Artikel
Das institutionalisierte Experiment
Architektur mit jüdischem Bezug in Deutschland
Wenigen Ereignissen wird in Deutschland mehr Aufmerksamkeit zuteil als der Einweihung von Synagogen, jüdischen Museen oder Denkmälern wie dem eben eröffneten Holocaust-Mahnmal. «Jüdische» Architektur ist einem Spannungsfeld von Interessen ausgesetzt und wird so zu einem Lackmustest der deutsch-jüdischen Beziehungen.
21. Mai 2005 - Manuel Herz Architects
In der Diaspora entwickelte das Judentum mit dem Eruv eines der ältesten Konzepte räumlichen Zusammenlebens. Der Eruv zieht eine symbolische Grenze um eine Stadt oder einen Stadtteil - etwa mittels eines Fadens oder durch das Markieren von Zäunen und Hausmauern. Innerhalb des umgrenzten Gebiets wird den dort lebenden orthodoxen Juden am Sabbat mehr Bewegungsfreiheit und das Ausführen gewisser alltäglicher Tätigkeiten gewährt und so das gemeinschaftliche Leben erleichtert. Der Eruv greift physisch nur minimal in die bestehende Stadtstruktur ein, verändert sie jedoch in ihrer Nutzung. Dabei werden diejenigen, welche die Zeichen nicht lesen können oder wollen, von diesem System offener Grenzen nicht tangiert. Abgesehen von seinen praktischen und religiösen Funktionen ist der Eruv Teil einer urbanen Strategie, bei der es darum geht, ein Minimum an «Jüdischkeit» in einem Maximum von Raum zu verankern. Formuliert wurde dieses Konzept vor fast zweitausend Jahren als Reaktion auf das Leben im Exil, das von ständigem Kontakt mit dem Fremden gekennzeichnet war. In dieser Heimatlosigkeit konnte dank dem Eruv für einen Tag in der Woche ein symbolisches Abbild des biblischen Jerusalem - auf das sich die notierte Grenze bezieht - und somit eine temporäre Heimat erzeugt werden. Eruvim gibt es noch heute weltweit in vielen Städten. Angesichts der Tatsache, dass Deutschland als Diaspora par excellence bezeichnet werden kann und der Eruv eine direkte Reaktion auf das Leben in der Diaspora ist, würde man Eruvim auch in Deutschland vermuten. Jedoch gibt es dort keinen einzigen. Vielmehr scheint es, dass jüdische Präsenz in Deutschland heute das exakte Gegenteil der Strategie des Eruv anstrebt.
RÄUMLICHE STRATEGIEN
Vor wenigen Jahren wurde in München das Konzept für ein neues Gemeindezentrum der jüdischen Gemeinde entwickelt. Dazu wurde der Gemeinde am Jakobsplatz ein grosses, zentral gelegenes Grundstück in der Innenstadt zur Verfügung gestellt. In Zusammenarbeit mit der Landesregierung wurde ein Programm erarbeitet, das alle Einrichtungen jüdischen Lebens der Stadt auf einen zentralen Ort konzentriert: Synagoge, Museum, Kindergarten, Grundschule, Volkshochschule, Veranstaltungssaal, Restaurant, Café, Buchhandlung sowie die Büros verschiedener jüdischer Einrichtungen. Diese räumliche Strategie, die man mit dem Unterbringen eines Maximums an «Jüdischkeit» in einem Minimum an Raum umschreiben könnte, entspricht dem Sinn nach einem Anti-Eruv. In ähnlicher Form findet sich dieser Ansatz in anderen deutschen Städten wieder. Selbst einzelne «jüdische» Architekturen nehmen diese Strategie auf und entwickeln dadurch eine eigenständige Methode des gesellschaftlichen Erinnerns und der öffentlichen Präsenz, die auch politische Auswirkungen zeigt.
Von «jüdischer» Architektur zu sprechen, ist problematisch, da hierbei unklar bleibt, ob es sich um Bauten von jüdischen Architekten, für jüdische Nutzer oder mit jüdischen Themen handelt. Als Beispiele wären die Architekten Daniel Libeskind oder Zvi Hecker, die neue Dresdner Synagoge oder Peter Eisenmans vor wenigen Tagen eingeweihtes Denkmal für die ermordeten Juden Europas zu nennen. Deshalb sollte man die Definition möglichst weit halten und statt von «jüdischer» Architektur von Architektur mit jüdischem Bezug sprechen. Seit Mitte der achtziger Jahre sind zahlreiche derartige Bauten in Deutschland entstanden. Ihr besonderer Charakter besteht nicht zuletzt darin, dass sie sich meist durch eine Architektur von hoher räumlicher und konzeptioneller Qualität auszeichnen. Gleichgültig, ob sie in klassisch strenger Gestalt wie die Synagoge von Wandel Hoefer Lorch und Hirsch in Dresden oder in freier, skulpturaler Form wie Heckers jüdische Schule in Berlin konzipiert wurden, sind die Gebäude reich an Metaphern und an historischen sowie thematischen Bezügen. Ihre architektonische Gebärde stützt sich auf eine überzeugend formulierte Argumentation. Die hochstehenden Debatten über diese Bauten zeigen, dass wir es hier mit aussergewöhnlichen Beispielen zeitgenössischer Architektur zu tun haben.
Abgesehen von ihrer hohen architektonischen Qualität weisen viele Bauten mit jüdischem Bezug als spezifische Eigenschaft eine gewisse Regelwidrigkeit und einen Zug ins Anarchische auf. Dieses Regellose bezieht sich nicht nur auf die formale Ebene des Gebäudes, sondern ebenso auf institutionelle und bürokratische Aspekte des Bauens. Neben Peter Zumthors Topographie des Terrors und dem Holocaust-Mahnmal, die mit ihrem Planungsprozess jeden Rahmen sprengten, ist das Jüdische Museum in Berlin wohl das Gebäude, an dem diese Respektlosigkeit gegenüber den institutionalisierten Abläufen des Bauens am deutlichsten sichtbar wird. Geplant und genehmigt in einer Zeit, in welcher der Berliner Senatsbaudirektor Hans Stimmann ganz entschieden auf ein konservatives steinernes Berlin setzte, ist es eines der ganz wenigen Gebäude, die sich in aller Radikalität einer schematisch-banalen Auseinandersetzung mit dem historischen Kontext verweigerten, unter dessen Diktat selbst international anerkannte Architekten klein beigeben mussten. Regeln wie die Einhaltung der Strassenfluchten, die für die Verfechter der sogenannt kritischen Rekonstruktion fast sakrosankt waren, wurden - nach langwieriger Diskussion - durch Libeskinds Bauwerk ausser Kraft gesetzt. Auch dessen Fassadenverkleidung aus Zink entspricht nicht der offiziellen Lehre vom steinernen Berlin. Es finden sich weitere Normverstösse bei diesem herausragenden Gebäude, aber auch bei vielen anderen Bauten mit jüdischem Bezug in Deutschland, weitaus mehr als bei sonstigen Vorzeigebauten, seien es Museen oder Kirchen.
Eine sich der bürokratischen Disziplin mit Regelverstössen widersetzende Architektur bedeutet Kritik an den etablierten Konventionen. Libeskind schreibt über sein Jüdisches Museum, dass es der Rationalität Berlins, dieser puren Ratio, die in viele Katastrophen führte, die Kraft der Irrationalität entgegensetzt. Die «Voids» genannten Leerräume, die das Museum durchziehen, sollen die untragbare, durch die Vernichtung der Juden entstandene Bürde zum Ausdruck bringen. Durch die Radikalität des Entwurfs und seine unkonventionelle Ausführung soll das Bauwerk «störende» und «aufrüttelnde» Kraft gewinnen. Architektur wird so als gesellschaftskritische Instanz verstanden, die herkömmliche Denkmuster und etablierte Werte in Frage stellt.
Eine solche architektonische Respektlosigkeit muss bei jedem Gebäude hart erkämpft werden. Bei manchen Bauten dauerte es denn auch Jahre, bis alle institutionellen Hürden und technischen Schwierigkeiten überwunden waren und sie schliesslich kompromisslos gebaut werden konnten. Gleichwohl sind die Gründe für das unkonventionelle, oft expressive Erscheinungsbild von Bauten mit jüdischem Bezug nicht nur bei den Vorlieben der Architekten zu suchen. Eine Erklärung, die sich ausschliesslich auf die Entscheidungsgewalt des einzelnen Architekten und dessen Entwurfsarbeit bezieht, wäre zu individualistisch und zu apolitisch. Denn ein Thema wie Architektur mit jüdischem Bezug ist von fundamentaler gesellschaftlicher und politischer Bedeutung für Deutschland. Die spezifische Prägung dieser Architektur und ihre Rezeption in Deutschland kann man nur erklären, wenn man sie auf kollektive Deutungen zurückführt.
Es gibt keine Bauten, die mit grösserem Aufwand und mehr medialer Resonanz eröffnet werden, als solche mit jüdischem Bezug. So wurde vor zwei Jahren die Synagoge von Wuppertal in Anwesenheit des damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau sowie des israelischen Präsidenten Moshe Katsav eingeweiht, was angesichts der Provinzialität des Ereignisses eigentlich erstaunen sollte. Und der Galaabend zur Eröffnung des Jüdischen Museums in Berlin ging als eines der grössten gesellschaftlichen Ereignisse der Bundesrepublik in die Geschichte ein. Wohl nie zuvor hatten sich so viele Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Kultur zusammengefunden, nicht einmal bei der Eröffnung des Reichstags.
DER ARCHITEKT ALS HOFNARR
Das Beispiel der Wuppertaler Synagoge zeigt, dass - insbesondere aus Sicht der nichtjüdischen Bevölkerung - der symbolische Wert von Bauten mit jüdischem Bezug deren «funktionalen» Wert übersteigt. Gleichgültig, ob eine Synagoge wirklich besucht wird und ob sie auch tatsächlich das Zentrum des aktiven jüdischen Lebens bildet, wird ihre blosse Existenz als Beweis einer gesicherten jüdischen Existenz in Deutschland bewertet. Aus diesem Grunde sind expressive und mithin auch medienwirksame Bauwerke mit jüdischem Bezug aus öffentlicher Perspektive begrüssenswert. Zeigen sie doch in den Augen der nichtjüdischen Deutschen, dass die Juden keinen Grund mehr sehen, sich zu verstecken, und auch keine Scham mehr empfinden, im Land des Holocausts zu wohnen.
Die Bundesrepublik braucht das institutionalisierte Experiment in Form «wilder», von erlaubter Regellosigkeit geprägter Bauten, um sich selber ein neues, vom Schatten des Nationalsozialismus befreites Fundament zu schaffen. In diesem Zusammenhang sei auf Slavoj Zizek verwiesen. Der slowenische Philosoph vergleicht den Linksintellektuellen mit einem Narren, der «in einer hysterischen Zufriedenheit glaubt, dem Herrn (mit seinen Tricks) ein kleines Stückchen seiner Jouissance zu rauben». Aber dieser Raub, so Zizek, stellt den Herrschenden nie grundlegend in Frage, sondern unterstützt in Wirklichkeit nur die bestehende Ordnung. So ergeht es aber auch der Architektur mit jüdischem Bezug in Deutschland. Die Architekten versuchen ihre Baukunst durch eine sich den Konventionen widersetzende Formgebung als gesellschaftskritische Instanz zu positionieren und damit wesentliche Aspekte der Bundesrepublik in Frage zu stellen. Doch diese Baukunst wird durch die Institutionen toleriert, gefördert und damit geglättet. Denn die etablierte Gesellschaft der Bundesrepublik kann sich mit dem Eingehen auf eine von jüdischer Seite eingebrachte Kritik profilieren. Dieser wird ein begrenzter Spielraum eröffnet, in welchem sie als schmückendes Beiwerk fungiert. So wird der Architekt zum Hofnarren.
Die Architektur, die die jüdische Gleichberechtigung in Deutschland baulich zum Ausdruck bringen darf, kritisiert die etablierten Sichtweisen nur scheinbar. Vielmehr wird sie mit Dankbarkeit aufgenommen und steht im Schulterschluss mit der konventionellen Meinung. Sie erfüllt - bei allen Schwierigkeiten, die überwunden werden müssen, um die zum Teil grossartigen Gebäude zu realisieren - eine wichtige staatliche Funktion. Dient sie doch als Lackmustest für das angeblich gesunde deutsch-jüdische Verhältnis und für das Wohlbefinden der Juden in Deutschland.
KRITISCHE INSTANZ
In welcher Form kann eine Architektur mit jüdischem Bezug zur Bundesrepublik Distanz einnehmen und die Funktion einer kritischen Instanz ausüben? Der Bau von jüdischen Einrichtungen ist von grosser Bedeutsamkeit für das Wiedererstarken jüdischen Lebens in Deutschland. Der grundlegende Ansatz der Arbeiten von Architekten wie Libeskind, Hecker oder Eisenman zielt denn auch nicht auf die Umarmung des deutschen Staates, sondern ist von Zweifeln erfüllt. Diese Zweifel sind wichtig für eine Architektur, die einen aktiven Part in der Gesellschaft spielen will. Warum aber wird diese Architektur von Politik und Gesellschaft mit so viel Enthusiasmus vereinnahmt? Verliert das Jüdische Museum in Berlin seine Brisanz in der deutschen Kulturlandschaft, wenn zur Eröffnung die grösste Party der Bundesrepublik veranstaltet wird? Lässt sich die expressive Architektur gerade aus dem Grunde leicht vereinnahmen, weil sie «anarchische» Züge trägt, weil sie Ansätze des Aufbegehrens oder des «Wilden» hat? Ist es die postmoderne Natur der Bauten mit ihren mehrdeutigen Symbolen und offenen Deutungssystemen, die es der Politik erlaubt, in eine Koalition mit ihr zu treten?
Was wäre, wenn, der Strategie des Eruvs folgend, eine verstreute Präsenz jüdischer Institutionen im städtischen Gefüge entstehen würde? Was wäre, wenn sich statt der expressiven Synagogen und anderer gut sichtbarer und damit öffentlichkeitswirksamer jüdischer Bauten eine alltägliche Anwesenheit von jüdischen Buchhandlungen oder Lebensmittelgeschäften entwickeln würde? Jüdische Bäckereien lassen sich nicht öffentlichkeitswirksam nutzen; sie haben kaum Symbolwert und sind genau aus diesem Grund resistent gegenüber einer Vereinnahmung. Alle Architekten, die in Deutschland Bauten mit jüdischem Bezug realisieren, müssen sich diesen Fragen stellen - auch der Autor dieses Aufsatzes mit seinem noch zu bauenden Gemeindezentrum in Mainz, das ebenfalls durch starke Expressivität und eine freie Formensprache gekennzeichnet ist.
RÄUMLICHE STRATEGIEN
Vor wenigen Jahren wurde in München das Konzept für ein neues Gemeindezentrum der jüdischen Gemeinde entwickelt. Dazu wurde der Gemeinde am Jakobsplatz ein grosses, zentral gelegenes Grundstück in der Innenstadt zur Verfügung gestellt. In Zusammenarbeit mit der Landesregierung wurde ein Programm erarbeitet, das alle Einrichtungen jüdischen Lebens der Stadt auf einen zentralen Ort konzentriert: Synagoge, Museum, Kindergarten, Grundschule, Volkshochschule, Veranstaltungssaal, Restaurant, Café, Buchhandlung sowie die Büros verschiedener jüdischer Einrichtungen. Diese räumliche Strategie, die man mit dem Unterbringen eines Maximums an «Jüdischkeit» in einem Minimum an Raum umschreiben könnte, entspricht dem Sinn nach einem Anti-Eruv. In ähnlicher Form findet sich dieser Ansatz in anderen deutschen Städten wieder. Selbst einzelne «jüdische» Architekturen nehmen diese Strategie auf und entwickeln dadurch eine eigenständige Methode des gesellschaftlichen Erinnerns und der öffentlichen Präsenz, die auch politische Auswirkungen zeigt.
Von «jüdischer» Architektur zu sprechen, ist problematisch, da hierbei unklar bleibt, ob es sich um Bauten von jüdischen Architekten, für jüdische Nutzer oder mit jüdischen Themen handelt. Als Beispiele wären die Architekten Daniel Libeskind oder Zvi Hecker, die neue Dresdner Synagoge oder Peter Eisenmans vor wenigen Tagen eingeweihtes Denkmal für die ermordeten Juden Europas zu nennen. Deshalb sollte man die Definition möglichst weit halten und statt von «jüdischer» Architektur von Architektur mit jüdischem Bezug sprechen. Seit Mitte der achtziger Jahre sind zahlreiche derartige Bauten in Deutschland entstanden. Ihr besonderer Charakter besteht nicht zuletzt darin, dass sie sich meist durch eine Architektur von hoher räumlicher und konzeptioneller Qualität auszeichnen. Gleichgültig, ob sie in klassisch strenger Gestalt wie die Synagoge von Wandel Hoefer Lorch und Hirsch in Dresden oder in freier, skulpturaler Form wie Heckers jüdische Schule in Berlin konzipiert wurden, sind die Gebäude reich an Metaphern und an historischen sowie thematischen Bezügen. Ihre architektonische Gebärde stützt sich auf eine überzeugend formulierte Argumentation. Die hochstehenden Debatten über diese Bauten zeigen, dass wir es hier mit aussergewöhnlichen Beispielen zeitgenössischer Architektur zu tun haben.
Abgesehen von ihrer hohen architektonischen Qualität weisen viele Bauten mit jüdischem Bezug als spezifische Eigenschaft eine gewisse Regelwidrigkeit und einen Zug ins Anarchische auf. Dieses Regellose bezieht sich nicht nur auf die formale Ebene des Gebäudes, sondern ebenso auf institutionelle und bürokratische Aspekte des Bauens. Neben Peter Zumthors Topographie des Terrors und dem Holocaust-Mahnmal, die mit ihrem Planungsprozess jeden Rahmen sprengten, ist das Jüdische Museum in Berlin wohl das Gebäude, an dem diese Respektlosigkeit gegenüber den institutionalisierten Abläufen des Bauens am deutlichsten sichtbar wird. Geplant und genehmigt in einer Zeit, in welcher der Berliner Senatsbaudirektor Hans Stimmann ganz entschieden auf ein konservatives steinernes Berlin setzte, ist es eines der ganz wenigen Gebäude, die sich in aller Radikalität einer schematisch-banalen Auseinandersetzung mit dem historischen Kontext verweigerten, unter dessen Diktat selbst international anerkannte Architekten klein beigeben mussten. Regeln wie die Einhaltung der Strassenfluchten, die für die Verfechter der sogenannt kritischen Rekonstruktion fast sakrosankt waren, wurden - nach langwieriger Diskussion - durch Libeskinds Bauwerk ausser Kraft gesetzt. Auch dessen Fassadenverkleidung aus Zink entspricht nicht der offiziellen Lehre vom steinernen Berlin. Es finden sich weitere Normverstösse bei diesem herausragenden Gebäude, aber auch bei vielen anderen Bauten mit jüdischem Bezug in Deutschland, weitaus mehr als bei sonstigen Vorzeigebauten, seien es Museen oder Kirchen.
Eine sich der bürokratischen Disziplin mit Regelverstössen widersetzende Architektur bedeutet Kritik an den etablierten Konventionen. Libeskind schreibt über sein Jüdisches Museum, dass es der Rationalität Berlins, dieser puren Ratio, die in viele Katastrophen führte, die Kraft der Irrationalität entgegensetzt. Die «Voids» genannten Leerräume, die das Museum durchziehen, sollen die untragbare, durch die Vernichtung der Juden entstandene Bürde zum Ausdruck bringen. Durch die Radikalität des Entwurfs und seine unkonventionelle Ausführung soll das Bauwerk «störende» und «aufrüttelnde» Kraft gewinnen. Architektur wird so als gesellschaftskritische Instanz verstanden, die herkömmliche Denkmuster und etablierte Werte in Frage stellt.
Eine solche architektonische Respektlosigkeit muss bei jedem Gebäude hart erkämpft werden. Bei manchen Bauten dauerte es denn auch Jahre, bis alle institutionellen Hürden und technischen Schwierigkeiten überwunden waren und sie schliesslich kompromisslos gebaut werden konnten. Gleichwohl sind die Gründe für das unkonventionelle, oft expressive Erscheinungsbild von Bauten mit jüdischem Bezug nicht nur bei den Vorlieben der Architekten zu suchen. Eine Erklärung, die sich ausschliesslich auf die Entscheidungsgewalt des einzelnen Architekten und dessen Entwurfsarbeit bezieht, wäre zu individualistisch und zu apolitisch. Denn ein Thema wie Architektur mit jüdischem Bezug ist von fundamentaler gesellschaftlicher und politischer Bedeutung für Deutschland. Die spezifische Prägung dieser Architektur und ihre Rezeption in Deutschland kann man nur erklären, wenn man sie auf kollektive Deutungen zurückführt.
Es gibt keine Bauten, die mit grösserem Aufwand und mehr medialer Resonanz eröffnet werden, als solche mit jüdischem Bezug. So wurde vor zwei Jahren die Synagoge von Wuppertal in Anwesenheit des damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau sowie des israelischen Präsidenten Moshe Katsav eingeweiht, was angesichts der Provinzialität des Ereignisses eigentlich erstaunen sollte. Und der Galaabend zur Eröffnung des Jüdischen Museums in Berlin ging als eines der grössten gesellschaftlichen Ereignisse der Bundesrepublik in die Geschichte ein. Wohl nie zuvor hatten sich so viele Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Kultur zusammengefunden, nicht einmal bei der Eröffnung des Reichstags.
DER ARCHITEKT ALS HOFNARR
Das Beispiel der Wuppertaler Synagoge zeigt, dass - insbesondere aus Sicht der nichtjüdischen Bevölkerung - der symbolische Wert von Bauten mit jüdischem Bezug deren «funktionalen» Wert übersteigt. Gleichgültig, ob eine Synagoge wirklich besucht wird und ob sie auch tatsächlich das Zentrum des aktiven jüdischen Lebens bildet, wird ihre blosse Existenz als Beweis einer gesicherten jüdischen Existenz in Deutschland bewertet. Aus diesem Grunde sind expressive und mithin auch medienwirksame Bauwerke mit jüdischem Bezug aus öffentlicher Perspektive begrüssenswert. Zeigen sie doch in den Augen der nichtjüdischen Deutschen, dass die Juden keinen Grund mehr sehen, sich zu verstecken, und auch keine Scham mehr empfinden, im Land des Holocausts zu wohnen.
Die Bundesrepublik braucht das institutionalisierte Experiment in Form «wilder», von erlaubter Regellosigkeit geprägter Bauten, um sich selber ein neues, vom Schatten des Nationalsozialismus befreites Fundament zu schaffen. In diesem Zusammenhang sei auf Slavoj Zizek verwiesen. Der slowenische Philosoph vergleicht den Linksintellektuellen mit einem Narren, der «in einer hysterischen Zufriedenheit glaubt, dem Herrn (mit seinen Tricks) ein kleines Stückchen seiner Jouissance zu rauben». Aber dieser Raub, so Zizek, stellt den Herrschenden nie grundlegend in Frage, sondern unterstützt in Wirklichkeit nur die bestehende Ordnung. So ergeht es aber auch der Architektur mit jüdischem Bezug in Deutschland. Die Architekten versuchen ihre Baukunst durch eine sich den Konventionen widersetzende Formgebung als gesellschaftskritische Instanz zu positionieren und damit wesentliche Aspekte der Bundesrepublik in Frage zu stellen. Doch diese Baukunst wird durch die Institutionen toleriert, gefördert und damit geglättet. Denn die etablierte Gesellschaft der Bundesrepublik kann sich mit dem Eingehen auf eine von jüdischer Seite eingebrachte Kritik profilieren. Dieser wird ein begrenzter Spielraum eröffnet, in welchem sie als schmückendes Beiwerk fungiert. So wird der Architekt zum Hofnarren.
Die Architektur, die die jüdische Gleichberechtigung in Deutschland baulich zum Ausdruck bringen darf, kritisiert die etablierten Sichtweisen nur scheinbar. Vielmehr wird sie mit Dankbarkeit aufgenommen und steht im Schulterschluss mit der konventionellen Meinung. Sie erfüllt - bei allen Schwierigkeiten, die überwunden werden müssen, um die zum Teil grossartigen Gebäude zu realisieren - eine wichtige staatliche Funktion. Dient sie doch als Lackmustest für das angeblich gesunde deutsch-jüdische Verhältnis und für das Wohlbefinden der Juden in Deutschland.
KRITISCHE INSTANZ
In welcher Form kann eine Architektur mit jüdischem Bezug zur Bundesrepublik Distanz einnehmen und die Funktion einer kritischen Instanz ausüben? Der Bau von jüdischen Einrichtungen ist von grosser Bedeutsamkeit für das Wiedererstarken jüdischen Lebens in Deutschland. Der grundlegende Ansatz der Arbeiten von Architekten wie Libeskind, Hecker oder Eisenman zielt denn auch nicht auf die Umarmung des deutschen Staates, sondern ist von Zweifeln erfüllt. Diese Zweifel sind wichtig für eine Architektur, die einen aktiven Part in der Gesellschaft spielen will. Warum aber wird diese Architektur von Politik und Gesellschaft mit so viel Enthusiasmus vereinnahmt? Verliert das Jüdische Museum in Berlin seine Brisanz in der deutschen Kulturlandschaft, wenn zur Eröffnung die grösste Party der Bundesrepublik veranstaltet wird? Lässt sich die expressive Architektur gerade aus dem Grunde leicht vereinnahmen, weil sie «anarchische» Züge trägt, weil sie Ansätze des Aufbegehrens oder des «Wilden» hat? Ist es die postmoderne Natur der Bauten mit ihren mehrdeutigen Symbolen und offenen Deutungssystemen, die es der Politik erlaubt, in eine Koalition mit ihr zu treten?
Was wäre, wenn, der Strategie des Eruvs folgend, eine verstreute Präsenz jüdischer Institutionen im städtischen Gefüge entstehen würde? Was wäre, wenn sich statt der expressiven Synagogen und anderer gut sichtbarer und damit öffentlichkeitswirksamer jüdischer Bauten eine alltägliche Anwesenheit von jüdischen Buchhandlungen oder Lebensmittelgeschäften entwickeln würde? Jüdische Bäckereien lassen sich nicht öffentlichkeitswirksam nutzen; sie haben kaum Symbolwert und sind genau aus diesem Grund resistent gegenüber einer Vereinnahmung. Alle Architekten, die in Deutschland Bauten mit jüdischem Bezug realisieren, müssen sich diesen Fragen stellen - auch der Autor dieses Aufsatzes mit seinem noch zu bauenden Gemeindezentrum in Mainz, das ebenfalls durch starke Expressivität und eine freie Formensprache gekennzeichnet ist.
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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