man baut eine Schalung, gibt die erforderliche Armierung hinein und gießt das Ganze aus. Fertig. So wurden zahlreiche Dutzendbauwerke errichtet, aber auch einige außerordentlich interessante, etwa das Seelsorgezentrum in Steyr-Ennsleiten der Arbeitsgruppe 4 (Wilhelm Holzbauer, Friedrich Kurrent und Johannes Spalt) und Johann Georg Gsteus, 1958 bis 1961, oder das Clima-Villenhotel in Wien-Nußdorf von Ernst Hiesmayr, 1966. Bei diesen beiden Projekten ging die Plastizität des Baumaterials vor dem Erhärten in der plastischen Wirkung des fertigen Bauwerks und seiner Teile auf.

Aber die einschichtige Betonwand hat bauphysikalisch betrachtet schwache Wärmedämmwerte und fühlt sich kalt an. Hier hat der Wiener Architekt Karl Mang zusammen mit seiner Partnerin, Eva Mang-Frimmel, Pionierarbeit geleistet, indem er zwei Bauwerke aus Leca-Beton errichtete: eines als Atelierkomplex für die oberösterreichische Künstlerin Lydia Roppolt, das andere für sich selbst. Bei dieser Bauweise wird dem Zement-Wasser-Gemisch – statt Kies und Sand – Blähton in verschiedenen Kornabstufungen beigemischt. Allerdings ist die Verarbeitung anspruchsvoll. Ist ein handwerklich perfekter Sichtbeton schon schwer zu bekommen, wächst bei Leca-Beton die Gefahr von Kiesnestern; und wenn zu lange verdichtet wurde, geht der Dämmeffekt verloren. Aber der Ertrag einer sorgfältigen Arbeit ist die einschichtige, Masse bedeutende Wand aus Beton mit klassischer Sichtbetonoberfläche, „frisch aus der Packung“, aber darüber hinaus wärmedämmend und oberflächenwarm.

Karl Mang ist der Architekturpublizistik nicht unbekannt. 1922 geboren, wurde sein Architekturstudium vom Krieg durchkreuzt. In dieser Zeit konnte er dennoch auf seinen Patrouillen mit Schiern in Finnland tiefe Landschaftserfahrungen sammeln. Es folgte eine schwere Verwundung. In der Genesungszeit belegte er ein Semester an der Technischen Hochschule Wien; schließlich mußte er noch einmal einrücken. Danach folgten das Studium und eine Assistentenzeit bei Friedrich Lehmann. Mang gehört daher nicht zur Holzmeister-Schule, die in Wien wesentlich wurde. Ein längerer Romaufenthalt mit kargem Stipendium ermöglichte ihm eine räumliche und inhaltliche Befreiung. Neben weiterer Lehrtätigkeit publizierte Karl Mang die Resultate seiner Forschungen in Buchform: „Die Geschichte des modernen Möbels“ und „Thonet Bugholzmöbel“.

Auf großes Interesse stieß die von Mang initiierte Ausstellung über die Shaker, die er zusammen mit Wend Fischer für die Neue Sammlung München erarbeitete und die an mehreren Orten gezeigt wurde, darunter auch im Centre Pompidou und in anderen renommierten Museen. Später war es die Ausstellung „1800 bis 1900 – Moderne Vergangenheit“, in der die Kontinuität einer einfachen und unaufgeregten Architektur für Europa nachgewiesen wird. Die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Shakerkultur und mit den einfachen Bauten bürgerlich-klassischer Tradition sowie Reiseerfahrungen in Japan ließen bei Karl Mang das Engagement für eine „Architektur der Stille“ heranwachsen.

Dafür sind die beiden Leca-Betonbauten ausgezeichnete Beispiele: Das Atelierhaus Lydia Roppolt entwickelt sich, ausgehend von einem ländlichen Haus aus der Zeit der Jahrhundertwende, den sanft abfallenden Wiesenrain hinunter. Als erstes liegt linker Hand in nächster Nähe das Volumen einer Garage, dann rechts ein zweites Volumen mit einem minimierten Wohnteil und als Abschluß ein drittes mit dem Atelierraum. Die Pultdächer auf den quadratischen Grundrissen steigen wechselnd von links und rechts zu Weg und Entwicklungsachse in der Mitte an. Der Boden des Ateliers liegt sechs Stufen tiefer, die gefühlsmäßige Beziehung des oberen Volumens setzt, ausgehend von der Augenhöhe eines Menschen, in der Hälfte des unteren, fast kubischen Volumens an. Man erhält daher zuerst einen Überblick, bevor man in den Hauptraum eintaucht.

Im Garten stehen die in den drei Jahrzehnten gewachsenen Bäume nahe an den klaren Baukörpern, der Rasengrund stößt an den Sichtbeton, der die Maserungen der Schalbretter zeigt. Er ist in bestem Zustand. Dieselbe Oberflächenqualität finden wir auch auf der Innenseite, natürliches Zementgrau dämpft das Licht wie in einer Natursteinhütte im Alpenraum. Der künstliche Stein spielt seine bergende Kraft aus, die Öffnungen wirken wie herausgeschnitten; präzis stellen sie mit Ausblicken die Beziehung zum Umraum her.

Es ist eine ruhige, eindeutige Architektur, die sich auf das theoretisch einfache Verfahren des Leca-Betons stützt. Wenige, unkomplizierte Details reichen aus; der künstliche Stein zeigt sich von der freundlichen Seite. Diese Art von Harmonie gehört noch in die Zeit vor der kritischen Schwelle 1968/1973, nach der die „grenzenlosen“ sechziger Jahre aus und vorbei waren.

3. Juni 1995 Spectrum

Schwimmen im täglichen Zeitstrom

Eine Stadt nimmt das Faktum, daß vor 50 Jahren ein verheerender Krieg zu Ende gegangen ist, zum Anlaß, diese fünf Jahrzehnte, konkreter: deren Alltag, unter die Lupe zu nehmen und noch einmal in die Auslage zu stellen.

Die Klarheit, mit der uns Fernand Braudel, der große französische Historiker, einen Sachverhalt erläutert, im Original zu genießen, rechtfertigt ein langes Zitat, denn wer hat das Vorwort zum ersten Band von Braudels Sozialgeschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts gelesen – und wer von denen, die es gelesen haben, hat es noch in Erinnerung?

„Alltag ist gleichbedeutend mit winzigen Fakten, die räumlich und zeitlich kaum ins Gewicht fallen. Je enger der Blickwinkel, desto besser die Aussicht, in den eigentlichen Bereich des materiellen Lebens vorzustoßen: Die großen Durchzieher informieren über den Fernhandel, über die Wirtschaftssysteme der Staaten und Städte. Engt man dagegen den beobachteten Zeitraum auf winzige Spannen ein, landet man entweder beim Ereignis oder beim Alltäglichen. Das Ereignis beansprucht für sich Einmaligkeit, das Alltägliche wiederholt sich und wird durch die Wiederholung zum Allgemeingültigen oder, richtiger, zur Struktur.“

Soweit Braudel. Dieser Alltag ist nun Gegenstand einer Ausstellung in Villach, die unter dem Titel „Zeitspirale – Alltagskultur in Villach“ die ehemaligen Gebäude der Oberkärntner Molkerei vor dem geplanten Abbruch noch einmal nutzt und bis 30. Juni zum Besuchen einlädt.

Alltag, das ist nicht nur Fron. Das Kultivieren alltäglicher Verrichtungen bietet manche Freude; auch wenn nicht unbedingt Kunst resultiert, so doch da und dort Lebenskunst. Sich dessen zu erinnern erheitert gar manchem das Gemüt. Methodisches Erinnern sieht sich mit verschiedenen Problemen konfrontiert: Im nachhinein ist man immer klüger; man beurteilt weiter zurückliegende Verhältnisse im Wissen um die späteren Ereignisse und verschiebt dadurch die Proportionen. Frühe Ereignisse werden von späteren Begebenheiten verdeckt, andere, unwichtig scheinende, vergessen, dritte, unangenehme oder peinliche, schlicht verdrängt. Die Erinnerung verklärt und schönt das Vergangene, denn wie sollte der einzelne mit der Last der ganzen Geschichte und all seiner Geschichten auf die Dauer leben können. Doch was dem Individuum nachgesehen werden mag, ist für die Gemeinschaft in Abschnitten eine wiederkehrende Aufgabe. Und da provozieren Gegenstände eher ein spontanes, direktes Erinnern, als es selbst Lichtbilder oder gar wohlgesetzte Worte zu tun vermögen.

Das Ausstellen und In-Beziehung-Setzen von Gegenständen des täglichen Gebrauchs schafft eine Stimmung, die vielleicht an Rührung grenzen mag, aber in diesem Zustand meldet sich Vergessenes, und der Kopf akzeptiert auch Verdrängtes, auf daß es bewußt neu geordnet werden kann, um dann abgelegt zu werden. Ausstellen heißt immer Teile für ein größeres Ganzes herzeigen, heißt auswählen müssen, was sowohl ein Auszeichnen und zugleich ein Weglassen bedeutet.

Dieser Aufgabe stellte sich ein Team, das vielleicht nicht zufällig aus drei Frauen bestand. Unter der Leitung der erfahrenen Kulturvermittlerin Elis Zedrosser erarbeitete die Dreiergruppe, der die Künstlerin und Museumswissenschaftlerin Barbara Putz-Plecko und die Architektin Sonja Gasparin angehörten, ein umfangreiches Konzept, das von Sonja Gasparin gestalterisch umgesetzt wurde.

Als Ausstellungsräumlichkeiten stehen die einen Winkel bildenden, zweigeschoßigen Trakte eines Verarbeitungsbetriebs der Molkereibranche zur Verfügung. Das Äußere ist von gediegener Belanglosigkeit, weder schön noch häßlich, ausgeführt mit den baulichen Mitteln, aus denen simple Einfamilienhäuser errichtet werden, aber hier in emotionsloser Aneinanderreihung angewendet. Im Innern rohe Ziegelmauern, roher Betonboden, rohe Elementdecken. Dieses Rohe, Ungehobelte diente der Gestalterin als Hintergrund, vor dem sie thematische Sequenzen arrangierte. Ohne viel Aufwand ergab sich damit ein Kontinuum, das hier betont, dort reduziert, an mancher Stelle zurückgedrängt wurde.

Der Zugang führt über eine lange Rampe ins erste Obergeschoß. Diese vereint Signalwirkung und Notwendigkeit, denn sie erlaubt auch Rollstuhlfahrern die Einfahrt ohne fremde Hilfe. Den Einstieg ins Thema bilden Trümmer und Schutt, zählte doch Villach zu den am stärksten zerstörten Städten Österreichs. An Hand des Warenkorbs von damals und jenes von heute wird die zurückgelegte Entwicklungsspanne aufgezeigt: Was war Brot 1945, was verstehen wir heute darunter?

Eine derart ausgedehnte Schau, die sich über 1300 Quadratmeter erstreckt, kann nicht ohne Unterbrechung durchwandert werden. Aus der Fülle des präsentierten Materials stechen fünf gartenhausgroße, farbige Boxen hervor, die als Stichtag-Kojen jeweils den 11. Mai der Jahre 1951, 1961, 1971, 1981 und 1991 medial evozieren. Sie geben einen Rhythmus vor, sind optische und inhaltliche Stufenbilder, welche die Veränderung pro Zeiteinheit anzeigen. Ihre wechselnden Farbkombinationen bieten Ansatz zu einer raumzeitlichen Orientierung im Ausstellungsablauf, der den Besucher da und dort derart fesselt, daß er im Zeitstrom mitzuschwimmen meint.

Die Masse des Materials stammt nicht vordringlich aus Museen, sondern ist meist direkt aus dem Leben gegriffen. Individuell konkrete Ungleichzeitigkeiten – da der Geschäftseinbau eines gerade geschlossenen Lebensmittelladens, in dem Geselchtes und Dauerwurstwaren die richtige Duftnote beisteuern, dort eine alte Waschküche, in der an die harte Fron des Waschtags, eine heute kaum mehr vorstellbare Belastung der Hausfrauen, erinnert wird.

Und wer als Bub der gehetzten Mutter in der Früh, vor der Schule, noch den Wäscheofen angefeuert hat, wird auch als Mann schlagartig in die Erinnerungsspirale hineingezogen. Dabei stellt man fest, daß der Alltag in Mitteleuropa überall irgendwie verwandt ist. Es hängt nicht an einzelnen Exponaten, sondern an den überall gleichen oder ähnlichen Verrichtungen, die aus den Dingen des täglichen Gebrauchs sprechen, die über jahrelanges Arbeiten gleichsam auf die Gegenstände übergegangen sind, sodaß diese Gegenstände zu uns sprechen wie ein Buch.

Die Umsetzung – das heißt die Antwort auf die Frage: Wie nehme ich als Gestalterin die Besucher bei der Hand? – arbeitet mit „Originalexponaten“, die aus den Haushalten und den anderen Lebensbereichen der Villacher stammen.

Da und dort hat die Gestalterin nicht selbst zu arrangieren versucht, sondern, etwa im Falle der Schaufensterdekoration eines Wäschegeschäfts, die Dekorateurin des örtlichen Kaufhauses beigezogen. Damit sind „Originalpräsentationen“ entstanden und gelungen, die kein Ausstellungsgestalter zu planen vermöchte: Die Fülle der Auslagen, wie sie von der mediterranen Kultur gepflegt wird, der Brauch, alles zu zeigen, was im Geschäft zu kaufen ist, hat sich vor Jahrhunderten bis an den Alpensüdfuß vorgearbeitet und bildet dort einen Teil der bodenständigen Kultur.

Zwischen den Themenbereichen finden sich größere Einzelinstallationen: beispielsweise ein Rundbau mit dem Panorama von Villach, vom Stadtpfarrturm gesehen; dem Problem „Blind sein in der Stadt“ ist ein der Gehörschnecke nachempfundener, dunkler Raum gewidmet, in dem die Stadt nur durch ihre Geräusche präsent ist.

Wer des Flanierens, des Schauens und des staunenden Erinnerns müde ist, kann sich in mehreren, auf den gesamten Bereich verteilten „Sitzecken“ etwas zurückziehen, die Tageszeitung des Stichtags in kopierter Form lesen oder in der einen, etwas größeren Ruhezone, einem Café, dem Musikautomaten die verschiedensten Schlager aus fünf Jahrzehnten entlocken. Die erste dieser Rückzugnischen ist mit Bänken aus Eisenbahnabteilen gestaltet. Sie erinnert uns auch daran, daß früher viel mehr Reisen mit dem Zug unternommen wurden, daß der Reiseradius viel kleiner war.

Eine weitere Rauminstallation gilt einem Kinderzimmer, das halb im Stil der vierziger Jahre, halb in dem der neunziger Jahre eingerichtet ist. Daß in den Vierzigern zwei bis drei Kinder ein Zimmer teilten, bleibt nicht unerwähnt.

Neben den materiellen Dingen galt das Interesse der Konzeptorinnen und der Gestalterin auch Persönlichkeiten der Stadt Villach, deren Meriten nicht offizieller Art waren, sondern durch die Art ihrer Lebensweise gewachsen sind. Auffallend darunter der immer in kurzen Hosen und barfuß gehende Josef Kaus, der seine Tageskommentare in knapper, poetischer Form niederschrieb. Er tat dies auf einer Schreibmaschine mit schwarzrotem Farbband, solcherart eine eigenwillige, aber sehr interessante typographische Wirkung hervorrufend.

Zum Ausklang tritt der Besucher in Konfrontation mit den lebensgroßen Photographien dieser Ausnahmepersönlichkeiten. Persönlichkeiten, die dennoch zum Anfassen waren und sind, keine übersteigerten, überdimensional großen Helden, die dem Normalmenschen jeden Mut zur Selbstentfaltung nehmen. Die Konfrontation „Ich – Du“, die Frage „Wer bin ich eigentlich selber?“, die sich der Besucher, die Besucherin stellen mag, wird so nicht zum Zwang, sondern zu einem spielerischen Ausflug. Villach und diese Ausstellung sind jedenfalls eine Reise wert.

Die Ausstellung „Zeitspirale – Alltagskultur in Villach“ ist noch bis 30. Juni 1995 in den ehemaligen Gebäuden der Oberkärntner Molkerei, Villach, zu sehen.

13. Mai 1995 Spectrum

Kisten im Kontext

Die Wiener Architekturszene steht in dem Ruf, spezifische Aufgaben immer etwas komplexer und hintergründiger als andere zu interpretieren und zu bewältigen. Doch wie hält sie es mit der aktuellen Strömung der „Neuen Einfachheit“? Zwei Beispiele.

Nicht immer sind es ausgeführte Projekte, an denen die neuesten Tendenzen ablesbar werden. Oft ist es das kulturseismische Instrument des Architektenwettbewerbs, wo sich Entwicklungen – nicht selten bei zweit- oder drittgereihten Projekten – bemerkbar machen. Denn weil das Neue meist auch etwas fremd wirkt, kommt es nicht immer dazu, daß sich eine Mehrheit des Preisgerichts dafür zu begeistern vermag. Dem aufmerksamen Beobachter aber bieten die jeweils interessantesten Arbeiten aus mehreren Verfahren ein signifikantes Anschauungsmaterial für einen Blick in die Zukunft. Während vor allem die aus der deutschsprachigen Schweiz stammenden Vertreter der „Neuen Einfachheit“ stark objektfixiert entwerfen und meist auch ziemlich detailverliebt agieren, was von den Epigonen des In- und Auslands in der Art einer zweiten Ableitung verflachend kopiert wird, hat sich in Wien eine an mehreren Bauten und Projekten feststellbare zeitgenössische Strömung herausgebildet, die zwar ebenfalls mit einfachen geometrischen Körpern arbeitet, aber sowohl deren Stellung im Raum als auch ihr Verhältnis zu näheren und ferneren Nachbarbaukörpern exakt zu bestimmen trachtet. Ein erstes gebautes Beispiel ist die Kunsthalle Krems von Adolf Krischanitz.

Weniger ins Bewußtsein gerückt sind zwei Wettbewerbsprojekte, die Ende 1994 für ein mit einem Supermarkt kombiniertes Kirchgemeindezentrum in Hörbranz, Vorarlberg, und Anfang 1995 für das Jüdische Museum in Wien ausgearbeitet wurden. Beide zeigen den genannten Umgang mit einfachen Körpern, die in ein spezifisches Verhältnis zum Umraum treten, in sehr ausgeprägter Form.

Hörbranz ist eine große Gemeinde nördlich von Bregenz. Auch im Dorfzentrum stehen die Gebäude in einem lockeren Gefüge, sodaß die öffentlichen Räume nicht durch die Platzwände aneinandergereihter Fassaden gebildet werden, sondern von der räumlichen Abstrahlung der Einzelgebäude gleichsam magnetfeldartig definiert sind. Mitten durch die unverstellte Weite ziehen sich die linearen Elemente Straße und Bach, die als Leiter von Strömen (Wasser, Verkehr) ebenfalls ein imaginäres Feld erzeugen können. In diese heterogene Situation war ein Supermarkt und ein Kirchgemeindezentrum mit Pfarrsaal und Jugendräumen einzuplanen. Der dreieckförmige, angerartige obere Kirchplatz, im Westen vom Kirchturm überragt, im Norden von der Bundesstraße tangiert und nach Osten bei leicht ansteigendem Terrain eher auslaufend, erhielt mit zwei präzisen Setzungen eine unverwechselbare Identität.

Das Wiener Atelier „Stoß im Himmel“, das sich aus den jungen Architekten Robert Felber, Mark Gilbert, Claus Prokop, Stefan Rudolf und Manfred Schluderbacher zusammensetzt, zeichnet für das Projekt verantwortlich, das zum Sieger gekürt wurde. Nach Osten schließen die Architekten den Platzbereich mit dem breitgelagerten Volumen für den Supermarkt ab. Mitten in den Freiraum wurde nun der längliche, schmal-hohe Quader für das Pfarrsaalgebäude plaziert. Seine Ausrichtung zielt nach Westen, an der Kirche vorbei, in den Längsraum der Bundesstraße. Wenn man nun von unten her auf dieser Straße in das Dorfzentrum fährt, tritt einem das Kirchgemeindezentrum mit seiner Stirnseite entgegen, es bremst den Verkehrsansturm, läßt ihn aber dennoch ungehindert links vorbei.

Mit seiner ausgewogenen Stellung gelingt es dem einfachen Quader im Verein mit den anderen Gebäuden, einen westlichen Platzteil auszugliedern, der, vom Kirchturm dominiert, sowohl Ruhe und etwas Weihe als auch Geborgenheit vermittelt. Der Pfarrsaal, im Obergeschoß an der Stirnseite gelegen, tritt dazu in ein besonderes Verhältnis: Er bildet den eigentlichen Kern der räumlichen Verdichtung, umgekehrt ergibt sich von dort aus ein attraktiver Blick die Dorfstraße hinunter.

An der breiten Südseite des Bauwerks liegt der Eingang. Davor bleibt Raum für fröhliche Anlässe der Dorfgemeinschaft, die Stimmung ist weltlicher und erträgt im Alltag auch geparkte Autos. Ostseitig schließt der Vorbereich des Supermarkts an, wo wochentags geschäftiges Hin und Her viel Platz erfordert.

Obwohl der Baukörper eine einfache Kistenform aufweist, ist sein Größe, seine Stellung und Ausrichtung sowie seine Proportionierung derart präzis auf die vielgestaltige Umgebung abgestimmt, daß sinnvolle Räume und Zonen für entsprechende Nutzungen entstehen. Von schlichter geometrischer Gestalt, tritt der Körper trotzdem in architektonische Kommunikation mit den Nachbarbauten. Derselbe Körper könnte an anderer Stelle beziehungslos und stumm, ja autistisch isoliert wirken. Dies zeigt, daß architektonische Wirkung nie nur vom Objekt ausgeht, sondern sich immer im Wechselspiel mit dem Kontext ergibt.

Das zweite Beispiel ist der Entwurf für das Jüdische Museum in Wien von Ursula Klingan und Andrea Konzett. Ihr Wettbewerbsbeitrag unterlag vor allem aus Kostengründen dem klugen Low-budget-Projekt von „Eichinger oder Knechtl“. Die architektonische Qualität der Arbeit war nie in Zweifel gezogen worden.

Das ehemalige Palais Eskeles in der Dorotheergasse 11 gehört nicht zu den großartigen Wiener Adelspalästen. Der Grundriß verrät, daß bei seiner Entstehung drei oder gar vier gotische Häuser zusammengefaßt wurden, denen man eine vereinheitlichende Fassade applizierte – früher ein normaler, kostensparender Vorgang, durch den möglichst viel bauliche Altsubstanz bewahrt werden konnte. Im Verlauf der wechselhaften Geschichte blieb vom ehemaligen Ausbau nur wenig erhalten. Für die Nutzung als Jüdisches Museum sollte das Gebäude daher nach Möglichkeit erweitert und aufgewertet werden. Die zur selben Generation wie „Stoß im Himmel“ gehörenden Architektinnen Ursula Klingan und Andrea Konzett passen ihren schachtelartigen Neubauteil von oben in den Hof ein, sodaß rundherum zirka 60 Zentimeter Schlupf offen bleiben. Die Leichtbaukonstruktion in Stahl wird von den Hofmauern getragen. Der Boden des Quaders bildet die Decke eines zwei Stockwerke hohen Raumes im Eingangsgeschoß.

Diesmal tritt die geometrisch exakte Quaderform in einen räumlich sehr engen Kontakt zur Nachbarschaft, es bleibt nur eine schmale Lichtfuge offen. Zum Erdboden hält der autonome Körper einen größeren Abstand, sodaß ein repräsentativer Raum entstehen kann. Sowohl aus betrieblich-funktionellen Gründen als auch zum Erleben dieses Raumes quert ihn im hinteren Bereich ein Steg in der Höhe des ersten Obergeschoßes. Mit dieser konzeptuellen Maßnahme gelingt es, dem Palais eine architektonische Mitte zu geben und es damit entscheidend aufzuwerten. Obwohl Alt und Neu in ihrem architektonischen Ausdruck deutlich verschieden sind, erzeugen die beiden Teilsysteme ohne Identitätsverlust gemeinsam einen neuen Binnenraum von hoher gestalterischer Qualität.

In Summe betrachtet, weisen die kargen Kisten, die ihren geistigen Ursprung in Wien haben, eine spezifische Eigenart auf: Sie sind kommunikativ. Ihre Entwerfer sind offenbar nicht zuvörderst an einem modischen Effekt interessiert, obwohl sie punkto Aktualität durchaus mithalten können, sondern sie befassen sich mit den neu entstehenden Räumen und Zwischenräumen sowie mit den möglichen Aktivitäten in diesen Bereichen.

Diese Haltung bezieht ihr Qualitätsstreben aus der schon seit Jahrzehnten geführten Wiener Architekturdiskussion. Damit erweist sich Wien auf dem Architektursektor als echte Metropole, in der sich die Architekturpraxis ständig auf hohem Niveau weiterentwickelt.

Anders als bei lokalen Konjunkturen in der Provinz, die nach fünf, zehn Jahren bis auf ein paar Ausnahmefiguren wieder einschlafen, hält ein engagierter Nachwuchs die Wiener Szene lebendig. Zusammen mit der Tradition einer differenzierten Betrachtungsweise bildet dies den Treibstoff für den Fortbestand einer hohen Architekturkultur. Dies gilt selbst dann, wenn nicht jedes gute Projekt auch ausgeführt wird.

25. März 1995 Spectrum

Andere haben das nicht

Die einen streiten, die anderen bauen einfach – eine Kunsthalle zum Beispiel. Krems ließ die seine von Adolf Krischanitz planen. Funktionell ist sie geworden, schlicht und elegant.

Es war eine große Jury, die vor bald drei Jahren in einem Gutachterverfahren unter sechs Projekten einstimmig eines als das beste erkor. Namen wie Friedrich Achleitner, Peter Baum, Hermann Czech und Werner Hofmann gaben der Entscheidung Gewicht. Adolf Krischanitz, assistiert von seinen langjährigen Mitarbeitern Jürg Meister und Gerhard Schlager, sollte die neue Kunsthalle in Krems bauen. Am 31. März wird die Halle mit einem Tag der offenen Tür vorgestellt, im Mai wird mit einer von Werner Hofmann konzipierten Ausstellung eröffnet.

Als Standort der neuen Kremser Kunsthalle war die alte Tabakfabrik vor dem Kremser Tor der Steiner Altstadt auserkoren worden. Sie besetzt seit eineinhalb Jahrhunderten an der Steiner Landstraße ein Eckgrundstück, dessen linker Rand von einer Verbindungsstraße definiert wird, die nach Norden führt. Das zweigeschoßige, breitgelagerte Gebäude blickt mit 17 Fensterachsen über eine von Straßenanlagen besetzte Fläche auf die Donau, der den Namen „Franz-Zeller-Platz“ trägt. Im kommenden Jahr soll eine Tankstelle abgesiedelt und ein öffentlicher Raum geschaffen werden, der diesen Namen verdient. Denn Krems ist stolz auf seine neue Kunsthalle.

Der im Grundriß winkelförmige Altbau schloß an der Rückseite einen Hof von zirka 27 mal 32 Meter ein. Um die anderen beiden Hofwände zieht sich die hohe Gefängnismauer, überragt von einem Wachturm. Zu dieser Mauer müssen bauliche Anlagen fünf Meter Abstand einhalten. Damit war der Spielraum für einen Neubau definiert. Im Innern wies der in mehreren Etappen erstellte Bau im Erdgeschoß eine von gedrungenen, geböschten Pfeilern getragene Halle auf. Darüber lag ein Fabrikationssaal, von einer Doppelreihe schlanker Holzsäulen durchzogen, die im neueren Flügel in gleicher Reihung aufgestellt, aber aus Gußeisen gefertigt waren. Der nach hinten anschließende Gebäudeflügel wies kleinere, von starken Mauern umschlossene Räume auf. Der Bauzustand war nicht besonders gut, da und dort leckte das Dach, es war höchste Zeit, daß etwas gegen den weiteren Zerfall unternommen wurde.

Das Konzept von Adolf Krischanitz sah vor, den Altbau in seiner Struktur weitgehend zu erhalten und im Hofbereich zu bauen. Im Neubauteil sollte auch das Raumklima, an das Konservatoren und Leihgeber heutzutage hohe Ansprüche stellen, besser kontrolliert werden können. Mit dieser grundlegenden Idee ergab sich von Anfang an eine klare Ordnung, die versprach, ökonomisch günstig zu werden.

Die Umsetzung erscheint fast simpel: Eine längliche Box steht im größtmöglichen Abstand zum Vordertrakt im Hof. Sie enthält auf halber Geschoßhöhe den neuen Ausstellungsraum mit einer Lichtdecke, die von hochliegenden längsseitigen Fensterbändern mit Tageslicht versorgt wird. Im Souterrain der Box ist ein gestufter Vortragssaal untergebracht. Beide Ebenen werden vom Straßentrakt her zur Rechten mit einer Rampenanlage erschlossen, deren dritter Lauf das Obergeschoß erreicht.

Zur Linken ist dem rückwärtigen Flügel des Altbaus ein zweigeschoßiger Servicegang vorgelegt. Dem langgestreckten Hauptbau an der Steinerstraße wurde also ein kleiner Neubautrakt zugesellt, der mit der Rampenanlage und dem Servicegang U-förmig einen 18 mal 14 Meter messenden glasgedeckten Innenhof umschließt. Die vierte Seite wird von der Rückfassade des Straßentrakts gebildet.

Mit dieser Konzeption gelingt es, mit den Neubauteilen unter der rückseitigen Trauflinie zu bleiben, nur die Box, weil Abstand haltend, kann mit dem Oberlichtgaden über diese Höhe hinausreichen. Das klar formulierte Konzept läßt folgende Räume und Raumgruppen entstehen: Im Straßentrakt die Pfeilerhalle des Eingangsbereichs mit Kasse, Shop, Café und Nebenräumen; dahinter der Innenhof, flankiert von der Rampenanlage und als Abschluß der Ausstellungsraum in der Box. Im Obergeschoß liegen vorn zwei Ausstellungssäle. Den Anschluß zum rückwärtigen Flügel bildet eine Treppe und daran schließen weitere Ausstellungsräume. Anlieferung und Lager sind darunter im Erdgeschoß angeordnet, ein Transportaufzug dient der Vertikalbeziehung.

Die Pfeilerhalle wird dominiert von den gemauerten, verputzten, pylonartig geböschten Stützen, deren Stärke in der Längsrichtung der halben Gewölbespannweite und in der Querrichtung, wo sie etwas größer ist, einem Viertel entspricht. Im Altbestand hatten diese Pfeiler mit den rundgewetzten Kanten eine enorme Raumverdrängung. Nun sind sie mit scharfen Kanten versehen; die geometrische Abstraktion macht sie leichter, der Zwischenraum erscheint weiter. Die fast bedrängende Situation ist relativiert.

Der Innenhof ist an zwei Seiten, vor Servicegang und Box, von Sichtbetonwänden begrenzt. Zur Rampenanlage filtern Betonstützen und schräg eingesetzte Glastafeln den Raum. Schlanke Betonträger überspannen parallel zum Straßentrakt den Hof, sie sind nur im Neubaubereich auf der Mauer vor dem Dienstgang und auf den Stützen vor den Rampen aufgelagert, der Altbau bleibt unbelastet.

Damit betonen sie die Unterscheidung von neu und alt. Die ehemaligen Fenster der Hoffassade erscheinen als großblockig ausgemauerte, unverputzte Felder, aber gestrichen in der Wandfarbe. Eine sehr subtile Erinnerung an den früheren Zustand. Der Sichtbeton, ausgeführt von einer mittelgroßen niederösterreichischen Baufirma, ist von hoher Qualität. Die fertige Oberfläche vermittelt zurückhaltende Lebendigkeit.

Natürlich dient der Hof auch als Ausstellungsraum; die siebbedruckten Gläser filtern bereits 60 Prozent des Sonnenlichts, um UV-Schäden an Kunstwerken zu vermeiden. Die Rampenanlage bildet ein wichtiges Element: Sie ist explizit „Weg“. Zugleich findet schleifend die Niveauveränderung statt, wobei der Blick zum Hof durch den Stützenrechen von allen drei Läufen aus möglich ist. Man ist getrennt und hat dennoch Anteil am großen Binnenraum. Auch hier wieder Beton mit fast samtiger Oberfläche. Ein feiner Handlauf, metallener Rundstab an gekantetem Blech, die Farbe fast Ton in Ton mit dem Beton.

Die Rampe bildet den Raum für die Passegiata, das Gehen zwischen den Stationen der Kunstbetrachtung. Der Ausstellungsraum in der Box ist unspezifisch weiß, mit matter Lichtdecke. Am Boden kein hölzernes Parkett sondern glatt gestrichener Betonestrich, gespachtelt, von mildem Grau. Der Raum ist hoch und lang. Grundrißproportionen etwa zwei zu fünf, nur geringfügig breiter als hoch.

Dieser Raum stellt Anforderungen, seine Möglichkeiten sind erst im Verlauf der Ausstellungstätigkeit auslotbar. Unbespielt zeigt er nur seinen unspezifischen Charakter, wie dies einer Kunsthalle ziemt. Die Farben im Innern sind – neben dem Weiß der Bilderwände – fein abgestufte Grautöne. Es entsteht eine zurückhaltende Raumstimmung in Erwartung wechselnder Kunstpräsentationen.

Oben, in den beiden großen Ausstellungssälen, entsteht durch die vielen Fensteröffnungen und die auf die Zwischenfensterpfeiler bezogenen Säulenpaare eine helle und zugleich gebundene Stimmung. Der ehemalige Produktionsraum ist weiterhin präsent; das schmalere Mittelfeld der dreischiffigen Halle wirkt deutlich profanierend. Beim Rückweg ergeben sich die Schritte auf der schiefen Ebene der Rampe fast von allein. So also hat der Architekt konkretisiert, was dem Preisgericht damals als abstraktes Versprechen in Planform und in einem maßstäblichem Modell vorlag. Krems und damit auch Niederösterreich besitzt nun eine Kunsthalle, die wegen ihrer Unterteilbarkeit viele Möglichkeiten für Ausstellungen anbietet: Der räumliche Rahmen kann alt oder neu, von stofflich-schwer zu dematerialisiert-leicht oder von mittel bis groß sein. Die Baustruktur weist mehrere architektonisch-räumliche Grundkonfiguration auf, die sehr ruhig und gelassen daherkommen und damit der Kunst einen guten Rückhalt bieten werden. Adolf Krischanitz ist hier eines seiner besten Werke gelungen.

Nach dem Hinaustreten ein Blick zurück. Nichts deutet von außen auf den Zubau im Hof hin, die historistischen Mauern sind gelb, die Fenster außen braun gestrichen. Farbtöne aus der Welt des Tabaks.

11. Februar 1995 Spectrum

Bibliothek, Halle, Hain: Schule zum Leben

Nicht nur Wien baut attraktive Schulhäuser. Peter Riepl und Thomas Moser haben das Welser Gymnasium an der Wallererstraße erweitert und völlig verändert. Ein Lokalaugenschein.

Die neue Schulbibliothek befindet sich in einer lichten Halle. Ein Hain aus schlanken Rundstützen trägt die betonierte Decke. Der zweigeschoßige Raum ist zugleich Eingangshalle und Verbindungsgelenk zum etwa 30 Jahre alten Bestand. Peter Ripl und Thomas Moser, ein Architektenteam mit Standorten in Linz und Innsbruck, zeichnen für die Erweiterung und Erneuerung des Gymnasiums an der Welser Wallererstraße verantwortlich.

Bibliothek, Hain und Halle; mit diesen Begriffen wird eine Stimmung eingefangen, die grundsätzlich positiv besetzt ist. Bibliothek, das ist auch im Zeitalter von Bildschirm, Festplatte und CD-ROM ein Hort des Wissens wie der Träume, der breiten Information wie der spannenden Unterhaltung. Wird man demnächst Krimis oder Liebesgeschichten am Bildschirm lesen ? Wohl kaum. Das Buch bleibt als ruhiges Gegenüber in der spezifischen Stimmung der Lektüre erhalten, und damit bleibt auch die Bibliothek bewahrt. Zwar gibt es immer wieder jene selbst ernannten Avantgardisten, die das Ende des Buches prophezeien, doch das sind grobe Vereinfacher komplexer soziokultureller Prozesse. Eine Bücherei ist Kulturspeicher, und sie hat Raumbedarf. Und zwar nicht irgendein Zimmer, sondern „Raum“. Wenn aber „Raum“ gefordert ist, heißt das immer Architektur. Diese Forderung reicht vom Prunksaal der Nationalbibliothek über den Lesesaal von St. Geneviève in Paris bis zur braven Schulbibliothek und ist auch in letzterem Fall in angemessener Weise zu erfüllen.

Nun aber die Halle: Eine Halle meint unter anderem auch einen Raum mit außergewöhnlicher Raumhöhe. Das Wort hat einen festlichen Klang. Hallen sind meist halböffentlich, sie dienen verschiedensten Veranstaltungen. „Halle“, das ist herrschaftlich. Wie bieder tönt daneben das Wort Saal. Nun aber Halle und Hain. Ein Hain wird gebildet aus einer Gruppe meist hochstämmiger Bäume in lockerer nicht unbedingt geometrischer Anordnung, aber mit einem dichten Blätterdach, wo die Sonne nur durchblinzelt, wenn ein Windstoß die Zweige bauscht. Hatte nicht die Schule von Athen in einem kühlen Hain ihren Ort ? Mit dem Stützenhain in der Halle wird ein positives Bild transportiert. Der anspruchsvolle Empfang gilt Schülern und Lehrern. Doch zurück zur Schule in Wels, deren Eingangshalle und Bibliothek den geistigen Vorfrühlingsspaziergang provoziert hat. In einer lockeren Vorstadtbebauung, zwischen Wohnanlagen und Einfamilienhäusern, war in den sechsziger Jahren neben einer bestehenden Schule ein gestalterisch und baulich sparsamer Neubau errichtet worden. Zweihüftig an einem Gang angeordnete Klassenzimmer weisen einen eher längsrechteckigen Zuschnitt auf. Am nordwestlichen Kopf setzt quer eine Turnhalle mit knappen Nebenräumen an. Damals war das Land soeben aus dem Gröbsten heraus. Wachsende Kinderzahlen verlangten eiligst nach mehr Schulraum. Schnell und kostengünstig hieß die Losung.

Das vielleicht dreißig Jahre alte Bauwerk ist weder häßlich noch schön. Es ist konstruktiv soweit in Ordnung, doch wurde aus heutiger Sicht eine wärmetechnische Nachrüstung nötig, vom Platzmangel ganz zu schweigen. Der voriges Jahr fertiggestellte Zubau umfaßt daher ungefähr gleichviel umbauten Raum wie der Bestand. Von den Nutzungen her wurde aus der ehemaligen Dependence eine selbständige Schule mit Mehrzweckaula, Musikzimmer, Klassenräumen für den naturwissenschaftlichen Unterricht (sogenannte Sonderklassen), zwei Turnhallen sowie natürlich den Büros für die Schuldirektion. Der von der bestehenden Turnhalle gebildete Ansatz zu einem Winkel wurde verstärkt, sodaß dem zweigeschossigen Altbau ein dreigeschossiger Neubauflügel entspricht. In dem nach Süden geöffneten Winkel steht ein mächtiger Solitärbaukörper von der Form eines Kegelstumpfs. Er enthält die Aula, die mit der eingangs genannten Halle in Verbindung steht. Im Obergeschoß liegt der Musikvortragsraum. Er ist über zwei Stahlbetonscheiben in den nach oben kegelförmig abnehmenden Raum gehängt. An allen vier Seiten sind die flach segmentförmigen Resträume einsehbar. Vorn und hinten gehören sie zum Luftraum der Aula und lassen von oben her das Tageslicht über den schalungsrohen Beton streifen, der dadurch dramatisch-plastisch hervortritt. An der dritten Seite erscheint dieser Restraum als vom Kegelmantel eingehüllter Außenbereich, der durch schmalhohe Öffnungen von der Pausenfläche her betretbar ist. Das räumliche Erlebnis mit der hochliegenden Öffnung zum Himmel ist ungewohnt-spannungsvoll. An der vierten Seite schließt die Halle an mit einem breiten Zugang zum Musikraum im ersten Obergeschoß. Dennoch weist der spezifische, konische Innenraum eine hohe typologisch-räumliche Geschlossenheit auf. Er ist etwas Besonderes und verleiht der Schule Identität. Vom Hof her zeigt sich ein relativiertes Bild. Eine Außentreppe windet sich spiralig am Kegelmantel hinauf und verbindet die Pausenflächen auf dem Dach mit jener zu ebener Erde. Die offensichtliche Besteigbarkeit bringt den sonst abweisend wirkenden Baukörper auf sympathische Weise näher. Auf dem Dach des Kegels und im Hof sind verschiedene Bereiche geschaffen worden, in denen sich Schülergruppen in der Pause sowie vor und nach den Schulstunden aufhalten können, auch dem Bewegungsbedürfnis wird mit den Wegen und Stiegen Rechnung getragen.

Das Äußere des Schulneubaus ist mit Alu-Blech verkleidet; nur da und dort blitzen verputzte Mauerflächen in Zimtfarbe hervor wie das Wams unter den Metallplatten eines Harnischs. Noch ist das Blech metallen glatt und glänzend, doch es soll mit der Zeit Patina ansetzen und als Folge der Dilatation bei Temperaturwechseln einen viel lebendigeren Oberflächencharakter erhalten. Vielleicht reflektiert es bald schillernd wie ein Fischleib. Der Altbau, vorher in Blau und Grau, erhielt einen ebenfalls zimtfarbenen Außenanstrich, was die beiden Teile nun dezent zusammenbindet. Im Innern folgt die Erschließung den Vorgaben des großen Winkels der Gesamtanlage. Die Stichgänge zu den Klassenzimmern werden da und dort unterbrochen von räumlichen Ausweitungen, Zonen für den kurzen Aufenthalt, für das Zusammenstehen in kleinen Gesprächsgruppen zwischen den Schulstunden. Damit sind an dieser Schule zahlreiche potentielle Orte der Interaktion geschaffen worden. Denn mindestens so wichtig wie das Lernen in den Klassenzimmern ist in einer Schule das gesellschaftliche Leben der Schüler untereinander in kleinen und größeren Gruppen. Während Erwachsene oft mühsam und wiederholt vergeblich den Schülern den Stoff zu erläutern und in der Not einzutrichtern versuchen, verläuft die Vermittlung unter den Schülern ganz leicht. Hier verbreiten sich Neuigkeiten, Erkenntnisse, Verhaltensweisen und Moden blitzschnell und ohne Nachhilfestunden. Diese wichtige soziokulturelle Nebenfunktion hat einen nicht eindeutig faßbaren Raumbedarf. In einem konsequent durchfunktionalisierten Grundriß werden wir diese Freiräume nicht mehr finden, weil sie in keinem Raumprogramm erwähnt und beziffert sind. Es liegt am Ermessensspielraum des Architekten und der beauftragenden Behörde, ob derartige Zwischenräume entstehen. Für das Erleben der Schule durch die jungen Menschen sind sie jedoch von vitaler Bedeutung. In unspezifischen Nischen dieser Art kann sich womöglich so etwas wie ein Heimatgefühl ansiedeln. Man wird mir jetzt entgegenhalten, es komme alles auf die Lehrer und ihren Unterrichtsstil an. Dem ist zu erwidern, daß ein Schulgebäude mit positiven Raumstimmungen einen guten Unterricht sicher nicht erzwingen kann. Ein Bauwerk aber, das räumlich armselig ist, kann sich durchaus erschwerend auswirken und auf die Gesamtstimmung drücken. Außerdem ist „Schule“ immer eine Interaktion von Lehrenden und Lernenden. Die Verantwortung des Lernens liegt bei beiden Seiten. Der wechselvolle Prozeß von Geben und Nehmen ist anspruchsvoll und kann kaum abschließend definiert werden. Gebäude für derart offene und nicht mechanische Prozesse müssen „Luft“ beziehungsweise „Zwischenräume“ aufweisen. Dies zeigt sich nicht allein von außen. Den klaren geometrischen Formen der von uns betrachteten Schule ist jedenfalls ein Innenleben eingeschrieben, das insgesamt anregend wirkt.

Nach einem kurzen Rundgang kommen wir zurück in die hohe Halle mit ihren schlanken Vertikalen. Durch die seitliche Glaswand fällt das Tageslicht. Ein schlanker Steg spannt sich davor; er wird fast unmerklich über Konsolen von einer Doppelreihe der Stützen getragen. Daneben zieht sich eine Kaskadentreppe in die Obergeschoße, ihre seitlichen Brüstungen tragen statisch aktiv die Treppenläufe. Hier sind die Konsolen an den Rundstützen etwas kräftiger ausgefallen, vermutlich eine Maßnahme gegen Schwingungen oder zur Übertragung der Schubkräfte in die Seitenwangen. Doch der Raum wird davon in seiner Qualität nicht beeinträchtigt. Er strahlt Ruhe und durchaus auch Würde aus. Dies wird sich gewiß ändern, wenn die Schüler über Treppen und Steg tollen. Allerdings wage ich zu behaupten, daß nicht wenige sich in zwei, drei Jahrzehnten ob seiner dichten architektonischen Stimmung gern an das Schulgebäude erinnern werden.

21. Januar 1995 Spectrum

Dann wissen wir mehr

Zwei Häuser, in denen sich zufrieden leben läßt, eines im Burgenland, eines in Niederösterreich. Zwei Beweise dafür, daß die gängigen Kriterien zur Beurteilung von heutiger Architektur nicht mehr greifen.

Kobersdorf im Burgenland: An der Rückseite von an der Straße aufgereihten Handtuchgrundstücken, dehnt sich ein großer Garten, der von einer norddeutsch aufgemachten Kleinvilla beherrscht wurde. Teile davon sind noch erhalten, wurden aber einem derart intensiven Transformationsprozeß unterworfen und einem vielgestaltigen größeren Ganzen einverleibt, daß ein Betrachter ohne eingehende Aufklärung nicht erkennen wird, welche Teile des vor ihm stehenden völlig neuen Hauses vom vorhergehenden stammen. Aber das ist auch nicht so wichtig.

Das angesprochene neue Haus dient einem Arzt, der seine Praxis im vorgelagerten, eingeschossigen Gebäudeteil eingerichtet hat. Urheber der stark plastischen Verformung ist der Architekt Otmar Hasler; 1955 geboren und im Burgenland aufgewachsen, hat an der Wiener TU studiert und verbrachte seine Praxiszeit im Büro von Luigi Blau und in den Ateliers von Hans Hollein und Heinz Tesar.

Der komplexe Ansatz des Neubaus sieht für den Patienten oder den Besucher, der zwischen zwei landwirtschaftlichen Ökonomiegebäuden hindurch in einer trompetenartigen Verengung auf das Gebäude zustrebt, folgendermaßen aus: Im Vordergrund steht der „Zweckbau“ für die therapeutische Praxis, dahinter türmt sich unter breit auskragendem Dach ein drei Geschoße hoher Teil des Wohnhauses, den ein zweigeschoßiger Körper anschneidet, welcher in Querrichtung daran angefügt ist.

Die kubischen Gebäudeteile scheinen sich um ein imaginäres Zentrum zu entwickeln, das sich als von der Gartenseite her zugänglicher, intimer Hof erweist. Aus diesem „Innenraum“, der zum Außenraum seitlich und nach oben Verbindung hält, stößt, einer Nadel gleich, der schlanke Kamin in die Höhe und markiert den virtuellen Drehpunkt. Wir haben also ineinandergreifende Volumen und eine fast spiralig eindrehende, dynamische Abfolge der Baukörper vor uns.

Die beiden Häuser beweisen, daß heutzutage Stilmerkmale für die qualitative Beurteilung und zeitliche Einordnung von Architektur untauglich sind. Der Betrachter muß sich tiefer einlassen.

Obwohl jetzt der Eindruck entstehen könnte, es handle sich um ein betont formalistisches und womöglich unpraktisches Gebäude, ist das Gegenteil der Fall. Nicht nur die innere Organisation, auch der äußere Ausdruck ist eindeutig und leicht verständlich. Dem Patienten öffnet sich breit ein Fensterband neben der Eingangstüre, welche zwischen einen kräftig nach vorn drängenden Mauerwinkel und einen containerartig in das Gebäude eingeschobenen, niedrigeren Baukörper gespannt sind. Hinter dem Glas liegt der Wartebereich, an den die Untersuchungs- und Therapieräume anschließen. Der genannte „Container“ zur Linken bildet ein Übergangselement. Von der Praxis und vom Wohnhaus her zugänglich, enthält er das Arztbüro, das auch als zweite Ordination dient. Wenn wir die beiden Häuser nebeneinanderhalten, finden wir zwei Haltungen, die beide nicht an sich „gut“ oder „schlecht“ sind, sondern ihre Bestätigung im Durcharbeitungsgrad finden.

Der aus dem Gebäude vorstoßende würfelartige Containerkopf schirmt den
Eingang zum Wohnhaus ab. Der private Besucher gelangt durch den Eingang in das erhalten gebliebene Stiegenhaus des Vorgängerbauwerks, wo eine hübsche alte Lärchenholztreppe den Betrachter ein erstes Mal auf den Transformationsprozeß hinweist. Das Erdgeschoß enthält eine weiträumige Küche und einen großzügigen Wohnraum mit Klaviernische.

Über die hölzernen Stufen steigt man ins Obergeschoß in einen gläsernen Wintergarten, der, nach Süden orientiert, als Sonnenfänger dient. Von hier gelangt man in einen zweiten, privateren Wohnraum oder in einen Gang, an dem die Schlafzimmer und das Bad liegen. Der Weg zum zweiten Obergeschoß windet sich nun um das Bad herum; man gelangt in einen Freizeitraum hinauf, der sich mit breiten Fensterwänden nach Süden und Osten öffnet, sowie auf die große Terrasse, die hinter einer schützenden Mauerbrüstung liegt.

Öffentlichkeit und Privatheit sind an diesem Bauwerk fein dosiert und über mehrere Schritte abgestuft zugänglich. Ein bißchen geheimnisvoll ist das Gebäude auch, aber nie abweisend, sondern ansprechend. Die baulichen Vorgaben überspielend, erlaubte ein sehr freier, aber dennoch disziplinierter Entwurfsvorgang eine reichhaltige Entwicklung zu einem spannenden räumlichen Gefüge, das in der Wiener Tradition des spielerischen Umgangs mit Raum steht.

Die Konstruktion ist durchaus beherrscht, drängt sich aber nicht in den Vordergrund. Die Oberflächen sind meist glatt und oft mit Farbe dematerialisiert. Nur die Dachkonstruktion in Holz zeigt den konstruktiven Aufbau: Träger und Platte, beides so luftig, als wären sie nur leicht aufgelegt und könnten jederzeit wegfliegen. Das formale Wollen manifestiert sich deutlich hinter dem Produkt, und doch ist die Form nie absolut, sie wird jeweils soweit verändert, daß das angenehme Wohnen vorgeht.

Hintersdorf in Niederösterreich: Mit einer ganz anderen, nicht minder engagierten Haltung ist hier ein völlig neues Einfamilienhaus errichtet worden. Für den Entwurf zeichnen die Architekten Christa Prantl und Alexander Runser verantwortlich. 1960 beziehungsweise 1955 geboren und Absolventen der TU, nennen sie ihr Werk „Haus am Hang“. Auf einer langen Handtuchparzelle stehend, nimmt es mit seiner geschlossenen Längsrechteckform darauf Bezug.

Zuerst, denke ich, war die Idee des Daches: ein langes, von keiner Gaupe gestörtes Satteldach mit ortsüblicher (!) Neigung. Das Prinzip des Schirmens ist in den Vordergrund gerückt. Diese Rolle wird betont mit den je zwei Stützen an den Stirnseiten. Obwohl dazwischen noch diverse vertikal tragende Elemente im Einsatz stehen, bewirkt das durchgehende Fensterband, daß die vier Stützen und das Dach zu einem primären Teil der formalen Gesamtkonzeption werden. Doch fragt man sich, ob dann die Dachwasserrohre nicht zu diesem Teil gehören sollten und deshalb eher an den Stützen herunterkommen müßten?

Man sieht, wie bei nach Klarheit strebenden Konzepten Nebensächlichkeiten rasch störend wirken können. Die Stützen sind – natürlich nur optisch – auf der kragenden Platte aus Balken und Brettern aufgestützt, die das Haus an drei Seiten umgibt. Mit dieser floßartigen Platte wird die Beziehung zum Boden verschattet, und man könnte durchaus das Bild eines sanft gestrandeten Hausfloßes assoziieren. Das Haus als Familienschiff, als Arche, die mit dem Hang nur über jenes fast zufällige Aufsitzen – wie nach einer Flut – in Verbindung tritt. In diesem „Anlegen“ ist auch das Vorübergehende enthalten, das sich im Haus selbst widerspiegelt, indem es prinzipiell demontierbar und wiederverwertbar ist.

Unter das lange Dach ist ein rechteckiger Mauerschirm gestellt, der da und dort von Fenstern durchbrochen, dennoch die Form eines langen Prismas behält. Sein Inneres wird von zwei Nebenraumkernen in drei Haupträume geteilt, eine Struktur, die vom Keller bis zum Obergeschoß durchgeht. Im Mittelbereich liegt jeweils ein großer, dielenartiger Raum, an dessen einer Seite die einläufige Stiege hochzieht. Nach Westen blicken die Wohnküche und das darüberliegende Elternzimmer; nach Osten schauen auf jedem Geschoß je zwei kleinere Zimmer mit immer noch 15 Quadratmetern Fläche.

In allen Obergeschoßräumen verfügt man über die herrliche Rundsicht durch das Fensterband. Auf der Südseite, die auf unserem Bild zu sehen ist, durchbricht der Wohnraum mit einem gläsernen Kasten den Mauerschirm und öffnet sich zur Mittagssonne. Das Dächlein wird nach hinten gezogen, um den Eingang zu schirmen. Dies ist vielleicht die einzige größere Ausnahme von der obsessiven Strenge, mit der der Grundriß organisiert ist. Er geht aus von einem Meternetz, das sich noch in der Schalung der Sichtbetonwände abbildet.

Es gibt sehr viel Gewolltes an diesem Haus, da und dort scheint es fast zu viel, sodaß sich ideomorphe Konzeptteile in die Quere zu kommen drohen. Die Großzügigkeit, mit der die Räume zugeschnitten sind, und die alternativen Zugangsmöglichkeiten geben den Bewohnern aber jene Freiheitsgrade zurück, die sich die Architekten versagt haben. Denn sie hatten sich selbstgestellte Bedingungen aufgeladen, von denen andere keine Ahnung haben. Da und dort blitzt das abstrakte Architekturwollen durch die Ritzen der gebauten Hülle und zeugt von der Bereitschaft, an selbstbestimmten Aufgabenstellungen zu wachsen.

Es ist hier auch von einem glücklichen Zusammentreffen mit einer innovationsbereiten Bauherrschaft zu reden, die mit dem Projekt mitging und auch den Hickhack mit einer engherzigen Baubehörde durchstand. Wobei der niederösterreichischen Ortsbildpflege ein Kränzchen zu winden ist, denn sie hat das Projekt zweimal mit Gutachten gestützt.

Wenn wir nun die beiden Häuser, in denen sich zufrieden leben läßt, nebeneinanderhalten, finden wir zwei Haltungen, die in der Architektur schon immer gleichzeitig bestanden haben. Beide sind sie nicht an sich „gut“ oder „schlecht“, sondern finden ihre Bestätigung im Durcharbeitungsgrad. Beide Haltungen tragen in sich das Risiko des Scheiterns wie die Aussicht auf durchschlagenden Erfolg. Sie beweisen, daß heutzutage Stilmerkmale für eine zeitliche Zuordnung oder eine qualitative Einstufung untauglich sind. Der Betrachter muß sich tiefer einlassen. Ein kurzer Blick reicht nicht aus. Und in zehn Jahren wissen wir wieder mehr.

Presseschau

7. Februar 2009 Otto Kapfinger
Spectrum

Zur Sache zuallererst

Zum Tod des Architekturpublizisten Walter Zschokke

Er hat die Architekturpublizistik Österreichs in den vergangenen Jahrzehnten entscheidend mitgeprägt. Seit 1988 schrieb der gebürtige Schweizer, Jahrgang 1948, Hunderte einschlägige Essays im „Spectrum“ – präzise, leidenschaftliche Reflexionen am Puls der regionalen und internationalen Entwicklung. Zschokkes Engagement für gestalterische Qualität in allen Maßstäben produzierte sich nie in lauter Polemik oder in brillant gedrechselten, ästhetischen Urteilen. Unbeirrt von Zeitmoden, kultivierte er die sachbezogene, vielschichtig ausgelotete Beschreibung des Faktischen als Grundlage jeder Diagnose, jeder kritischen Äußerung, jeder negativen oder positiven Wertung. Dazu befähigten ihn ein exzellentes technisch-konstruktives Wissen und Gespür, die breite Erfahrung auch als praktizierender Architekt, die kulturwissenschaftliche Schulung an der besten technischen Hochschule Europas und nicht zuletzt sein handwerkliches Know-how, speziell im Umgang mit Holz.

Aufgewachsen im Kanton Aargau, kam Zschokke nach dem Studium an der ETH Zürich, nach acht Jahren Assistenz bei Adolf Max Vogt und mit einem von André Corboz und Jacques Gubler approbierten technischen Doktorat 1985 nach Wien; hier führte er ab 1989 mit Walter Hans Michl ein Atelier, war Mitautor eines Wohn- und Bürohauses in Wien-Neubau, des Kirchenzentrums im Stadtteil Wien-Leberberg und großer städtebaulicher Wettbewerbe; 1992 gestaltete er mit Margherita Spiluttini die Fotoschau „Neue Häuser“, welche die damals junge Szene Österreichs auf vielen Stationen bis nach New York und Mexiko präsentierte; anlässlich des EU-Präsidentschaft Österreichs 1998 war er Mitautor und -gestalter der multimedialen Wanderausstellung „Architekturszene Österreich“.

Neben der Arbeit für das „Spectrum“ redigierte Zschokke etliche Architektenmonografien, war Mitbegründer von „Orte – Architekturnetzwerk Niederösterreich“, gefragter Juror und Gutachter, Vortragender. All dies wurde offiziell mit Preisen für Architektur und Publizistik von den Ländern Wien und Niederösterreich gewürdigt; zuletzt wirkte er als Juror/Mediator beim Um- und Zubau der Wiener Arbeiterkammer.

Sein bestes Buch ist die in der Schweiz verlegte Dokumentation über die hochalpine „Sustenpassstraße“, ein Standardwerk internationalen Formats an der Schnittstelle von Verkehrs- und Landschaftsplanung, von Ingenieurwesen und Architektur, von Wissenschaft und Ästhetik. Sein letzter Auftritt in der Öffentlichkeit war in Wien die Vorstellung des mit Walter Bohatsch betreuten nachgelassenen Buches „Geschautes“ von Ernst Hiesmayr.

Walter Zschokke konnte wie kein anderer konstruktive Stärken und Schwächen von Tragstrukturen auf Anhieb analysieren oder gebaute Raumereignisse in nachvollziehbare Beschreibungen gießen, vermochte aber auch aus der Betrachtung einer windschiefen Vorgartenmauer oder einer hölzernen Trinkschale ein ganzes Panorama alltagskultureller Kausalitäten und Schönheiten zu erzählen. Am 5. Februar war sein jahrelanger Kampf gegen den Krebs zu Ende, er starb im AKH, umsorgt von seiner Frau und den beiden erwachsenen Kindern. Er fehlt uns.

Publikationen

2008

Dietrich | Untertrifaller
Bauten und Projekte seit 2000 | Buildings and Projects since 2000

Die Architektur von Dietrich|Untertrifaller hat eine starke Beziehung zum Ort und seinem Umfeld. Sie ist individuell aus der Situation und dem Programm entwickelt. Dies garantiert differenzierte Lösungen, Individualität und Unverwechselbarkeit. Bestehendes und Neues ergänzen einander und führen zu einem
Hrsg: Walter Zschokke
Verlag: SpringerWienNewYork

2007

Kontextueller Solitär
Die Wirtschaftskammer Niederösterreich

Seit Jahrzehnten gleichen sich die Bürogebäude: Rasterfassade mit viel Glas, rechteckige Grundrisse. Gegen diese Klischees setzt der Neubau für die niederösterreichische Wirtschaftskammer, des Architekturbüros Rüdiger Lainer + Partner, einen überzeugenden Kontrapunkt. Das mächtige Bauwerk ist als Großform
Autor: Walter Zschokke
Verlag: SpringerWienNewYork

2006

Holzspektrum
Ansichten, Beschreibungen und Vergleichswerte

Sowohl die Bedeutung des Holzes als Roh-, Bau- und Werkstoff als auch die Vielfältigkeit und Nutzungsmöglichkeiten der verschiedenen Holzarten werden oftmals unterschätzt. Denn jede Holzart besitzt ihre spezifischen Eigenschaften, die sich je nach Anwendungsbereich vorteilhaft einsetzen lassen. Zugleich
Hrsg: proHolz Austria
Autor: Walter Zschokke, Josef Fellner, Alfred Teischinger
Verlag: proHolz Austria

2006

ORTE. Architektur in Niederösterreich II. 1997-2007

Architektur hat in Niederösterreich, dem großen Bundesland rund um Wien, im Zuge der Hauptstadtplanung in St. Pölten erhöhte Aufmerksamkeit gewonnen. Seither sind im ganzen Land Bauwerke entstanden, deren Qualität Betrachtung und Auseinandersetzung lohnen. Ältere und jüngere Architekten wie Ernst Beneder,
Hrsg: Walter Zschokke, Marcus Nitschke
Verlag: SpringerWienNewYork

2003

Nachkriegsmoderne Schweiz
Architektur von Werner Frey, Franz Füeg, Jacques Schader, Jakob Zweifel

Die präzise und materialreiche Darstellung einer wichtigen Epoche - mit überraschenden Einsichten und Anregungen für das heutige Architekturschaffen.
Hrsg: Walter Zschokke, Michael Hanak
Verlag: Birkhäuser Verlag

2002

Hermann Kaufmann / Christian Lenz
Architektur und Struktur

In der Vorarlberger Architekturlandschaft verfolgen Hermann Kaufmann und Christian Lenz mit eigenständig und gemeinsam bearbeiteten Bauwerken eine Linie, die auf sorgfältiger Konstruktion beruht und sich an klare Geometrien und exakte Proportionen hält. Dem Baumaterial Holz und industriell erzeugten
Autor: Walter Zschokke
Verlag: SpringerWienNewYork

2001

Helmut Dietrich • Much Untertrifaller
Architektur • Städtebau • Design

Im scheinbar homogenen Architekturschaffen Vorarlbergs, das im vergangenen Jahrzehnt international bekannt wurde, treten die Bauwerke von Helmut Dietrich und Much Untertrifaller aus verschiedenen Gründen hervor: sie sind feinfühlig architektonisch und großstädtisch, sie bevorzugen keines der primären
Autor: Walter Zschokke
Verlag: SpringerWienNewYork

1999

Rüdiger Lainer
Stadt - Bau - Werk

Die erste Monographie über den österreichischen Architekten Rüdiger Lainer, der in seinen Bauten systemische Ökonomie und individuelle Lebendigkeit in Einklang bringt.
Hrsg: Walter Zschokke
Verlag: Birkhäuser Verlag

1997

ORTE. Architektur in Niederösterreich I. 1986-1997

Das Bundesland Niederösterreich, ehemals das Umland von Wien, hat im 20. Jahrhundert eine schrittweise Emanzipation vollzogen, was zuletzt in der Wahl St. Pöltens zur eigenen Hauptstadt (anstelle von Wien) und in der Folge im Bau eines entsprechenden Regierungsviertels kulminierte. Die ländlich industriell
Hrsg: ORTE Architekturnetzwerk Niederösterreich
Autor: Walter Zschokke, Otto Kapfinger
Verlag: Birkhäuser Verlag

1997

Die Strasse in der vergessenen Landschaft
Der Sustenpass

Im September 1946 ist die Sustenpassstrasse, die in einschlägigen Kreisen damals schon als «Musterstück schweizerischer Strassenbaukunst» galt, nach achtjähriger Bauzeit offiziell eröffnet worden. Der Architekt Walter Zschokke zeigt, wie die Linienführung einer Strasse in die Landschaft integriert werden
Autor: Walter Zschokke
Verlag: gta Verlag

1996

Boris Podrecca

Boris Podrecca, dessen umfangreiches Schaffen sich inhaltlich im Bereich der Pole Wien und Triest bewegt, liegt mit seinen auf organische Prozesse bezogenen und Lebensvorgänge interpretierenden Entwürfen weder im Trend einer zur Manier verkommenen «Neuen Einfachheit», noch folgen sie dem zum Dekorstil
Autor: Walter Zschokke
Verlag: Birkhäuser Verlag

1996

Gustav Peichl - Neue Projekte

Gustav Peichl gehört zu jenen international anerkannten österreichischen Architekten, «die das österreichische Selbstverständnis mitstilisiert haben» (Friedrich Achleitner). Unter seinen Arbeiten sind vor allem die Rundfunkstudios des ORF sowie die Bundeskunsthalle in Bonn international bekannt geworden.
Autor: Walter Zschokke, Gustav Peichl
Verlag: Birkhäuser Verlag