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Wohnen in der Schweiz
Neue Zürcher Zeitung

Ein Referenzwerk zu Schweizer Möbeln und Interieurs

12. Juni 2002 - Urs Steiner
Wenig kulturelle Errungenschaften neben der Architektur haben das Bild der Schweiz im 20. Jahrhundert so nachhaltig geprägt wie Gestaltung und Design. Umso schmerzlicher wurde eine repräsentative Anthologie von Schweizer Möbeln und Interieurs bisher vermisst. Zur Expo 01 hätte ein solches Werk nach dem Willen einer Gruppe von Projektinitianten ursprünglich erscheinen sollen - nun liegt es rechtzeitig zur Expo 02 tatsächlich vor, allerdings unabhängig von der Landesausstellung. Dies ist nicht zu seinem Schaden geworden; das stattliche, 456 Seiten starke Buch braucht kein zusätzliches Trallala. Immerhin haben die renommiertesten Fachleute ihren Beitrag dazu geleistet: Dem Vorstand der eigens für die Herausgabe gegründeten Stiftung Good Goods gehören Vitra-Chef Rolf Fehlbaum und Vittorio Magnago Lampugnani von der ETH an, als Herausgeber konnte der Architekt Arthur Rüegg gewonnen werden, und die renommierten Kunsthistoriker Lucius Burckhardt und Stanislaus von Moos steuerten je einen Essay bei. Das hervorragend bebilderte Buch, von Guido Widmer ohne gestalterisches Chichi klar strukturiert, verführt trotz vorbildlichem wissenschaftlichem Apparat schon beim ersten Durchblättern dazu, sich in einzelne Kapitel zu versenken.

Das 20. Jahrhundert beginnt in dieser Übersicht schon im Jahr 1870 - und das mit Bedacht. Die Schweizer Gestaltung hat viel mit der Identität der Schweiz zu tun, die sich 1848 grundlegend formte und 1851 an der Londoner Weltausstellung in Joseph Paxtons Glaspalast erstmals ins globale Schaufenster trat (ein Kreis, der sich im Jahr 2000 mit Herzog & de Meurons gläsernem Leuchtkörper der Tate Modern schloss). Die Kapitel des Buches gliedern sich in rund 15 Jahre umfassende Epochenschritte, die aus einem Essay sowie der Beschreibung ausgewählter Objekte und dem Porträt ihrer Designer bestehen. Das Spektrum reicht dabei von der anonymen, geschnitzten Stabelle über Werner Max Mosers «Volkssessel» bis zu Mario Bottas Festzelt-Bestuhlung der 700-Jahr-Feier. Ein weiteres Kapitel ist einer Serie von zeittypischen Musterwohnungen gewidmet, an denen gesellschaftliche Wandlungen abgelesen werden können. Ein chronologisch geordneter Objektkatalog schliesslich enthält nicht nur Möbelstücke mit Typencharakter, sondern auch exemplarische Gegenstände des täglichen Gebrauchs.

Und nun? Lässt sich auf Grund des Dargestellten die Zukunft extrapolieren? Die Individualisierung, ahnt Lucius Burckhardt, werde der Wohnkultur ihren gesellschaftlichen Ausdruck rauben. Stanislaus von Moos hingegen vermutet, die aufgeklärte Modernität von Le Corbusiers «heures claires» werde sich weiterhin auf «winzige und willkürliche Einsprengsel im ‹Chaos› des Warenmeers» beschränken.


[ Schweizer Möbel und Interieurs im 20. Jahrhundert. Hrsg. Arthur Rüegg. Birkhäuser-Verlag, Basel 2002. 456 S., Fr. 98.-. ]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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