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Profil

Promotion in Germanistik und Philosophie an der Heinrich Heine-Universität Düsseldorf

Lehrtätigkeit

Lehraufträge an der Universität Essen, der Heinrich Heine-Universität Düsseldorf und der Kunstakademie Düsseldorf

Publikationen

Jacques Derrida, Paderborn (UTB) 2009
New Museums in Spain, Stuttgart (Edition Axel Menges) 2010
Barcelona, Berlin (DOM Publishers), 2018

Veranstaltungen

Instituto Cervantes München, 2012
Instituto Cervantes Frankfurt, 2012
Architektenkammer NRW, 2012
„Smart Cities“, Fraport-Tagung Frankfurt, 2018

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Artikel

8. August 2005 Neue Zürcher Zeitung

Ein frischer Wind aus Westen

Ansätze zu einer neuen Architektur in Warschau

Das seit einigen Jahren sich rasch wandelnde Stadtbild Warschaus wird geprägt von öden Brachflächen, Einkaufszentren und modischer Kommerzarchitektur. Erste Zeichen eines «Architekturfrühlings» gehen nun aber von den beiden massstabsetzenden Botschaftsgebäuden der Niederlande und Deutschlands aus.

Eine deutsche Architekturzeitschrift verhiess kürzlich den Warschauer Frühling. Das war eine gewagte Prophezeiung. Denn die massgeblichen Impulse zur Stadterneuerung fehlen auch sechzig Jahre nach der Totalzerstörung durch die deutschen Besatzungstruppen noch immer. Die wiedererrichtete Altstadt wird wie eine Schatztruhe gehütet, während das Zentrum im Spannungsfeld von stalinistischem Kulturpalast, grossstädtischen Brachflächen, modischer Kommerzarchitektur und dem neuen Shoppingcenter Zote Tarasy zerrieben wird.

Der Stadt die Seele wiedergeben

Warschaus Bauvorsteher Tomasz Zema befürchtet sogar, die Mall des Kaliforniers Jon Jerde, von dem die weltweit grössten Einkaufszentren stammen, werde nach ihrer Fertigstellung grosse Teile des städtischen Lebens in sich aufsaugen und die Verödung der Stadtteile jenseits der Weichsel forcieren. Zema ist auch eher pessimistisch gestimmt, wenn er auf die Gestaltungsmöglichkeiten des Bauamtes angesprochen wird: «Bis heute ist es uns nicht gelungen, der Stadt ihre Seele wiederzugeben. Das neue Zentrum ist lediglich virtuell, es ist übersät mit leeren Flächen und temporären Gebäuden. Auch die infrastrukturelle Verbindung zwischen den einzelnen Stadtvierteln lässt zu wünschen übrig.»

Selbstverständlich weiss Zema, dass architektonische Projekte in Osteuropa nur dann eine Chance auf Verwirklichung haben, wenn das Geld von ausländischen Investoren kommt, die ihre eigenen Architekten mitbringen. So war es mit der niederländischen ING-Bank und dem Mall-Spezialisten Jerde, der das monströse Shoppingcenter frech zwischen Kulturpalast und Bahnhof setzte. Ähnlich verhält es sich mit dem gerade entstehenden Büroturm von Skidmore, Owings & Merrill, der von mehreren ausländischen Investoren finanziert wird. Oder mit Norman Fosters Bürogebäuden am nördlichen Rand des legendären Pisudski-Platzes. Zwar gehören sie zu jenen trendigen Stahl-Glas-Konstruktionen, die man mittlerweile als Dutzendware in fast allen westeuropäischen Städten findet. Aber die Warschauer Stadtplaner sehen in dem Bauwerk den Anfang einer umfangreichen Stadterneuerung und hoffen auf eine Renaissance des «Warschauer Dreiecks». Momentan ist von dem Aufbruchsgeist noch wenig zu spüren, aber bereits in Kürze beginnen die Bauarbeiten, die dem Geschäftszentrum rund um den Pisudski-Platz das grossstädtische Flair wiedergeben sollen.

Nach der Fertigstellung von Fosters Bürobauten verbleibt noch die Umsäumung des nordwestlichen Platzrandes, der in den Saski-Park übergeht. Dabei setzen die Warschauer Stadtplaner auf die originalgetreue Restaurierung dreier im Krieg zerstörter Paläste - des quer zu Platz und Park gelegenen Brühlschen Palastes sowie der beiden Saski-Paläste, die das Grab des Unbekannten Soldaten einrahmen werden. Für den Eckpunkt dieser Randbebauung ist hingegen ein Neubau vorgesehen, dessen Programm noch nicht vollends geklärt ist. Ausgleich zwischen Alt und Neu bei strikter Beibehaltung des traditionellen Stadtgrundrisses - dies ist das Leitbild des Bauamtes, mit dem es die Erinnerungen an das alte Warschau wieder lebendig werden lässt.

Mit Vorliebe erzählt Tomasz Zema von neuen Bauprojekten im reizvollen azienski-Schlosspark, dem Warschauer Diplomatenviertel. Dazu gehört die Kernsanierung der französischen Botschaft, eines 1970 von Bernard Louis Zehrfuss und Jean Prouvé errichteten dreistöckigen, weissen Riegels, der durch schwarze Stahlträger abgestützt wird. Derweil werden am westlichen Rand der Parklandschaft die britische und die deutsche Botschaft hochgezogen. Der Engländer Tony Fretton setzt auf den leicht hügeligen Parkausläufern eine dreigeschossige, minimalistisch anmutende Kanzlei, deren vertikal verlaufendes Stahlgerippe mit Glas und Stein ausgefüllt wird. Durch einen Hof getrennt, entsteht auf der gegenüberliegenden Seite die Botschaftsresidenz, ein mediterran wirkender Kubus mit grossen Fenstern und hellen Steinplatten.

Der junge Berliner Architekt Holger Kleine baut derweil unweit des Sejm die deutsche Botschaft, das erste deutsche Gebäude in Warschau seit dem Zweiten Weltkrieg. Kleine ist sich darüber im Klaren, dass dieses Projekt eine ausserordentliche Sensibilität erfordert. Denn die neue Botschaft bleibt mit der Geschichte Warschaus verbunden, einer Geschichte, die unauslöschlich mit der Barbarei des Nationalsozialismus verknüpft ist. Jede Monumentalität verbietet sich beim Gedanken an die Zerstörungswut der deutschen Besatzer.

Architekturfrühling

Kleine entschied sich daher für einen mehrgliedrigen Baukörper mit Flachdach. Prägnant sind die «vegetativen Wände», bewachsen mit Polsterpflanzen, Farnen und Efeu. Sie fügen sich harmonisch zu den Fassaden aus Schiefer und Glas. Mit dieser aussergewöhnlichen Materialkombination möchte Kleine ökologisches, traditionelles und technologisches Bauen miteinander versöhnen. Anders als die nahe gelegene französische Botschaft, die sich dem azienski-Park wie ein Monolith entgegenstemmt, gliedert sich die deutsche Kanzlei geradezu organisch in die umgebende Parklandschaft ein. So führt eine begrünte Rampe hinauf zu einem Dachgarten, zu Wänden mit wildem Wein. Kleine kommentiert sein Entwurfsprinzip: «Wir arbeiten mit einem Gleichgewicht aus offenen und geschlossenen, hellen und dunklen, harten und weichen, vertikalen und horizontalen Flächen. Dieser Dialog ist uns sehr wichtig, da er das eine durch das andere bereichert.»

Wenn man vom «Warschauer Architekturfrühling» spricht, dann trifft dieses Bild am ehesten auf Erick van Egeraats aufsehenerregende niederländische Botschaft zu. Sie liegt in beschaulicher Lage am östlichen Ende des Parks, der unmittelbar ans Weichselufer anschliesst. Die Ummauerung erinnert an eine Baustelle. Doch der erste Eindruck täuschte. Van Egeraat, der sich seit einigen Jahren auch mit Projekten in Budapest und Moskau profiliert, wollte nur einen sinnfälligen Kontrast zur gegenüberliegenden japanischen Botschaft herstellen, die wie ein Bollwerk hinter einer wuchtigen Mauer verschwindet. Vor Kanzlei und Residenz zog er einen sechs Meter hohen «Pflanzenzaun» hoch, eine vegetabile, durchlässige Wand aus dicken und dünnen Stahlrohren.

Leider beeinträchtigen die ornamentalen Elemente, das chaotische Geflecht des Zauns und das Gewirr der aufgedampften pflanzlichen Muster auf der Glasverblendung der Kanzlei den klaren Gesamteindruck der Anlage. Die Stärke liegt eher im wohlproportionierten Arrangement des Ensembles, in der einladenden und lichten Atmosphäre der Kanzlei und dem aufgeständerten, blockartigen Riegel der Residenz, vor dem sich eine grobe Steinmauer erhebt. Die beiden Gebäude sind durch einen öffentlichen Platz aufeinander bezogen, der den Blick auf eine sanft ansteigende Gartenlandschaft mit Wasserläufen lenkt. Bei der Kanzlei legte Erick van Egeraat zwar Wert auf grosszügige Glasfassaden, aber es gelang ihm gleichzeitig, die sinnliche Qualität des Gebäudes durch Kombination von Sichtbeton, Holz und Glas fühlbar zu machen.

1. Juli 2005 Neue Zürcher Zeitung

Leuchtturm in der Stadtwüste

Ein innovatives Wohnhochhaus von MVRDV in Madrid

Metastasenförmig breitet sich Madrid in alle Himmelsrichtungen aus. Doch architektonischer Qualität begegnet man in den neuen Stadtvierteln nur selten. Ausnahmen bilden Bauten international bekannter Architekten, etwa des Rotterdamer Büros MVRDV, das im Norden der Stadt ein spektakuläres Wohnhochhaus errichtet hat.

Madrid wächst in atemberaubendem Tempo. Ähnlich wie Barcelona sich zwischen Jean Nouvels Torre Agbar und dem neuen Forum-Gebäude von Herzog & de Meuron unaufhaltsam nach Norden in Richtung Meer und Río Besòs ausbreitet, liegen auch in Madrid die wichtigsten Expansionsgebiete am Nordrand der Stadt. Dort sollen insgesamt vier Türme von Pei, Foster, Pelli und Rubio / Alvarez Sala gemäss der grossangelegten Operación Chamartín dereinst die Plaza Castilla rahmen und 1,5 Millionen Quadratmeter Büroflächen bieten. Diesem Expansionsdrang folgt auch der Wohnungsbau. Auf ehemaligem Ackerland, wo noch bis in die achtziger Jahre nur einige Hütten von Wanderarbeitern standen, wachsen nun in einem atemberaubendem Tempo die Blöcke neuer Siedlungen heran.

Altgediente Rezepte und Alternativen

Der Generalplan für die neuen Siedlungsgebiete, der Bauwirtschaft und Immobilienhandel im boomenden Madrid astronomische Gewinne verspricht, heisst «Planes de Actuación Urbanística» (PAU). Vorgesehen ist die Errichtung von mehr als einem Dutzend Siedlungen mit rund 300 000 Wohnungen. Im Madrider Norden gehören dazu neben den Luxussiedlungen La Florida und La Moraleja auch die Grosssiedlungen Las Tableras und Sanchinarro. Der renommierte spanische Architekturkritiker Luis Fernández- Galliano hat die Anlagen dieser heranwachsenden Siedlungen zu Recht als «urbanismo basura» - als Schrott-Urbanismus - kritisiert. Sie seien Ausdruck einer Bodenspekulation und eines korrupten Immobilienhandels, deren Lieblingsarchitektur sich durch eine traditionelle Ziegelverkleidung auszeichne. Der Madrider Generalplan folgt altgedienten Rezepten mit vielversprechender Rendite und setzt auf die Sprache eines rückwärts gewandten Urbanismus: Shopping-Malls mit Kreiselverkehr, geschlossene Wohnblöcke und leblose Strassen mit wenig Einzelhandel. Von einer städtischen Vision mit anspruchsvoller Architektur kann keine Rede sein.

Dass es auch anders geht, beweist eine kommunale Gesellschaft, die sich Empresa Municipal de la Vivienda (EMV) nennt. Die von der EMV in Auftrag gegebenen Projekte wirken fast wie blühende Oasen inmitten einer endlosen Wüstenlandschaft. An ihnen sind ambitionierte Architekten wie die Lateinamerikaner Legorreta, Salmona und Mendes da Rocha beteiligt, denen es darum geht, Alternativen zum marktorientierten Urbanismus aufzuzeigen. Zu den Wettbewerben der EMV werden meist auch ausländische Teams geladen, denen ein erstaunliches Mass an gestalterischer Freiheit zugestanden wird. - Die spanische Partnerin des Rotterdamer Büros MVRDV, Blanca Lleó, ist voll des Lobes für die Initiativen der EMV. Man fördere originelle Bauformen, die sich deutlich von den vorherrschenden geschlossenen und repetitiven Blockstrukturen des PAU mit ihren sechsgeschossigen Backsteinfassaden unterschieden. So haben MVRDV gerade eine Wohnmaschine fertiggestellt, die weit über die Stadtwüste von Sanchinarro hinausragt. Die markante Scheibe versteht sich als Gegenentwurf zum repetitiven Blockmuster des Sanchinarro-Viertels. Man merkt, dass einige Ideen aus Rem Koolhaas' Office for Metropolitan Architecture (OMA) stammen, wo die beiden MVRDV-Partner Winy Maas und Jacob van Rijs den letzten Schliff bekommen hatten. Besonders Koolhaas' Idee von «Bigness», verstanden als Schichtung programmatischer Einheiten zu einem einzigen architektonischen Gebilde, hat es den Architekten angetan. Was Koolhaas allerdings als Neuerfindung des Urbanismus begreift, nutzen sie zur Reformierung eines gleichförmigen Wohnungsbaus.

Die konstruktive Logik des Madrider Wohnhochhauses verrät, dass sie eine Variation ihres Amsterdamer «Silodam»-Wohnblocks (NZZ 7. 3. 03) anstrebten. Dort hatten sie die einzelnen, containerartigen «Blocksegmente» als konstruktive Elemente konzipiert, die - aufgrund gleicher Höhe und Farbe - gewissermassen eine wiedererkennbare Identität herstellen. Diese über- und nebeneinander gestapelten «Häuser in einem Haus» sollen nach dem Willen der Architekten die Herausbildung von «Mini-Nachbarschaften» unterstützen. Die hauptsächlich von Jacob van Rijs entwickelte Madrider Wohnscheibe funktioniert ähnlich. Die Addition verschiedener Nachbarschaften, an der Fassade ablesbar durch die Verwendung von Natursteinelementen und vorfabrizierten Betonplatten, wurde beibehalten. Dabei folgen die unterschiedlichen Wohnungstypen der von aussen erkennbaren Fassadenaufteilung. Allerdings bieten die einzelnen Segmente nicht ein Grundmuster identischer Wohnungen an, sondern im Grundriss die gleiche Abfolge unterschiedlicher Typen.

Wohnen in einer riesigen Skulptur

Verglichen mit dem «Silodam»-Gebäude, wurde die «Bigness» diesmal konsequenter umgesetzt, da sich die einzelnen «Häuser» zu einem urbanen Gebilde mit 22 Geschossen stapeln. Neu ist auch die auffällige Strukturierung des Superblock genannten Hochhauses durch einen orangefarbenen, weithin sichtbaren Zirkulationsweg. Er besteht aus privat und öffentlich genutzten Aufzügen sowie Treppen, die das Gebäude durchqueren und an der Fassade entlangführen. Dieser Weg, der den Block wie eine vertikale Strasse durchzieht, hatte sogar Einfluss auf die Konstruktion: Er fügt die einzelnen «Häuser» zu einem städtischen Komplex zusammen. Selbst die Wahl zweigeschossiger Wohneinheiten (Duplex) in der Attika und dreigeschossiger Typen (Triplex) unterhalb der Aussichtsplattform resultiert aus dieser Logik. Von der obersten Ebene der Maisonettes führen Treppen auf die Dachterrasse, die - über die Einöde von Sanchinarro - einen schönen Ausblick zum Guadarrama-Gebirge bietet.

Wenn dieser Superblock bereits zum Stadtgespräch geworden ist, dann nicht wegen seiner Grösse, sondern wegen seines auffälligen Lochs. Um jedes Déjà-vu zu vermeiden, entschieden sich die Architekten von MVRDV, über dem 12. Stockwerk einen 15 Meter hohen Hohlraum mit einer Aussichtsplattform von 550 Quadratmetern zu belassen, die schon jetzt zum Wahrzeichen von Sanchinarro geworden ist. Diese kann jedermann über den öffentlichen Aufzug erreichen, um die Aussicht zu geniessen.

Da Mietwohnungen bei den Spaniern verpönt sind, hält der Superblock nur Eigentumswohnungen bereit. Doch die EMV hatte festgelegt, 156 Einheiten als subventionierte Wohnungen anzubieten, die gut 50 Prozent unter dem marktüblichen Preis verkauft werden. Dass diese Preise nur mit gewissen Einbussen in der Ausführungsqualität möglich waren, lässt sich leicht ausrechnen. Zwar gehört die Geschosshöhe von 2,5 Metern auch in Spanien längst zur allgemein akzeptierten Norm. Aber der glückliche Besitzer einer Eigentumswohnung im 22. Geschoss wird sich damit abfinden müssen, dass er beim Blick auf die weite Landschaft der Zugluft, welche durch die Fensterritzen pfeift, ausgesetzt ist.

2. Juni 2005 Neue Zürcher Zeitung

Glücklich am Wasser

Die zweite Architekturbiennale von Rotterdam

Das Bauen am Wasser, das von jeher die Basis des niederländischen Städtebaus bildet, steht im Zentrum der zweiten Architekturbiennale von Rotterdam. Daraus entwickelt das Nederlands Architectuur Instituut (NAI) die Vision einer neuen Wasserstadt.

Wer dieser Tage durch Rotterdam streift, wird vielleicht verdutzt vor einem Plakat Halt machen, das eine riesige, aufschäumende Welle zeigt. Weisse und blaue Lettern geben Auskunft, was uns droht: De Zondvloed (die Sintflut). Was wie die Warnung einer Weltuntergangssekte klingt, entpuppt sich schnell als skurrile Werbung für die zweite, vom Nederlands Architectuur Instituut (NAI) organisierte Architekturbiennale von Rotterdam, die sich dem Thema Wasser und Stadt widmet. Der Landschaftsarchitekt Adriaan Geuze, Kurator der diesjährigen Biennale, meinte während der Eröffnungsveranstaltung, er habe die Flutwelle vor der holländischen Küste aufgenommen. Er versteht sie als Hinweis auf die wind- und wettergeprüften Niederlande, keinesfalls aber als Anspielung auf die Umweltkatastrophe in Südostasien. Wer also bei der Architekturbiennale an Tsunamis denkt, der liegt falsch. Die Ausstellung präsentiert zwar «Flood Resistant Housing» von Greg Lynn und West 8, entworfen sind diese Häuser jedoch für das Überflutungsgebiet entlang der IJssel. Der amerikanische Architekt und die Rotterdamer Landschaftsarchitekten entwickelten ein neues Siedlungsmodell für wassernahes Wohnen, das weiter führt als das traditionelle Bauen auf Poldern und Deichen. Wenngleich es auf der Biennale um die Neuerfindung von Landschaft, Stadt und Architektur geht, so dreht sich doch alles um die «Hollandse Waterstad». Geuze möchte diese holländische Tradition wachhalten und zeitgemäss deuten.

Holländische Wasserstadt

Es ist nicht zufällig, dass Geuze zwei Jahre nach Francine Houbens aufregender erster Rotterdamer Architekturbiennale zum Thema «Mobilität» zu den holländischen Grundlagen von Städtebau und Landschaftsplanung zurückkehrt. Denn Geuze, der 1996 den Masterplan für die brachliegenden Amsterdamer Pieranlagen Borneo und Sporenburg entwickelte, gilt als entschiedenster Erneuerer der «Hollandse Waterstad». Der von ihm neu geplante Teil des östlichen Hafengebiets von Amsterdam zählt weltweit zu den überzeugendsten Hafenumwandlungen der letzten Jahre. Hier ist Wohnen am Wasser in stark verdichteten Apartmenthaus-Anlagen und hoch aufragenden architektonischen Landmarken möglich. Im Gespräch erklärt Geuze, dass er dieses Hafengebiet als «eine zeitgenössische Antwort auf die alten Amsterdamer Kanäle» verstehe. Entsprechend lasse der Masterplan für Borneo-Sporenburg klare Vorbilder erkennen: «Wir sollten uns daran erinnern, dass man im Amsterdam des 17. Jahrhunderts bestens wusste, wie Strassen und Wasserwege im Städtebau anzulegen sind. Doch in den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts ging dieses Wissen verloren. Erst in unseren Tagen besinnen sich die Stadtplaner Amsterdams wieder auf das Erbe ihrer Stadt, das Erbe des 17. Jahrhunderts.»

Zukunftsträume

In der Ausstellung im NAI wird dargelegt, wie es in 700 Jahren zu insgesamt 3500 Poldern gekommen ist. Ganz nebenbei werden einige der zahllosen Landschaftsplaner dem Vergessen entrissen und andere - etwa Aldo van Eyck, Gerrit Rietveld oder Cornelis van Eesteren - mit der Besiedlung der Poldern in Verbindung gebracht. Die Wasserstadt hingegen wird in den grossen Ausstellungshallen des alten Speichergebäudes «Las Palmas» thematisiert. Hier, auf dem Wilhelminapier, schlendert man an zahllosen Maquetten von Hafenstädten vorbei, die alle belegen, wie vielgestaltig deren Bindefunktion zwischen Land und Wasser ist. An Modellen für Utrecht, Gouda oder Delft aus dem 11. bis 17. Jahrhundert möchte Geuze aufzeigen, dass die Handelshäfen mit ihren Bewehrungen, Lagerhallen, Handelsniederlassungen und öffentlichen Einrichtungen im Stadtleben verankert waren. Diese Tradition gelte es zu reaktivieren. Allerdings suggeriert die Ausstellung, die Geschichte der Wasserstadt unterliege einer bruchlosen Entwicklung. Natürlich hat es diese - darüber weiss Geuze selbst am besten Bescheid - niemals gegeben. Denn bevor Rotterdams Kop van Zuid und Amsterdams östliches Hafengebiet zu weithin beachteten Modellen der Hafenumnutzung wurden, bewirkte die Zeit der Industrialisierung, dass der Hafen von der Stadt getrennt und zum Zentrum der Schwerindustrie wurde - bis sich im 20. Jahrhundert der Industriehafen zur Stadt in der Stadt wandelte, der öffentliche Zugang zum Ufer blockiert wurde und Stadt und Hafen völlig auseinander brachen. Diese lange Geschichte überspringt Geuze. Lieber weicht er, zwecks Würdigung seiner Idealstädte, auf «Seaside Resorts» wie Brighton und Ostende oder militärische Wasserstädte wie Naarden aus.

Geuzes Steckenpferd ist die «New Dutch Watercity». Zu diesen Zukunftsstädten gehört das IJssel-Projekt von Greg Lynn und West 8, das die alte Tradition der Halligenhäuser auf Warfen aufgreift. Mit den Überschwemmungsgebieten der IJssel nahe Kampen beschäftigt sich auch das Rotterdamer Avantgarde-Team MVRDV. Die Architekten wollen hier simple Einfamilienhäuschen ansiedeln, die zum Schutz vor Überschwemmung auf Stelzen stehen. Zum staatlichen Vinex- Programm, das seit Jahrzehnten den Bedarf an neuen Siedlungen regelt, gehört nicht nur das Leben am Wasser, sondern auch das Leben im Wasser. Weil den Holländern die Aufschüttung des künstlichen Archipels IJburg östlich von Amsterdam nicht ausreicht, wollen sie das eigene Heim zur Insel machen. Die unzähligen Hausboote auf den Amsterdamer Kanälen dürfen als ihre Vorläufer gelten. In Flevolands Huizen, auf Amsterdams Steigereiland und Roermonds Marina sollen «schwimmende Häuser» wieder die verschüttete Seefahrerleidenschaft der sesshaft gewordenen Holländer wecken. Doch bevor Geuze die Niederlande zur «Floating Society» umwandelt, steht erst einmal der pragmatischere Plan «Rotterdam 2035» zur Realisation an. In dreissig Jahren wird man dann von der Flussstadt, der Wasserwegstadt und der Kanalstadt reden. Geuze träumt von einer Zukunftsstadt mit weitverzweigten Wasseradern, die eine ungeahnte städtische Lebensqualität bieten soll.

Geuze will offenbar zeigen, dass sich seit den frühen Projekten wie etwa der «City on Pampus», die Bakema und van den Broek 1964 als östliche Erweiterung Amsterdams für 350 000 Bewohner errichteten, die Zeiten grundlegend geändert haben. So soll «Valencia Litoral», ein in den nächsten dreissig Jahren durchzuführendes Projekt, die gesamte städtische Meeresfront der spanischen Mittelmeerstadt urbanisieren. Und in Dubai werden mehrere Milliarden Dollar in ein touristisches Eldorado in Form von zwei palmenförmigen Inseln (NZZ 5. 3. 04) investiert. Trotz Tsunamis und aufgrund der Klimaerwärmung drohender Sintflut ist offenbar die Angst vor dem Wasser gewichen. Die Niederlande machen es der grossen Welt wieder einmal vor. Nur wer nah am Wasser baut, lässt Adriaan Geuze verkünden, ist der Glückliche.

Die 2. Internationale Architekturbiennale Rotterdam dauert auf «Las Palmas» und im Niederländischen Architekturinstitut bis zum 26. Juni. Katalog: The Flood (engl./niederl.). Euro 14.50.

13. Mai 2005 Neue Zürcher Zeitung

Ein kleines Guggenheim

Das MARTa-Museum von Frank O. Gehry in Herford

Mit Möbeldesign und Kunst will die ostwestfälische Kleinstadt Herford künftig im internationalen Wettstreit der Museen mitspielen. Dazu hat sie sich von Frank O. Gehry ein exzentrisches Haus bauen lassen, das ganz direkt auf den Bilbao-Effekt abzielt. Der Neubau und die Eröffnungsausstellung hinterlassen eher zwiespältige Eindrücke.

Die mittelalterliche Kleinstadt Herford in Ostwestfalen-Lippe wollte hoch hinaus. Ein Museum für Kunst und Möbeldesign musste her, entworfen vom Kalifornier Frank O. Gehry. Auch der neue Museumsdirektor sollte nicht irgendwer sein, sondern Jan Hoet, der 1992 die Kasseler Documenta IX geleitet hat. So war die Euphorie der Politiker, Unternehmer und Kuratoren kaum zu bremsen, als das neue Haus vor wenigen Tagen eröffnet wurde. Hoet sah schon die «grösste Kleinstadt Deutschlands» entstehen, weil sie es geschafft habe, «Visionen» zu entwickeln. Einen veritablen «Gehry» könne sie vorweisen und stehe nun auf gleicher Höhe mit den Nachbarstädten Bielefeld und Osnabrück, die mit Philip Johnsons Kunsthalle und dem Felix-Nussbaum-Museum von Daniel Libeskind punkten dürfen. Schliesslich fiel der Satz, den man erwartet hatte: «Wir wollen das kleine Bilbao werden», verkündete der Chef der als Betreiberfirma fungierenden gemeinnützigen Gesellschaft für Möbel, Kultur und Kunst. Freudiges Kopfnicken signalisierte allgemeine Zustimmung.

Hybrides Bauwerk

Einen drolligen Namen dachte man sich für das neue Museum aus: MARTa. Dieses kuriose Sprachgebilde steht für «M» wie Möbel, «ART» wie Kunst und «a» wie Ambiente. Was so unbeholfen zusammengezwängt ist, verweist auf ein hybrides Bauwerk, das nicht nur unterschiedliche Funktionen, sondern auch Neues und Altes aufregend miteinander verbindet. Das MARTa, so schwante es vor Jahren dem ehemaligen Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen Wolfgang Clement, sollte ein «Haus des Möbels» zur Förderung des einheimischen Wirtschaftsstandortes werden. Nun ist daraus eine multifunktionale Einrichtung geworden: Ein «Museum für Kunst und Design», ein «Forum für Kultur, Veranstaltungen und Präsentationen» sowie ein «Zentrum für Kompetenz und Information».

Gehry hat daraus eine amerikanische Variante des hierzulande geläufigen «Bauens im Bestand» gemacht. Das Museum erscheint zunächst, wenn man sich ihm vom Bahnhof und von der gewundenen Hauptstrasse her nähert, wie ein kompletter Neubau. Eine verwirrende Architektur, die Klinkerfassade, Stahlbetonkonstruktion und ein wogendes Dach aus Stahlblech miteinander verbindet. Erst der rückwärtige Teil, der sich einem Flüsschen anschmiegt, und das Foyer verdeutlichen die Logik der Konstruktion. Gehry musste nämlich ein denkmalgeschütztes Betriebsgebäude, einen viergeschossigen, klar gegliederten Stahlskelettbau aus den fünfziger Jahren respektieren.

Aufregender Fremdkörper

Die Herforder Bauherren, die gerne auf Gehrys «Energieforum Innovation» im nahen Bad Oeynhausen sowie auf dessen Entwurf für die Erweiterung der Bielefelder Kunsthalle verweisen, dachten natürlich nicht an nahtlose Einpassung des neuen Museums in die umstehenden Gründerzeithäuser, eher an ein werbewirksames Objekt. Für derart exzentrische Projekte ist Gehry bekanntlich der Richtige. Seitdem er vor 25 Jahren im kalifornischen Santa Monica ein kleines Einfamilienhaus mit Ziegelschornstein und Schindeldach lustvoll ausbaute und durch eine Umhüllung aus Wellblech, Drahtgitter und laminierten Holzplatten erweiterte, war allseits klar, was er unter «Bauen im Bestand» versteht. Aber Santa Monica ist nicht Herford. Und Gehrys Zugeständnis, den Massstab zu wahren und die westfälische Klinkertradition aufzugreifen, konnte nicht verhindern, dass das MARTa zum aufregenden Fremdkörper in der mittelalterlichen Kleinstadt wurde.

Trotz allen Anstrengungen schaffte es Herford nicht, zum kleinen Bruder von Bilbao zu werden. Natürlich konnte der Versuch nur scheitern. Denn das riesige Guggenheim-Museum wirkt in der grauen baskischen Industriestadt wie eine vom Himmel gefallene Sternschnuppe. Nichts von dieser Strahlkraft in Herford: Das MARTa ist eine sich selbst feiernde Architektur, die der Kunst, für die sie gebaut wurde, wenig Luft lässt. Diese Apotheose «alpiner Architektur» im westfälischen Flachland will offenbar unter Beweis stellen, dass man sowohl Konzerthallen in Los Angeles als auch Museen in Westfalen wie Gebirgsmassive bauen kann. Doch selbst der experimentierfreudigste Architekt muss zugestehen, dass Musiksäle als Schuhschachteln und Ausstellungssäle als orthogonale Räume am besten funktionieren. Mit diesem Pragmatismus kann sich Gehry selbstverständlich nicht anfreunden. Im Guggenheim-Museum musste er die Ausstellungsflächen auf ein Mindestmass reduzieren, damit sie sich in die widerspenstige Architektur einpassen liessen. In Herford treffen nun Kubaturen und Kunsträume schmerzlich aufeinander.

Schwierige Ausstellungsräume

Gehry setzte vor den rückwärtig gelegenen Altbau die neuen Bereiche für Forum und Wechselausstellungen, wobei es ihm gelang, diese zur Strasse heranzurücken und gleichzeitig um einen prägnanten Vorplatz zu gruppieren. Vom Altbau ist das neue Ensemble durch eine verwegen vorgeblendete Glasfassade und eine zentrale Wegachse getrennt, die den Zugang zum Museum, zum «Forum», zum «Zentrum» und zum Café mit kupfernen, organisch ausgebuchteten Galerien regelt. Zum Blickfang des Museumsbereichs machte Gehry fünf apsidenartige Baukörper. Diesen setzte er schräg gestellte zylindrische Helme auf, die im Innern als Lichtschächte dienen. Hier erweisen sich die wogenden Wände und tief heruntergezogenen Gewölbe mit ihren zahllosen Zwickeln als problematisch, sie müssen die Kuratoren bei der Hängung der Bilder zur Verzweiflung getrieben haben. Die Ecken und Wellen beengen jede bespielbare Fläche. Selbst mit dem zentral gelegenen «Dom» hatten die Ausstellungsmacher ihre liebe Mühe - trotz seinem quadratischen Grundriss. Praktische Einbaukästen, die eigens für die Eröffnungsausstellung «(My private) Heroes» aufgestellt wurden, können nur kosmetische Abhilfe schaffen.

Problemlos ist hingegen die Präsentation der Sammlung Karl Kerber im ersten Geschoss des Altbaus. Die restaurierten Räume dienen der Kunst besser als die selbstverliebte Architektur Gehrys. Dergleichen konnte Jan Hoet nicht aus der Fassung bringen, denn die narzisstische Präsentation seiner «ganz persönlichen Helden» ergänzt Gehrys Riesenskulptur geradezu kongenial. Diese Schau, die auf die Renaissance der Helden in zahllosen Facetten setzt, macht ratlos, weil sie nichts weiter als ein beliebiges Sammelsurium von Hoets privaten Obsessionen ist. Sie erklärt alles zur Kunst, die Installation von Nazi-Reliquien und Francis Bacons «Kardinal», Jan Ullrichs gelbes Trikot und Georg Baselitz' «Soldat», nicht zu vergessen die neue Grossskulptur des aufstrebenden Herford - Gehrys MARTa.

31. Dezember 2004 Neue Zürcher Zeitung

Einzigartige Architektur?

Baudrillard und Nouvel im Gespräch

Der holländische Architekt Rem Koolhaas hat in den neunziger Jahren, als Südostasien von anämischen Hochhauslandschaften überwuchert wurde, von der unaufhaltsamen Ausbreitung des «junk space» gesprochen. Angesichts dieser Tendenz könnte man meinen, dass Architektur zum Refugium der «happy few» unter den internationalen Stars geworden ist, die sich ihre Bauherren aussuchen können. Jean Nouvel, selbst einer der «happy few», und der Philosoph Jean Baudrillard fragten in einer vom Pariser Maison des écrivains organisierten Diskussionsreihe nach der Einzigartigkeit der Architektur. Wie nicht anders zu erwarten, tastete man sich zunächst langsam zu den begrifflichen Voraussetzungen des Gesprächs vor. Denn wenn bei weitem nicht alles Gebaute schon Architektur ist, unter welchen Umständen kann dann von «einzigartiger Architektur» gesprochen werden? Oder, allgemeiner, von «einzigartigen Objekten»?

In seinem beachtlichen Frühwerk «Le système des objets» hatte Baudrillard eine kontrollierte Warenwelt beschrieben, in der die Objekte zu einem Gefüge von Funktionen geworden sind, denen jegliches Mysterium und Naturhafte ausgetrieben ist. Für diese Welt des Konsums, die nichts von ihrem Produktionsgrund weiss und nur noch die kulturelle Kohärenz von «Zeichen-Objekten» kennt, kann es keine einzigartigen Objekte geben. Angesichts der Globalisierung hat Baudrillard nun diese These revidiert. Das Einzigartige versteht er als Stachel in der globalen Entwicklung des Kapitalismus; als «Riss» in der weltweiten Vernetzung der Machtzentren. Im Jahre 2000, als Baudrillard das Gespräch mit Nouvel führte, schien er seine anarchische Lust noch bändigen zu wollen, als er den Finanzmoloch New York als einen Körper beschrieb, «der bereits da ist und den man nicht mehr zerstören kann». Nach dem Attentat vom 11. September 2001 glaubte er verkünden zu sollen: «Der Zusammenbruch der Türme ist ein symbolisches Ereignis höherer Ordnung. [. . .] Er ist ein einzigartiges Ereignis in der Geschichte der modernen Stadt, er präfiguriert eine Form des dramatischen Endes, um nicht zu sagen des Verschwindens dieser Form von Architektur wie auch des von ihr inkarnierten Weltsystems.»

Gibt es tatsächlich so etwas wie die «Architektur als reines Ereignis», von der Baudrillard träumt? Sicherlich liegt sie am ehesten in einer Bestimmung, der am Schluss beide Gesprächspartner zustimmen: Wenn eine gebaute Architektur etwas Einzigartiges ist, dann nur, wenn sie Ballast abwirft, wenn sie aus der Idee und der Geschichte der Architektur heraustritt. Solche Architektur zielt nicht auf Veränderung anhand von Modellen, sondern auf ein Werden ohne klare Richtungsangabe. Baudrillard: «Dahin zu gelangen, alles auszuschalten, leer zu machen, ist zweifellos die Vorbedingung zu jedem authentischen Schaffensakt. Wenn du keine Leere machst, wirst du niemals zur Einzigartigkeit gelangen.»

[ Jean Baudrillard, Jean Nouvel: Einzigartige Objekte. Architektur und Philosophie. Passagen, Wien 2004. 125 S., Fr. 28.80. ]

verknüpfte Publikationen
- Einzigartige Objekte

30. Oktober 2004 Neue Zürcher Zeitung

Konzeptlose Leidenschaft

Tadao Andos Museum für die Langen Foundation in Hombroich

Die «Museumsinsel Hombroich» gilt schon lange nicht mehr als Geheimtipp. Denn immerhin zieht der Kunst- und Landschaftspark bei Neuss mittlerweile jährlich 70 000 Besucher an - darunter Niederländer, Schweizer und Franzosen, ja sogar Japaner. Mittlerweile ist das aussergewöhnliche Gebiet um eine Attraktion reicher. Der seit 1983 bestehende Park konnte vor etwa zehn Jahren auf eine angrenzende Raketenstation der Nato ausgeweitet werden, wo zuvor Sprengköpfe für Pershing-Raketen und Cruise-Missiles lagerten. In der folgenden Zeit verwandelten bildende Künstler wie Eduardo Chillida, Erwin Heerich und Peer Kirkeby die ehemals verbotene Stadt in den «Kulturraum Hombroich» - mit Skulpturen sowie wissenschaftlichen und kulturellen Einrichtungen. Zu einem wahrhaft architektonischen Zugewinn führte aber erst der Entschluss des Sammlerehepaars Viktor und Marianne Langen, auf der «Raketenstation Hombroich» ein privates Museum von Tadao Ando bauen zu lassen. Der japanische Architekt sorgte für eine wohltuende Abwechslung, nachdem Erwin Heerich mittlerweile seit zwei Jahrzehnten an jeder Ecke Hombroichs seine sattsam bekannten Klinkergebäude mit kubischen Grundmustern errichtet hatte.

Licht und Schatten

Ando hat sich die Erdwälle der Raketenstation zunutze gemacht und die zwei Riegel seines Museums wie in eine Mulde eingebettet. So beherbergen die «Schutzwälle» einen langgestreckten gläsernen Quader, zu dem erst gelangt, wer zunächst eine japanische Gartenanlage überquert - durch das Tor eines konvexen Kreissegments hindurch, dann zwischen Kirschbäumen, einer konkav gestalteten Rohbetonwand und einem Spiegelteich entlang. Durch diesen zauberhaften Eingangsbereich erweist sich Ando als Meister einer «architecture parlante»: Die vordere Seite des Museumsriegels ragt wie ein Bug in den künstlichen Teich und lässt, je nach Sonnenstand, zwischen durchlaufender Glasfront und Betonkern vielfältige Schattenreflexe entstehen. Das Spiel von Licht und Schatten, der sensible Einsatz von Wasser innerhalb begrenzender Erdwälle, das Changieren zwischen opakem Sichtbeton und transparentem Glas, das Nebeneinander von funktionalen und szenischen Elementen - diese architektonische Welt Tadao Andos fügt sich wie ein Mysterium zum rationalen Baustil eines Erwin Heerich.

Die allseitige Erwartung war nicht gering, als die Langen Foundation eine Eröffnungsausstellung ankündigte, die ein interessantes Wechselspiel zwischen Architektur und Kunst versprach: «Bilder der Stille. Die Tradition Japans und die westliche Moderne». Der erste Teil der Ausstellung befindet sich in einem hermetischen Raum im Innern des Betonkerns, einem schlauchartigen Saal, der das Herzstück der Sammlung umfasst - rund neunzig, darunter höchst anmutige, japanische Rollbilder aus dem 12. bis 19. Jahrhundert. Von frühen buddhistischen Kultbildnissen über narrative Zeugnisse der höfischen Tradition bis zur profanen japanischen Malerei. Diese Schatztruhe bleibt dem Besucher auch nach der laufenden Ausstellung zugänglich.

Für den Sammlungsbestand aus der westlichen Moderne hat Tadao Ando zwei parallele Trakte, die aus einem angedockten Gebäudekomplex bestehen, sechs Meter tief ins Erdreich verlegt. Das spektakulärste Entrée zu den unterirdischen Sälen ist eine zum Hof führende Freitreppe. Allerdings zeigt sich auch hier wieder Andos Hang zur Theatralik - der Zugang endet nämlich vor einer verriegelten Glastür. Auch die Rampe hinunter zum ersten Ausstellungssaal erweist sich nicht unbedingt als sehr funktional, da die Hängung der Bilder dem architektonischen Effekt geopfert wer- den musste.

Cézanne - japanisch

Was Viktor und Marianne Langen in ihrem Leben an moderner Kunst gesammelt haben, überrascht durch etliche hochkarätige Werke, von Paul Cézanne bis Anselm Kiefer. Auffällig an den ausgestellten Arbeiten ist, dass sie mehr eine Sammelleidenschaft als ein klares Konzept verraten. Die Liebe zur alten japanischen Kunst, zu den lyrischen Graphismen und zarten Tuschezeichnungen hinterlässt ihre Spuren allenfalls in den Bildern eines Paul Klee und Joan Miró. Und es fragt sich, ob der Ausstellungstitel «Bilder der Stille» angesichts der Unterschiedlichkeit der ausgestellten Werke nicht doch etwas willkürlich gewählt wurde.

Aber zumindest bei einigen Gemälden ist unverkennbar, dass die suggestive Farbgebung besonders in der amerikanischen Nachkriegsmalerei das Sammlerehepaar beeindruckt haben musste. Wovon nicht nur die monochromatischen Ölbilder eines Mark Rothko zeugen. Auch frühere Kunstrichtungen, die sehr stark auf Reduktion bildnerischer Mittel setzen, scheinen das Interesse des Ehepaars geweckt zu haben. Beispielsweise Cézannes spätes Bild der «Montagne Sainte-Victoire». Diesen berühmtesten Berg der modernen Kunstgeschichte hat er mehrfach gemalt. Aber dieses Gemälde von 1906 ist sein einfachstes und «japanischstes».

Bilder der Stille. Die Tradition Japans und die westliche Moderne. Langen Foundation, Hombroich bei Neuss. Bis 15. Mai 2005. Katalog Euro 15.-.

27. Oktober 2004 Neue Zürcher Zeitung

Städtebauliche Ideen für Kabul

Ein Strategieplan für den Wiederaufbau der Altstadt

Eine deutsch-afghanische Architektin hat einen Plan für den Wiederaufbau Kabuls ausgearbeitet, der von der afghanischen Regierung akzeptiert wurde. Dennoch sind die Widerstände immens. Investoren fehlen, Gelder werden falsch verteilt, und der Streit zwischen dem Städtebauministerium und der Stadtverwaltung lähmt die Arbeit.

Der Architektin Zahra Breshna ist das Leben zwischen den Welten nicht fremd. Zwar wohnt sie seit 24 Jahren in Deutschland und besitzt mittlerweile im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg ein Architektenbüro. Doch kürzlich hat sie sich wieder in ihre Heimatstadt Kabul aufgemacht, um ihre Ideen vom Wiederaufbau der Altstadt voranzubringen. Bereits der Grossvater hatte in den zwanziger Jahren in Berlin bei Max Liebermann studiert und auch dort geheiratet. Später ging auch ihr Vater, Abdullah Breshna, nach Deutschland, liess sich zum Architekten ausbilden und arbeitete bei Egon Eiermann. Als er Anfang der sechziger Jahre unter König Zahir Schah nach Afghanistan zurückkehrte, trug er massgeblich zur modernen Stadtentwicklung Kabuls bei. Doch 1980 besetzte die Sowjetarmee das Land, worauf die Breshnas das Land fluchtartig verliessen. Der Besatzung folgten die Tyrannei verfeindeter Mujahedin-Gruppen, die Schreckensherrschaft der Taliban und der Krieg.

Neue Strukturen und alte Mentalitäten

Zahra Breshnas Dokumentation der Wunden Kabuls ist bedrückend: 80 Prozent der Altstadt und 50 Prozent der gesamten Stadt sind zerstört. Gleichzeitig stieg seit dem Fall des Taliban- Regimes die Einwohnerzahl von 700 000 auf nahezu 3 Millionen an. Die Folgen sind schlechte hygienische Verhältnisse, wachsende Obdachlosigkeit, eine kaum funktionierende Infrastruktur und beschädigte öffentliche Einrichtungen. Dass leer stehende Häuser von notleidenden Menschen einfach besetzt werden, gehört zur Normalität. Als Breshna nach 20 Jahren erstmals wieder in ihre Heimat zurückkehrte, kam ihr der Flugplatz wie ein «riesiger Schrotthaufen» vor, «wo überall herausgerissene Flugzeugteile herumlagen». Und an jeder Ecke bemerkte sie eine «furchtbare Verwahrlosung». Trotzdem hat sie sich voll und ganz dem Wiederaufbau der Altstadt verschrieben.

Die Beharrlichkeit hat sich ausgezahlt. Momentan leitet Breshna das «Department for Preservation and Rehabilitation of Urban Heritage in Afghanistan», eine dem Städtebauministerium unterstellte Abteilung. Sie ist heute nicht nur für Kabul, sondern für den Wiederaufbau aller zerstörten Altstädte Afghanistans verantwortlich. Als noch niemand in Afghanistan an Wiederaufbaupläne für Kabul dachte, arbeitete die diplomierte Architektin an einer Dissertation über «Die Wiederaufbaustrategie für die zerstörte Altstadt von Kabul». Auf einer internationalen Städtebaukonferenz im Sommer 2002 erhielt sie den Auftrag, ihre Entwürfe zu verfeinern; und Ministerpräsident Hamid Karzai ermunterte sie am Rande der Gespräche auf dem Bonner Petersberg, ihre Arbeitskraft dem neuen Afghanistan zur Verfügung zu stellen. Breshna ist noch heute begeistert: «Ich habe keine Sekunde lang gezögert und bin schnellstmöglich nach Kabul gefahren.»

Probleme vor Ort waren wegen Hungerlöhnen, Bestechlichkeit und schlechter Arbeitsmoral vorherzusehen. Selbst Breshna wartet noch immer auf einen Vertrag der Regierung. Derweil hat der Aga Khan Trust ihre Bezahlung übernommen, allerdings nur für eine beschränkte Zeit. Hinderlich sind mangelnde Koordinierung vor Ort, sachunkundig getroffene Entscheidungen und daraus resultierende Fehlinvestitionen ausländischer Institutionen, aber auch die Zurückhaltung von Investoren sowie die Kompetenzstreitigkeiten zwischen Stadtverwaltung und Städtebauministerium. Die Regierung zeigte sich erfreut über die von Breshna eingereichten Pläne, die bewusst bewahrende, an der bestehenden Struktur der Kasbah ausgerichtete Elemente mit neuen urbanistischen Konzepten verbinden. Aber die Kabuler Stadtverwaltung opponiert unverdrossen gegen diese Entwürfe. Die Ursache sieht Breshna in der starren Bürokratie, die unfähig sei, die Probleme einer 3-Millionen-Metropole auch nur annähernd zu lösen. So hält der Bürgermeister Kabuls an einem Masterplan fest, den er nach Vertreiben der Taliban vor drei Jahren aus der Schublade hervorkramte. Dieser wurde zwischen 1964 und 1971 von sowjetischen Architekten ausgearbeitet und gilt noch heute vielen Beamten als Ideal eines modernen und prosperierenden Kabul. Dabei propagiert er eine nach dem Modell des stalinistischen Monumentalismus geformte Stadt mit Verkehrsschneisen, Hochhäusern und einer zugunsten von Plätzen und öffentlichen Einrichtungen radikal umgemodelten Altstadt.

Urbane Besonderheiten

Diesen Plan verwirft Breshna, da er die gewachsenen urbanen und kulturellen Besonderheiten Kabuls missachtet. Ihr «Strategieplan» geht dagegen von den Veränderungen aus, die das Stadtbild seit vorislamischer Zeit durchmachte. Zur ersten Entwicklungsphase zählt sie die typische Morphologie islamischer Städte: eine Kasbah, bestehend aus ummauerten Quartieren, die ihrerseits Cluster von zentrierten Raumzellen bilden. Von diesen nichthierarchisch angelegten Quartieren, die ursprünglich von unterschiedlichen Ethnien und Berufsgruppen selbständig organisiert wurden, ist in der heutigen Altstadt nur wenig übrig geblieben, ebenso wenig von den Konstruktionsprinzipien der Privathäuser mit ihren homogenen Fassaden, den abgeschirmten Wohnbereichen und den zentral gelegenen Höfen. Ganz zu schweigen von den schattigen Gassen, quirligen Basaren, reich ornamentierten Moscheen und üppigen Gärten. Doch für Breshna gehört all dies zum Gedächtnis einer Stadt, das es unbedingt wiederzubeleben gilt - ohne aber einen nostalgisch verklärten Zustand wiederherzustellen, den es seit Mitte des 20. Jahrhunderts nicht mehr gibt. Sie weist darauf hin, dass die seit 1878 vorgenommene Errichtung einer Neustadt mit Achsen und Sichtbeziehungen zwangsläufig auch die Altstadt verändern musste. Der einschneidendste Eingriff ins Altstadtgefüge erfolgte 1949, als man die breite Jade-Maiwand- Achse durch das Gewirr der Kasbah schlug.

Die Architektin möchte einerseits die Modernisierung weitertreiben, anderseits die heute als schäbig empfundene Altstadt restaurieren und die traditionellen regionalen Bauweisen wieder fördern. Deshalb befürwortet sie die Idee, Kabul II, eine Neustadt auf einer Hochebene jenseits des Flughafens, von den zukünftigen Bewohnern mit traditionellem Baumaterial selbst errichten zu lassen. Sie möchte mit Lehmarchitektur die alten Konstruktionsweisen und Handwerkstechniken reaktivieren und so ein ökonomisches, ökologisches und kulturell angemessenes Bauen fördern. Dabei hofft sie, dass sich langfristig auch Architekten, Stadtplaner und Ingenieure aus dem Exil an dieser Selbstorganisation der Menschen beteiligen werden.

Breshnas Leitgedanke betrifft die historisch gewachsenen Strukturen, aber auch den Ausbau eines modernen Stadtzentrums mit Repräsentations-, Geschäfts- und Wohnbereichen. Besonders wichtig ist ihr ein dezidiert modernes städtebauliches Konzept, das sich an Ringen, Zwischenzonen und Bändern orientiert. Vorgesehen ist die Begrenzung des Altstadtkerns durch einen inneren Ring, in dessen Mitte die historische Struktur mit den Basaren partiell rekonstruiert wird. Es folgt eine zwischen Altstadt und Stadterweiterungen angelegte Zwischenzone mit überdurchschnittlichem Entwicklungspotenzial. Hier, entlang des Kabul-Flusses, möchte Breshna unterschiedliche städtebauliche und architektonische Strukturen und Typologien überlagern und markante Hochhäuser errichten. Westliche urbanistische Konzepte sollen vornehmlich in den äusseren Bereichen berücksichtigt werden: in einem die Altstadt umschliessenden Band, das durch Flüsse, Kanäle und Seen bestimmt wird, und einem Grüngürtel, der wichtige kulturelle Orte verbindet. Breshna hofft, dass Kabul die positiven Eigenschaften von einst wiedererlangen wird, als in ihr Paschtunen, Tadschiken, Hindus, Sikhs, Juden, Usbeken und Turkmenen zusammenlebten und sie unter Zahir Schah von aufgeklärtem und säkularem Denken geprägt war. Daran gelte es anzuknüpfen. Um - nach der Verteufelung der «sündigen» Stadt durch die Taliban - eine lebendige städtische Gesellschaft zu fördern.

1. Oktober 2004 Neue Zürcher Zeitung

Architektonische Offensive in Düsseldorf

Ein neuer Bauboom dank Investorenhilfe am Niederrhein

Einst galt Düsseldorf als Stadt der Banken und der Mode. In den achtziger Jahren rückte dann zusehends die moderne und zeitgenössische Kunst in den Vordergrund; Museen und Galerien gewannen an Bedeutung. Doch inzwischen scheint die Architektur eine führende Rolle in der Selbstwahrnehmung der Stadt übernommen zu haben.

Die Rivalität zwischen den beiden Rheinmetropolen Köln und Düsseldorf ist Legende. Lange stritt man sich um die Vorherrschaft auf dem Kunstsektor. Jede Stadt wollte die meisten Galerien und die wichtigsten Museen haben. Nun, nach Jahren des Streits, scheint es so, als habe man sich einen anderen Schauplatz ausgesucht. Als die Kölner mit dem «Mediapark» in die architektonische Offensive gingen, Stars wie Jean Nouvel und Herman Hertzberger präsentierten, zogen die Düsseldorfer sogleich nach: Der alte Rheinhafen wurde zur «Medienmeile» umgerüstet, und internationale Vorzeigearchitekten polierten das Image der Landeshauptstadt auf. Wenig später folgte die Antwort: Der Kölner Stadtrat entschied sich im vergangenen Jahr, gegen heftigen Widerstand in der Bevölkerung und die Ermahnungen der um das Weltkulturerbe des Doms besorgten Unesco, auf der Deutzer Rheinseite eine Hochhauslandschaft aufzustellen.

Stadtkrone

Die Antwort aus Düsseldorf liess nicht lange auf sich warten: 15 Hochhäuser seien derzeit in der Planung, brüstete sich Oberbürgermeister Joachim Erwin von der CDU und fügte selbstbewusst hinzu, Düsseldorf sei jetzt schon «die prosperierendste Region Deutschlands». Nun gelte es, die Landeshauptstadt «fit fürs 21. Jahrhundert zu machen». Seinem Ziel, einmal als grösster Erneuerer in die Annalen der Stadtgeschichte einzugehen, ist er beträchtlich nähergekommen, seit er sich selbst zum Planungsdezernenten kürte. Weil der Oberbürgermeister die unzähligen Liebhaber der historischen Stadt nicht verärgern will, bevorzugt er in der Öffentlichkeit eher moderate Töne. Wer im Gespräch mit ihm ein offenes Bekenntnis zum modernen Stadtumbau erwartet, sieht sich aber schnell enttäuscht: Joachim Erwin spricht ganz diplomatisch von «Stadtergänzung» und «Stadtreparatur». Aber so moderat geht es selbst in der Innenstadt dann doch nicht zu. Vor allem das historische Zentrum zwischen der neuen Kunstsammlung im renovierten Ständehaus und dem klassizistischen Hofgarten erlebt derzeit eine Bauwut, wie sie Düsseldorf seit den Wiederaufbau-Jahren unter dem legendären Friedrich Tamms nicht mehr erlebte.

Wer heute in die Innenstadt fährt, den umgibt ein Hauch von Zeitenwende. Das Düsseldorfer Team JSK (Joos Slapa Krüger-Heyden) baut hier, mitten auf dem Graf-Adolf-Platz, eine imposante Stadtkrone. Der 90 Meter hohe Büroturm mit vorgehängter Glasfassade wird über einem Grundriss errichtet, der zwei ineinander greifende Ellipsen nachzeichnet. Im Übrigen verwirrt das gesamte Projekt durch seine geradezu postmoderne Anmutung: Das Büro JSK, das sich in einem Gutachterverfahren gegen Dominique Perrault, Helmut Jahn und Hans Kollhoff durchgesetzt hatte, möchte nämlich die denkmalgeschützte Fassade des abgerissenen Postamts in das Bauprojekt integrieren und die nicht mehr vorhandenen Fassadenteile entsprechend dem historischen Vorbild rekonstruieren. Diese Kulissenarchitektur wollen sie mit ihrem hoch aufragenden Turmgebäude zu einem alt-neuen Ensemble vereinen, indem sie beide Baukörper durch ein gläsernes Dach verbinden, unter dem sich ein Atrium öffnet.

Zu den Düsseldorfer Grossprojekten von JSK gehört auch die Errichtung einer Multifunktionsarena, die eigentlich als Austragungsort für die Olympischen Spiele vorgesehen war. Doch führten der Abstieg des Fussballvereins Fortuna Düsseldorf und mangelndes öffentliches Interesse mitten im Kommunalwahlkampf schliesslich gar zur Absetzung der geplanten inoffiziellen Eröffnungsfeier. So verflogen Erwins Tagträume, aber zum Aufpolieren des städtischen Ruhms, so dachte er sich, blieb immerhin noch der Medienhafen, der durch die «einstürzenden Neubauten» des Kaliforniers Frank O. Gehry auf die Titelseiten internationaler Gazetten gelangte. Nachdem im neuen Düsseldorfer Luxusviertel bereits Grössen wie David Chipperfield, Steven Holl, Jo Coenen und Christoph Ingenhoven ihre Landmarken errichtet hatten, entwarf JSK für die benachbarte Halbinsel einen krönenden Abschluss. Die Hafeninsel, auf der sich bereits der Japaner Fumihiko Maki mit einem zurückhaltenden, aber exzellenten Bürokubus und der englische Poparchitekt William Alsop mit der schrillen Hochhausscheibe «Colorium» ein Stelldichein geben, soll durch zwei L-förmig auskragende Kunst-Hotels bereichert werden. Allerdings haben sich bisher weder Investoren noch Hotelbetreiber für das ambitiöse Projekt erwärmen können. Derweil sehen viele Düsseldorfer mit Missbehagen den künftigen Bauarbeiten entgegen. Denn in den heissen Sommermonaten verlustieren sich hier viele Einheimische auf dem Sand von «Monkey Island» mit kühlem Bier und Falafel.

Eldorado für Investoren

Aber die Planer lassen sich von derlei Sehnsüchten nicht aufhalten und bauen die alten Speichergebäude und Mälzereien in renditeträchtige Büroadressen um. Auch an der Einfahrt zur Halbinsel wird demnächst ein strahlender Hochhausturm emporwachsen. Nachdem die Kölner dem Deutschamerikaner Helmut Jahn einen lukrativen Auftrag für ein Hochhausprojekt in Deutz erteilt hatten, durften die Düsseldorfer nicht zurückstehen. So wird demnächst auch am Medienhafen, direkt neben der stahlverkleideten Maki- Box, die übliche High-Tech-Architektur amerikanischer Provenienz entstehen, deren Einfallslosigkeit sich mit so manchem innerstädtischen Kommerztempel messen kann. Joachim Erwin fällt dazu nur ein: «Ein Jahn steht uns doch gut an.»

Den Kuchen der lukrativen Grossaufträge in der Altstadt haben die Düsseldorfer Grossbüros JSK, Hentrich Petschnigg und Partner (HPP) sowie Rhode Kellermann Wawrowsky (RKW) weitgehend unter sich aufgeteilt. Sie profitieren davon, dass einige historische Gebäude, wie etwa Emil Fahrenkamps Hotel «Breidenbacher Hof», der Abrissbirne zum Opfer gefallen sind. An ihrer Stelle sollen renditeträchtige Bürobauten (besonders klangvoll: «Broadway Office») und Luxushotels errichtet werden. Zurückhaltender zeigt man sich bei einem wichtigen Kulturprojekt: Dort, wo der städtische «Bürgersaal» und die neuen Ausstellungsflächen der Kunstsammlung NRW geplant sind, klafft seit vielen Jahren eine hässliche Baulücke, die naturgemäss als Stellplatz benutzt wird. Obwohl der hiesige Kulturdezernent und Stadtdirektor erst kürzlich vom NRW- Ministerpräsidenten eine «kulturpolitische Vision» für das Land gefordert hat, ist davon in Düsseldorf nichts zu spüren. Im Gegenteil. Die Bau- und Kulturpolitik zieht sich zusehends aus ihren öffentlichen Aufgaben zurück und überlässt das Spielfeld privaten Investorengruppen. Das vielleicht beste Beispiel derzeit ist Karl Friedrich Schinkels «Altes Stadthaus», das einzige Bauwerk des grossen preussischen Baukünstlers in der Landeshauptstadt. Es soll privaten Investoren angeboten werden, während die dahinter liegenden Gebäude zum Abriss freigegeben werden.

Grossprojekte

In Düsseldorf spricht man derweil lieber über Grossprojekte, die den Symbolwert der Stadt steigern. Zunächst war es der Medienhafen, nun sind es Airport City und das neue Regierungsviertel am Rhein. Dieses Stadttor, das den Abschluss der allseits gelobten Rheinufer-Untertunnelung markiert, wurde vor einigen Jahren vom Düsseldorfer Büro Petzinka, Pink & Partner als Topadresse für Büros und die neue Staatskanzlei gebaut. Das gläserne Trapezoid, für welches Bernhard Pfaus Studienhaus geopfert wurde, und der Hochhausturm von JSK betonen die Sichtachse des zukünftigen Viertels, in dem nach Meinung etlicher Planer und Investoren nur noch das alte Polizeipräsidium stört. Der in den frühen dreissiger Jahren, im Zeichen der erschlaffenden Moderne, errichtete Monumentalbau steht derzeit zur Disposition. Es ist zwar noch nicht entschieden, ob der auf kammförmigem Grundriss errichtete Ziegelbau tatsächlich abgerissen wird, aber dem sich in Düsseldorf etablierenden «Urban Managerialism» ist das Gebäude offensichtlich ein Hindernis für ein im High-Tech-Glanz erstrahlendes Regierungsviertel.

Derweil setzt sich die marktorientierte Stadtentwicklung nahezu ungehindert in der neuen Airport City durch. Nach dem Flughafenbrand vor sechs Jahren schrieb die zuständige Entwicklungsgesellschaft einen Wettbewerb aus, der die architektonische Umwandlung eines 23 Hektaren grossen Kasernengeländes vorsieht. Mit zusätzlichen Flächen sind insgesamt über 20 Hektaren für Gewerbebauten und hochwertige Büronutzungen vorgesehen. Die Airport City soll einmal als luxuriöser Büropark samt Kongresshotel und Entertainment-Center erstrahlen. Von planenden Eingriffen der Stadt ist hier nichts zu sehen, selbst die Entwicklungsgesellschaft hält sich zurück und überlässt das Terrain den Investoren und Architekten. Natürlich hält diese Entwicklung den Oberbürgermeister nicht davon zurück, allseits Optimismus zu verbreiten und die «neue Visitenkarte am Flughafen» zu rühmen. Doch momentan sieht es so aus, als würde man mit viel Gottvertrauen auf ein hehres Ziel zusteuern, von dem sich die Stadt grossen wirtschaftlichen Reichtum verspricht. Im Klartext: Düsseldorf will sich weltweit als Global City positionieren. Unbeirrt geht die Planung der Airport City voran, und man lässt sich keineswegs durch den fast kompletten Leerstand von Alsops «Colorium»-Tower und anderer hochwertiger Bürobauten abschrecken.

Für die Düsseldorfer liegt die Airport City allerdings in weiter Ferne. Lieber diskutiert man Christoph Ingenhovens Entwurf für den «Kö- Bogen». Die meisten Interessengruppen loben die Vorzüge des Projekts, das darauf abzielt, im neuralgischen Innenstadtbereich zwischen Königsallee, Hofgarten und Jan-Wellem-Platz eine störende Verkehrssituation zu beseitigen, den Übergang zwischen historischer Bebauung und Park zu erleichtern und den alten Stadtgrundriss wiederherzustellen - kurz, die stadträumliche Qualität durch mehr Übersichtlichkeit zu verbessern. Doch in der öffentlichen Debatte ging es kaum um die Vor- und Nachteile des Entwurfs. Im Mittelpunkt stand vielmehr ein dubioses Planungsverfahren, das jahrelang unter Ausschluss der Öffentlichkeit tagte. Es entfachte sich sogar eine hitzige Debatte, in deren Verlauf Architektenkammer und Bund Deutscher Architekten (BDA) das einseitige Vorgehen von Ingenhoven und Stadt kritisierten. Als man dann hörte, immerhin habe es eine Präsentation des Entwurfs auf der Immobilienmesse in Cannes gegeben, war dies nicht gerade zur Besänftigung der aufgebrachten Gemüter geeignet. Mittlerweile ist Ingenhovens Plan zwar publik, aber die Architektenkammer beharrt verständlicherweise auf einem öffentlichen Wettbewerb.

Gleichwohl vertraut der Oberbürgermeister auf seinen «Düsseldorfer Weg», dessen erschreckende Wirtschaftsgläubigkeit in dem Motto «Investor, suche deinen Architekten» gipfelt. «Bringe einen Weltklasse-Architekten mit, und du bekommst das Grundstück veräussert», verkündete er den Investoren, als ob nur Stars und potente Geldgeber das Stadtbild prägen dürften. Nachdem Frank O. Gehry das geeignete Signet für den Medienhafen geliefert hatte, würde Joachim Erwin das umstrittene «Filetstück» in der Innenstadt am liebsten direkt an Christoph Ingenhoven und die mitgebrachte Investorengruppe übergeben. Noch sträubt sich Hartmut Miksch, Präsident der Architektenkammer NRW: «Es darf nicht sein, dass Investoren die Stadtplanung bestimmen. Denn sie ist das hoheitliche Recht der Stadt, der Politik, die hier den Rahmen setzen muss.» Doch es ist kaum zu erwarten, dass man sich in Düsseldorf von diesen Argumenten beeindrucken lassen wird. Eher sieht es so aus, als wäre die Landeshauptstadt auf dem besten Weg, nur noch als Wirtschaftsstandort für Investorengruppen interessant zu sein.

24. Mai 2004 Neue Zürcher Zeitung

«Wir gestalten die Niederlande neu»

Architektur als Ausdruck öffentlichen Kulturinteresses

Die Niederlande haben sich in den letzten Jahren zu einer architektonisch führenden Nation entwickelt. Dies hat sich keineswegs zufällig ergeben. Eine staatlich koordinierte Baupolitik hat viel zu einer besseren Ausbildung, einem starken öffentlichen Interesse an Architektur und einer Planung von Projekten beigetragen, die im nationalen Interesse sind. Holländische Architekten sind absolute Frühstarter: Sie stehen bereits mitten im Berufsleben, wenn etwa ihre Schweizer Kollegen noch fürs Studium büffeln müssen.

Vorzüge der Architekturpolitik

Von der pessimistischen Grundstimmung gegenüber Städteplanung und Architektur in unseren Gegenden sind die Niederländer, ein Volk von technokratischen Machern, weit entfernt. Spricht man beispielsweise den Maastrichter Architekten und niederländischen Reichsbaumeister Jo Coenen auf dieses Problem an, verweist er darauf, dass ein grundlegender Reformwille in seinem Heimatland vieles zum Besseren gewandelt hat. «Wir sind dabei, die Niederlande neu zu gestalten», bekennt er selbstbewusst und zeigt die Programmschrift «Die Niederlande gestalten». Es handelt sich um eine sogenannte Nota, in der ausgeführt wird, welchen Richtlinien die staatliche Baupolitik, unabhängig von den jeweiligen Legislaturperioden, in den nächsten Jahren folgen soll.

Coenen, der viele Jahre lang «Gebäudelehre und Entwerfen» an der Technischen Universität Karlsruhe unterrichtet hat, kennt die klaren Vorzüge der niederländischen Architekturpolitik. So versucht er derzeit, die zehn «Grossen Projekte» voranzubringen. Sie reichen von der Erweiterung des Amsterdamer Rijksmuseum bis hin zur «Delta Metropolis», die die Umwandlung des fragmentierten Lebensraums Randstad in ein kohärentes städtisches System bei gleichzeitiger Verbesserung der Verkehrswege vorsieht. Die Effizienz der holländischen Baupolitik liegt aber nicht einfach in der zentralen Koordinierung durch den Reichsbaumeister, sie resultiert aus der Vernetzung verschiedener Initiativen, seien es lokale, regionale oder staatliche Architekturzentren, deren Zusammenspiel die öffentliche Diskussionskultur wesentlich befruchtet. So konnte die Nota «Belvedere», die darauf abzielte, die Wucherung der Städte einzudämmen und den Wert der Landschaft neu zu bestimmen, einen ähnlichen Erfolg erzielen wie die Internationale Bauausstellung (IBA) Emscherpark, die innerhalb von zehn Jahren das industrielle Ruhrgebiet in einen völlig neuen Kulturraum transformierte.

Piere als Paradiese

Von dieser architektonischen Kultur profitieren selbstverständlich viele in Holland arbeitende Architekten. Beispielsweise der Rotterdamer Adriaan Geuze: Nachdem der Stadtrat in den achtziger Jahren beschlossen hatte, die seit 1979 aufgegebenen Docklands östlich des Hauptbahnhofs zu bebauen, überlegte er, wie das «Oostelijke Havengebied» am Ij revitalisiert und die Stadt näher ans Wasser herangerückt werden kann. Mit Stadtplanern und Investoren setzte Geuze auf die Wiederbelebung der «hollandse waterstad». Auch Jo Coenen war anfangs mit von der Partie. Die beiden erstellten einen Masterplan für die Bebauung einiger Piere, die nicht mehr von Frachtschiffen angelaufen werden.

Coenen war für das erste Projekt, den Wohnungsbau auf der KNSM-Halbinsel, verantwortlich, auf der heute Hans Kollhoffs monumentaler «Piräus-Block» und Wiel Arets' schwarzer Wohnturm wie Landmarken prangen. Geuze widmete sich den Halbinseln Borneo und Sporenburg, wobei er sich an städtischen Konzepten orientierte, die man längst vergessen glaubte: «Im 17. Jahrhundert hatte es in Amsterdam eine hervorragende Stadtplanung hinsichtlich der Strassenführung und der Wasserlinien gegeben. Doch in den fünfziger und sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts hatte man jegliche Vorstellung davon verloren, wie eine Stadt gebaut wird. Erst in letzter Zeit kam es zu einer Rückbesinnung auf die alten urbanistischen Vorstellungen des 17. Jahrhunderts. Man versucht nun, das eigene städtische Erbe zu begreifen und wiederzubeleben.»

Adriaan Geuze bewundert Sjoerd Soeters' Bebauung der benachbarten Java-Halbinsel, weil es dort gelungen ist, an die Tradition der Amsterdamer Grachten anzuknüpfen. Aber er weiss, dass dies nicht mit nostalgischer Wehmut, sondern mit einer zeitgenössischen Interpretation der Architektur einhergehen muss. Soeters setzte auf Blockrandbebauung am Ufer und enge Grundstücke an den neuen Grachten, aber jeweils mit einem demonstrativen Individualismus.

Verdichtetes und differenziertes Bauen

Borneo und Sporenburg sind derweil zu einem Paradebeispiel für verdichtetes und differenziertes Bauen geworden. Von langweiligen Reihenhaus- Silhouetten will Adriaan Geuze nichts wissen: «Mich interessiert, dieselben strengen Regeln beizubehalten und doch individuelle Architektur zuzulassen.» Drei Superblöcke, die wie Gletschermassive das ruhige Meer der Wohnhäuser überragen, werden bald die Attraktion der beiden Halbinseln ausmachen. Von den zwei bisher fertiggestellten ist Frits van Dongens «Walfisch», der wie ein gestrandeter Moby Dick aussieht, zweifellos der spektakulärste. Die massiven Blöcke stehen im Kontrast zur niedrigen Gebäudehöhe, die man entlang der Strassen antrifft. Dabei konnte Geuze jegliche Eintönigkeit vermeiden, weil er jedem Architekten gestattete, mit verschiedenen Wohnungstypen zu experimentieren.

Das berühmteste Beispiel ist die Scheepstimmermanstraat auf Borneo, die mittlerweile für viele Architekturbegeisterte zu einem Mekka experimentellen Bauens geworden ist. Hier durften die Architekten ihren ganz eigenen Stil verwirklichen. So errichtete Koen van Velsen für einen holländischen Bergsteiger ein Wohnhaus, dessen gläserne Fronten um einen freistehenden Baum herum angeordnet sind. Anders ging das Rotterdamer Büro MVRDV (Maas, van Rijs, de Vries) vor. Die mittlerweile international bekannten Architekten bieten intelligente Raumaufteilung anstelle kapriziöser Bau-Kunststücke. Ihnen gelang es, extrem engen Grundstücken von 2,5 Metern Breite «das denkbar schmalste Haus» (MVRDV) abzuringen, in dem dennoch räumliche Vielfalt und, dank verglasten Seitenfronten, verblüffende Transparenz geboten werden.

Triumph der Newcomer

Überhaupt sind die Newcomer aus Rotterdam die eigentliche Überraschung in der holländischen Architekturszene. Erst 1999, als sich niemand einen Reim auf das merkwürdige Kürzel MVRDV machen konnte, verblüfften sie alle mit der Sendeanstalt VPRO in Hilversum. Und ein Jahr später debütierten sie auf internationalem Parkett mit ihrem kurios-phantastischen Sandwich-Pavillon für die Expo in Hannover. Auf einmal waren die drei jungen Rotterdamer in aller Munde. Trotz zahlreichen Aufträgen aus dem Ausland ist es ihnen wichtig, weiterhin in den Niederlanden zu bauen, und sogar auf den Amsterdamer Pieren sind sie mit lukrativen, aber höchst unterschiedlichen Projekten vertreten.

Auf der Oostelijke Handelskade renovieren sie erstmals einen denkmalgeschützten Altbau. Das Gebäude, das vor 60 Jahren der Gestapo noch als Internierungslager für Waisenkinder diente, überführt das Rotterdamer Trio derzeit in ein Luxushotel. Ein weiteres Projekt auf dem Silodam ist vor zwei Jahren fertiggestellt worden. Neben zwei ehemaligen Getreidesilos, einer säkularen Backsteinkathedrale und einem Speichergebäude im kargen «Béton brut»-Stil der fünfziger Jahre setzten sie ihr «Containerschiff» ans Kopfende des Silodams. Eine niederländische Tageszeitung titelte damals: «Ein hipper Ozeandampfer, klar zum Auslaufen». Und tatsächlich, der «Dampfer» mit seinen gestapelten Wohncontainern ragt mit seinen wuchtigen Stelzen aus dem Hafenbecken heraus. Weil MVRDV für jeden einzelnen «Container» individuelle Wohnungstypen entwickelte, deren Fassaden durch unterschiedliche Farben hervorgehoben sind, wirkt die knallbunte Schachtel aus dem Experimentallabor des Rotterdamer Avantgarde-Büros wie eine Farbattacke auf die Nüchternheit der sie umgebenden Hafenlandschaft.

Rotterdam gegen Amsterdam

Frits van Dongen, der sein Büro im Amsterdamer Jordaan-Viertel hat, profitierte in den letzten Jahren von der Umnutzung des Amsterdamer und des Rotterdamer Hafens. Beispielsweise errichtete er in Rotterdams «Kop van Zuid», dort, wo internationale Stars wie Renzo Piano und Norman Foster ihre modernen Landmarken an der Maas hochzogen, den Wohnblock «De Landtong» und machte die zuvor verpönte Blockbebauung wieder populär. Auf die lange Rivalität zwischen Amsterdam und Rotterdam angesprochen, meint van Dongen: «In Amsterdam bewegt sich momentan ungeheuer viel, obwohl bis vor einigen Jahren Rotterdam die Speerspitze der modernen Architektur war. Lange Zeit hat man sich hier in Amsterdam von der Vorstellung leiten lassen, die Stadt so gut wie möglich zu konservieren, da Kohärenz, Schönheit und Gemütlichkeit über alles gestellt wurden.

Anders in Rotterdam, wo man nach dem Krieg bestrebt war, eine gänzlich neue Stadt aufzubauen. Man wollte eine Stadt, die sich von der traditionellen holländischen Bauästhetik unterscheidet und gegenüber Experimenten aufgeschlossen ist.» Frits van Dongen gibt aber zu bedenken, dass Rotterdam in den letzten Jahren mächtig aufgeholt hat. Immerhin gebe es hier Rem Koolhaas' Office for Metropolitan Architecture, die legendäre Talentschmiede für junge Architekten, aus der etliche internationale Stars hervorgegangen sind. Und man solle nicht vergessen, dass Koolhaas auf der Wilhelminapier, direkt hinter Ben van Berkels grandioser Erasmusbrükke, den spektakulären MAB-Tower, ein hybrides Gebilde aus geschichteten Volumina, bauen wird.

Aber van Dongen erinnert sogleich daran, dass Amsterdam mittlerweile ganz neue Massstäbe gesetzt hat: «Neben den neuen Zentren in der Hafengegend sind wir damit beschäftigt, auf dem künstlichen Archipel Ijburg eine neue Stadt entstehen zu lassen. Das Ijburg-Projekt ist typisch holländisch. Es wird 50 000 bis 60 000 Menschen neuen Wohnraum verschaffen.»

Rem Koolhaas und seine Talentschmiede

Vor allem Rem Koolhaas, der in London wohnt, in Rotterdam arbeitet und sich in den Flughäfen der Welt zu Hause fühlt, hat die städtebauliche Entwicklung in den Niederlanden massgeblich geprägt. Für den Utrechter Universitätscampus «de Uithof» entwickelte er Anfang der neunziger Jahre einen Masterplan, der einen avantgardistischen Gegenpol zur Altstadt mit ihrer Grachtenseligkeit markiert. Die Delfter Architektengruppe Mecanoo baute hier die «Fakultät für Wirtschaftswissenschaften und Management», eine Hochschule als kleine in sich gekehrte Stadt mit drei künstlerisch gestalteten Patios. Und Koolhaas selbst errichtete die Pädagogik-Fakultät «Educatorium», deren ansteigender Hörsaal-Trakt wie eine Biskuitrolle über dem Mensabereich hinausragt.

Der Name Rem Koolhaas ist seit den letzten Jahren auch mit der holländischen Provinz verbunden. In den Poldern von Flevoland, 30 Kilometer von Amsterdam entfernt, modelt er das kleinstädtische Almere in ein Klein-Manhattan für 400 000 Menschen um. Internationale Architekten lud er ein, um dem Ort gemeinsam die kleinstädtische Gemütlichkeit auszutreiben. Das japanische Team Sanaa baut inmitten des Weerwater ein «Stadtheater», während das Amsterdamer Büro Claus en Kaan die neue Skyline von Almere durch einen skulpturalen Turmbau begrenzt. Neben dem Urban Entertainment Center, das William Alsop, der Popkünstler unter den Architekten, errichtet hat, lässt Koolhaas momentan sein Grosskino «Megabioscoop» aufrichten.

Almere als Wallfahrtsort

Schon jetzt ist absehbar, dass Almere in den nächsten Jahren zum Wallfahrtsort für Architekturfreaks wird. Floris Alkemade, Projektleiter beim Office for Metropolitan Architecture, spricht bereits von «Dutchtown», dem architektonischen Neuland in den Poldern: «Das Fehlen historischer Architektur bot uns die Chance, Almere neu zu erfinden. Wir wollen nicht, dass alles schön und gut sein muss. Lieber möchten wir dem Bestehenden eine neue Dynamik und einen neuen Massstab hinzufügen.» Mit diesem Grundsatz haben die holländischen Architekten in den letzten Jahren international Furore gemacht.

9. Januar 2004 Neue Zürcher Zeitung

„Die Niederlande neu gestalten“

Werkstatt

Jo Coenen als niederländischer Reichsbaumeister

Der aus Maastricht stammende Jo Coenen steht einer Institution vor, die in der Welt ihresgleichen sucht. Er ist nämlich Reichsbaumeister der Niederlande und damit mitverantwortlich für die staatliche Architekturpolitik. Die einzigartige Stellung der niederländischen Architektur im internationalen Kontext ist also keineswegs zufällig.

Die Maastrichter müssen ein glückliches Völkchen sein. Die Stadt hat sich eine beschauliche Atmosphäre erhalten, von der sie besonders an Sommertagen zehrt. Schnell füllen sich dann die Strassencafés des Vrigthof-Platzes, und während man sich im Schatten der Sant Servaas Kerk verwöhnen lässt, kommt das Gefühl auf, in längst vergangene Zeiten versetzt zu sein. Kaum zu glauben, dass nur einen Steinwurf entfernt einer der eigenwilligsten Architekten der Niederlande in einem herrschaftlichen Altbau sein Atelier eingerichtet hat. Jo Coenen ist vieles in einer Person: Hochschullehrer, Architekt, Stadtplaner - und Reichsbaumeister. Als solcher ist er mit den höchsten planerischen Aufgaben betreut und berät die Regierung in ihren Entscheidungen.

Bevor Coenen vor zwei Jahren in die oberste Bauinstanz des Landes gewählt wurde, hatte er sich als Architekt einen Namen gemacht. So baute er 1993 in Rotterdam den Neubau des renommierten Niederländischen Architektur-Instituts (NAI), in welchem die einzelnen Gebäudeteile auf Kollisionskurs zu gehen scheinen. Impulsgebend sind auch spätere Projekte: Im Düsseldorfer Medienhafen vollendete er kürzlich einen 16-geschossigen Büroturm mit Fassaden aus Muschelkalk und Glas, der wie ein Ausrufezeichen am südlichen Ende des Hafenbeckens steht. Und auf dem Amsterdamer Oosterdok-Eiland errichtet er zurzeit eine «Stadtbibliothek». Aber Coenen besteht darauf, dass er sich neben seiner Tätigkeit als Architekt immer auch als Stadtplaner verstanden hat.


Funktionsmischung

So erstellte er für das unweit der Maastrichter Altstadt gelegene Industriegelände von «Sphinx Céramique» einen Masterplan mit einer Funktionsmischung aus Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Kultur, für den er international anerkannte Kollegen an die Maas holen konnte. Vertreten ist sein Tessiner Lehrer Luigi Snozzi, der entlang des Ufers Apartmentblocks wie Waben aneinander reihte. Mario Botta bewies mit «La Fortezza» ein weiteres Mal seinen Hang zu festungsartigen Backsteinarchitekturen, Wiel Arets verlieh dem «Indigo Office Building» eine markante Fassade mit Fensterbändern, und Alvaro Siza baute neben sein Turmgebäude eine sichelförmige Anlage für Wohnungen und Büros. Vor ihnen hatte schon Aldo Rossi mit dem Bonnefanten-Museum ein Wahrzeichen errichtet. Schliesslich hat auch Coenen auf dem Areal gebaut. Am eindrucksvollsten gelang ihm dabei die Renovierung eines Theaterhauses und der Anbau eines Cafés, von dessen Terrasse der Blick bis zur Maas schweift.

Im Gespräch erzählt Coenen von seinem ersten Grossprojekt, dem Masterplan für die KNSM- Halbinsel am Amsterdamer Hafen, mit dem er den öffentlichen Raum der Stadt reaktivieren wollte. «Anders als in unseren Nachbarländern gibt es in den Niederlanden Politiker und Bürger, die noch immer Wert auf öffentliche Plätze legen.» Wenn man heute durch die fast menschenleeren Strassen der einstigen Hafenmole geht, versteht man schnell, dass auf KNSM und den benachbarten Halbinseln Java, Borneo und Sporenburg allzu sehr auf verdichtetes Wohnen gesetzt wurde - zulasten einer lebendigen Funktionsmischung. Es dauerte einige Jahre, bis sich die Hafenfront belebte durch die Cafés, Restaurants und Geschäfte in Kollhoffs «Piräus»-Gebäude und im «Hofhaus» von Diener & Diener. Nun aber, in seiner neuen Funktion als Reichsbaumeister der Niederlande, möchte Coenen alles besser machen. Nach seinem Amtsantritt vor zwei Jahren verliess er die beengten Räume des Ministeriums und zog mit einer kleinen Gruppe von Mitarbeitern in ein grösseres Gebäude in Den Haag um. «Mir ist die räumliche Distanz zur Regierung wichtig, denn es ist ja meine Aufgabe, das Kabinett bei Bauaufgaben kritisch zu beraten.» Kurz darauf kam der Paukenschlag: Der neue Reichsbaumeister Coenen veröffentlichte eine Programmschrift mit dem Titel «Die Niederlande gestalten». Diese «Nota» stellte klar, welchen Richtlinien die staatliche Baupolitik in den nächsten Jahren folgen soll.

Der erste Satz beruhigte zwar noch die Gemüter durch den Hinweis auf das internationale Ansehen der niederländischen Architektur, doch dann heisst es: «Der Schwund öffentlicher Räume ist besorgniserregend, Wohnsiedlungen wuchern über die Grenzen von Städten und Dörfern.» Gleichzeitig sei die Qualität der öffentlichen Räume in den Städten so erschreckend, dass «die Niederländer sich wie zusammengepfercht» fühlen. Die erste, vor zwölf Jahren verabschiedete Nota zu «Raum für Architektur» setzte die Bedingungen für bauliche Qualität fest, während die folgende Nota von 1996 («Architektur des Raums») Richtlinien für die städtische Entwicklung und den Landverbrauch vorgab. Coenen erklärt, dass die neue Nota die früheren weiterführe, sich aber auch deutlich von ihnen unterscheide: «Wir müssen uns mit der gesamten gestalterischen Skala beschäftigen - von der Anfertigung eines Stuhls bis zum Städtebau, von der Stadt- bis zur Regionalplanung.»


Langfristige Konzepte

In seiner Nota «Die Niederlande entwerfen» möchte Coenen verschiedenste Fachkräfte zusammenbinden, um die gegenwärtige «Krise der Architektur» zu überwinden. Man versteht, dass Coenen die Herrschaft von Spezialisten entschieden ablehnt: «Wenn ästhetische Fragen im Vordergrund stehen, dann wird die Architektur zusehends eingeschränkt, und der Beruf verliert seinen Sinn.» Am liebsten möchte Coenen die Entscheidungen aus den Händen der Baukoordinatoren und Manager nehmen und sie wieder denen übergeben, die weniger durch das Schielen nach hoher Rendite als durch entwerferisches Denken geleitet werden. Um seinem Anspruch Nachdruck zu verleihen, machte Coenen zehn «Grosse Projekte» zum Kern seiner Architekturnota. So verschieden diese Projekte anmuten, wollen sie doch «eine ästhetisch anspruchsvolle Mischung aus Architektur, Infrastruktur und Landschaft» erreichen. «Delta Metropolis», das wohl anspruchsvollste Projekt, verfolgt die Umwandlung des fragmentierten Lebensraums Randstad in ein kohärentes urbanes System bei gleichzeitiger Verbesserung der Verkehrswege. Andere Projekte sehen die Erweiterung des Amsterdamer Rijksmuseum durch die Sevillaner Cruz und Ortiz oder den Schutz öffentlicher Stadträume vor rücksichtslos agierenden Developern vor.

«Wir sind dabei, die Niederlande neu zu gestalten», bekennt Coenen selbstbewusst. Er, der Professor für «Gebäudelehre und Entwerfen» an der TU Karlsruhe und später Gastprofessor in Aachen war, weiss sehr wohl, dass die niederländische Architekturpolitik klare Vorzüge besitzt. Versucht die Regierung doch möglichst viele langfristige Konzepte für die Zukunft des Landes voranzutreiben. Allein die Vielzahl von lokalen, regionalen und staatlichen Architekturzentren befruchtet die Diskussionskultur. Coenen erinnert beispielsweise an die Debatte anlässlich der Nota «Belvedere», die darauf zielte, die Wucherung der Städte einzudämmen und den Wert der Landschaft neu zu bestimmen. Die Anteilnahme an dieser Diskussion, so Coenen, sei vergleichbar gewesen mit der Breitenwirkung der IBA Emscherpark, die innerhalb von zehn Jahren das industriell geprägte Ruhrgebiet in einen vollkommen neuen Kulturraum transformiert habe. Für ihn machen die Diskussionen der Notas deutlich, dass Architektur jeden angehe. «Deswegen steht die Tür meines Ateliers jedem offen. Es ist doch eine wunderbare Einrichtung, wenn das Entwurfsatelier eine Verlängerung der Strasse ist. Jeder kann hereinkommen.»

24. Oktober 2003 Neue Zürcher Zeitung

Augenaufschlag am Hafen

Amsterdams neues Architekturzentrum Arcam

Amsterdams Architekturzentrum Arcam konnte diese Woche seinen neuen, aufregend gestalteten Sitz im Hafengebiet der holländischen Metropole einweihen. Errichtet wurde das exzentrische Gebäude von René van Zuuk, einem jungen Vertreter der an erfolgversprechenden Talenten reichen niederländischen Architekturszene.

«Es ist doch ein ziemlich konventionelles Gebäude, zudem hat es die üblichen drei Geschosse. Also mit einem ‹Blob›, einer computergenerierten tropfenförmigen Architektur, hat es nichts gemeinsam.» Man könnte fast meinen, Maarten Kloos, der Direktor des diese Woche an der Prins Hendrikkade in einem Neubau wiedereröffneten Amsterdamer Architekturzentrums Arcam, möchte die Besucher des Neubaus abwimmeln. Aber diese lassen sich ihre hoch gespannten Erwartungen nicht nehmen. Man kommt unter anderem hierher, um einen Neubau zu besichtigen, der selbst im avantgardistisch umgestalteten Amsterdamer Hafenquartier hervorsticht.

Kloos gibt aber zu, dass das Arcam (Architectuur Centrum Amsterdam) nicht irgendein Gebäude haben wollte. Immerhin stehe man als eine Stiftung, die sich für die Architektur Amsterdams einsetze, etwas im Rampenlicht. Zwar wäre man nicht abgeneigt gewesen, einen Star zu engagieren. Doch ebenso gerne wollte man einem jungen Architekten eine Chance geben, der das Programm des Arcam in eine prägnante architektonische Erscheinung umsetzen konnte. Die Mitarbeiter der Stiftung hatten sich schon auf ein wochenlanges Auswahlverfahren vorbereitet. Doch dann einigte man sich schnell auf René van Zuuk, einen jungen Baukünstler aus dem benachbarten Almere. Van Zuuk hatte bereits mit seinem dekonstruktivistischen Atelier einiges Aufsehen erregt und ebenso mit einem aus zwei L-förmigen Betonschalen bestehenden Ausstellungspavillon in Flevoland. Unlängst wurde er sogar vom Vordenker der niederländischen Architektur, Rem Koolhaas, eingeladen, zusammen mit internationalen Architekten in Almere die «holländische Stadt des 21. Jahrhunderts» mitzugestalten.

Das Arcam, das bisher in beengten Räumlichkeiten am Waterlooplein untergebracht war, hatte sich einen schwierigen, aber attraktiven Standort ausgesucht, auch wenn die bebaubare Fläche an der Prins Hendrikkade lediglich 211 Quadratmeter betrug. Dafür besitzt nun der Neubau einen freien Blick über das Hafenbecken des Oosterdok bis hin zum Schifffahrtsmuseum und zu Renzo Pianos Wissenschaftsmuseum «Nemo». Maarten Kloos ist überzeugt davon, dass man kaum einen besseren Standort in Amsterdam hätte finden können. Hier, am Rande des Zentrums, sei man weit genug weg vom Touristenrummel, aber mittendrin in einer aktiven, im architektonischen Umbruch begriffenen städtischen Szenerie. Kloos hofft, dass nun im Städtedreieck von Amsterdam, Rotterdam und Den Haag das Interesse für architektonische Belange weiter zunimmt, denn das Arcam werde versuchen, neben dem Niederländischen Architekturinstitut (NAI) in Rotterdam und dem Amt von Rijksbouwmeester Jo Coenen in Den Haag seinen Einfluss geltend zu machen.

Weiterhin bleibt es jedoch das vorrangige Ziel des Arcam, den Bürgern die Baupolitik Amsterdams zu vermitteln. Auch verstehe man sich als eine Kontrollinstanz für Baukultur und gebe deshalb im Zweijahresrhythmus eine Publikation zu gelungenen Gebäuden in der holländischen Hauptstadt heraus. Im eigenen Haus möchte man zudem die Information verbessern. Dem Besucher stehen zahlreiche Bücher, Zeitschriften und Broschüren zur Verfügung. Im Parterre geben Ausstellungen Einblick in die neuesten architektonischen Entwicklungen. Das Souterrain hingegen ist Zusammenkünften vorbehalten, während das Obergeschoss für die Mitarbeiter als heller, durch Glaswände unterteilter Bürotrakt gestaltet wurde. Der grösste Vorzug des Neubaus - davon ist Maarten Kloos überzeugt - liege darin, dass alle drei Ebenen durch Galerien und Lufträume miteinander verbunden und somit Teil des Ganzen sind.

Das Arcam stellte nicht nur hohe Anforderungen an die Bauqualität, sondern wollte auch ein Gebäude mit jeweils unterschiedlichen Fassaden: zur Strasse hin eher geschlossenen, zum Hafen hin hingegen offenen. Van Zuuk hat dieses Problem fast spielend gelöst. Nach einigen Versuchen am Modell gelang ihm eine bezwingende Form, die tatsächlich an die derzeit beliebte neo- organische «Blob»-Architektur denken lässt: Die verformte Haut aus Aluminium und Zink, welche Fassade und Dach ineinander übergehen lässt, schnitt er auf. Dieser Augenaufschlag am Hafen gewährt nun Einblick in das Parterre und in das Obergeschoss. Für den rückwärtigen, tiefer liegenden Gebäudeteil wählte van Zuuk eine durchlaufende Glasfassade mit zurückhaltender Profilierung. - Zum Schluss gibt van Zuuk eine Anekdote zum Besten: Eigentlich sei es ein Glücksfall gewesen, dass er genau an dieser Stelle das neue Arcam bauen konnte. «Denn hier stand zuvor der von Renzo Piano errichtete Eingangspavillon zum ‹Nemo›. Da man mit der Zeit keine Verwendung mehr für ihn hatte, wurde er abgerissen. Allein Betonstützen und Betondecke blieben stehen und sollten in den Arcam-Neubau integriert werden.» Der argwöhnisch gewordene Piano befürchtete eine Kopie des eigenen Pavillons, doch zu guter Letzt war er voll des Lobes für van Zuuks «Blob»-Entwurf.


[Arcam, Prins Hendrikkade 600 (www.arcam.nl). Eröffnungsausstellung «Open due to Redevelopment». Eintritt frei.]

10. Mai 2003 Neue Zürcher Zeitung

Das Leben in der automobilen Gesellschaft

Die erste Architekturbiennale in Rotterdam

Die erste Internationale Architekturbiennale in Rotterdam steht unter dem Motto «Mobilität». Das Niederländische Architekturinstitut wartet mit thematischen Ausstellungen über die «World Avenue» und die «Holland Avenue» auf, während im ehemaligen Speichergebäude «Las Palmas» internationale Verkehrsprojekte präsentiert werden.

Am Anfang der modernen Stadt- und Verkehrsplanung stand die Vision eines Schweizers: Als Le Corbusier 1929 durch das Flugzeugfenster die Silhouette Rio de Janeiros betrachtete, kam ihm eine Idee, die bis heute die architektonischen Debatten anstachelt: Eine «majestätische Autobahn» sollte das gesamte Territorium auf etwa hundert Metern Höhe durchqueren und die Stadt mit dem Hinterland verbinden. «Damit man mich recht verstehe», notierte Le Corbusier, «die Autobahn erhebt sich überhalb der bezaubernden Bucht und steigt über die Stadt bis hinauf zu den Dächern der Wolkenkratzer. Nicht durch die Brückenbögen gewinnt sie an Höhe, sondern weil sie über den Gebäudekuben entlangführt, die für die Menschenmassen konstruiert wurden.» Anfangs liessen sich von Le Corbusiers Idee Techno-Utopisten anstecken, die Metropolen wie Schluchten entwarfen, durchzogen von zahllosen Tunnelsystemen für den Autoverkehr. Doch dann kam «Metropolis» und offenbarte die Kehrseite der Technikbegeisterung - Menschen hinter der Fassade gigantischer Monumente, unter das Diktat der Maschinisierung gezwungen.


Gefahren urbaner Desintegration

Wenn nun die erste Internationale Architekturbiennale in Rotterdam Ausstellungen präsentiert, die sich sowohl dem Leitthema «Mobilität» als auch Le Corbusiers Vision verpflichtet fühlen, so liegt dies vornehmlich daran, dass die Verkehrsprobleme in den rapide wachsenden Metropolen weit weg von einer Lösung sind. Francine Houben vom Architekturbüro Mecanoo als Direktorin der diesjährigen Biennale und Maria Luisa Calabrese als Kuratorin sind davon überzeugt, dass Le Corbusiers Ansatz eine gestalterische Kraft innewohnt, die geeignet ist, die Gefahren der urbanen Desintegration zu meistern. Gerade die Niederländer wissen um die Risiken des «urban sprawl»: der Aufteilung der Siedlungsstrukturen in Freizeit-, Arbeits- und Schlafstädte sowie des Zubetonierens des letzten Restgrüns. Dessen Wahrnehmung ist mittlerweile laut Adriaan Geuze entlang der Autobahn von Rotterdam nach Den Haag auf zwei Minuten Fahrzeit geschrumpft. Dort, wo früher Weideland war, gibt es heute Autobahnausfahrten mit Business-Centers und McDonald's-Restaurants. Diese Entwicklung erachtet der Rotterdamer Landschaftsarchitekt «für ein kleines Land wie Holland» als «katastrophal».

Deswegen zeigen Geuze und das Rotterdamer Architekturbüro MVRDV, wie Bauen und der Umgang mit Grünraum angesichts knapper Ressourcen und wachsenden Wohnungsbedarfs sinnvoll sein können. Die Architekten von MVRDV schlagen für das Stadtzentrum von Leidschenveen die Errichtung einer «vertikalen Stadt» vor: eine fächerartig gestapelte Bebauungsstruktur mit Parkrampen, Geschäften und öffentlichen Einrichtungen. Sie möchten am liebsten die funktionale Trennung des Verkehrs rückgängig machen und wie Le Corbusier das Auto wieder voll ins städtische Leben integrieren - aber mit neuen Raumverbindungen und Schnittstellen. Geuze zeigt in der Ausstellung im einstigen Speichergebäude «Las Palmas», das im Rahmen der Architekturbiennale internationalen Teams eine Plattform bietet, einen anderen Weg: Im südkalifornischen Pasadena baut er, begeistert von den Parkways des amerikanischen Landschaftsarchitekten Frederik Law Olmsted, den «Elevated Arroyo Parkway» als programmatischen Gegenentwurf zur Metropole Los Angeles. Entsprechend dem Ausstellungsmotto «A Room with a View» stellt er den endlos verschlungenen Autobahnen von Los Angeles farbige Landmarken entgegen, die entfernt Luís Barragáns Türmen an den Hauptstrassen von Mexico City gleichen. Qualitätvolle räumliche Verdichtung und Panoramablicke auf die umgebende Landschaft - auch für Francine Houben liegt darin das Ideal von Architektur, Stadt- und Verkehrsplanung.

Wer eine Probe aufs Exempel machen will, unternehme einen Besuch der sehenswerten Ausstellungen «World Avenue» und «Holland Avenue» im Niederländischen Architekturinstitut (NAI). Houben hat zehn Ballungszentren aus Asien (Tokio, Peking, Pearl-River-Delta, Jakarta, Beirut), Europa (Budapest, Randstad Holland, Ruhrgebiet) und Amerika (Mexico City, Los Angeles) ausgewählt. Über Mexico City erfährt man, dass die Autofahrer das Programm zur Verkehrsreduktion unterliefen, indem sie sich Zweitwagen zulegten und so die Anzahl Autos noch erhöhten. Auf einer rotierenden Plattform können sich die Besucher in einen VW-Käfer setzen und virtuell über chaotische Autopistas bis hinaus in die Vorstädte fahren - vorbei an hupenden Autos und Strassenverkäufern. Dem NAI gelingt in der Hauptgalerie eine eindrückliche Verbindung von Information und atmosphärischer Dichte. Einprägsam ist das Beispiel des Pearl-River-Deltas, eines explosiv gewachsenen Ballungsgebiets westlich von Hongkong mit Chinas dichtestem Strassennetz, 1260 Brücken und 5 Flughäfen. Die Autofahrt führt hier durch Hochhauswälder, deren erschreckende Uniformität zum globalen Zeichen schneller Rendite geworden ist. Verglichen damit wirkt die Reise durchs Ruhrgebiet fast schon gemütlich: überall Fastfood-Lokale, rauchende Fabrikschlote, Reihenhaussiedlungen und schliesslich die vertrauten Staumeldungen aus dem Autoradio.


Ästhetik der Autobahnen

Die Ausstellungen im NAI und in «Las Palmas» fragen danach, wie sich die wachsende Mobilität der Gesellschaft auf die städtischen Strukturen auswirkt. Houben und Calabrese sind sich bewusst, dass es kein Zurück in eine Zeit geben darf, als das Einfamilienhaus im Grünen und das Auto eine symbiotische Einheit bildeten. Nicht extensiver Strassenausbau, sondern extrem verdichtete Stadtautobahnen sind das Ziel. Statt um die Entfesselung der Mobilität geht es um deren Steuerung, statt um urbane Zerstreuung um Verdichtung. Houbens Motto «A Room with a View» ist Kevin Lynchs Untersuchungen zur visuellen Wahrnehmung von Autofahrern geschuldet. Um die besonderen Qualitäten von Städten und Landschaften besser aufnehmen zu können, müsse mehr Wert auf die Gestaltung der Strassen gelegt werden. Es geht also auch um die Ästhetik der Autobahnen. In «Las Palmas» werden zudem Bauwerke präsentiert, die den täglichen Bewegungsfluss besonders gut ins architektonische Konzept integrieren. Etwa Ben van Berkels Arnheimer Bahnhof oder der spektakuläre Fährenterminal in Yokohama von Foreign Office Architects, der wie eine ins Meer hinausragende Parklandschaft gestaltet ist. Und nicht zuletzt Peter Haimerls Entwurf für ein vernetztes, überirdisches Transportsystem, das die herkömmliche Automobilität ersetzen und Synergien für die Gestaltung des Stadtraums freisetzen soll. So verschieden die Konzepte sind: Mit Le Corbusiers Vision haben sie gemeinsam, dass sie die Strasse als Korridor durch ereignislose Stadt- und Landschaftsräume verwerfen. Die Strasse soll Erlebnisqualität gewinnen. Auch wenn sie keine Aussicht auf die Bucht von Rio bietet.


[ Bis 7. Juli: Architekturbiennale im NAI, in «Las Palmas» und im Pakhuis Meesteren. Kataloge: Francine Houben, Luisa Maria Calabrese: Mobility. A Room with a View. NAI Publishers, Rotterdam 2003. 447 S., Euro 35.-. - Mecanoo Architecten: Holland Avenue 2002/2030, Research/Design Road Atlas. Ministry of Transport, Den Haag 2003. 150 S., Euro 10.-. ]

26. April 2003 Neue Zürcher Zeitung

Verfall und Planungseuphorie

Die drei virtuellen Städte in Ostdeutschland

Seit einem Jahr propagiert die deutsche Bundesregierung das Förderprogramm «Stadtumbau Ost». Die Einsicht in den Handlungsbedarf kam spät, denn die Zeichen des urbanen Notstands in den ostdeutschen Städten sind alarmierend: Über eine Million Wohnungen sowie unzählige Gewerbebauten, soziale Einrichtungen und Industrieareale stehen in Städten wie Rostock, Wismar, Potsdam, Magdeburg, Cottbus, Halle, Erfurt, Gera, Zwickau und Chemnitz leer. Die potenziellen Einwohner dieser «verlassenen Stadt» würden mit 2,3 Millionen Menschen die zweitgrösste Metropole Deutschlands bilden. Zu dieser Erkenntnis kommt die Ausstellung «3 Städte: Verlassene Stadt - Ersatzstadt - Ungebaute Stadt», die von den Kuratoren Sybil Kohl, Philipp Oswalt und Albrecht Schäfer in der Kunsthalle Düsseldorf eingerichtet wurde und deren unspektakuläre Präsentation offenbar ganz im Trend des Low-Budget-Programms der neuen Direktorin Ulrike Groos liegt. Die Schau zeigt, wie vielfältig das vernachlässigte Erbe ist: Es reicht von gründerzeitlichen Wohnhäusern, Volksbädern aus der Zeit um 1900 und Verwaltungskomplexen im neusachlichen Stil über Gaststätten, Tankstellen und Kaufhäuser bis hin zu den Plattenbauten des uniformen DDR-Funktionalismus.

Die Kehrseite des städtischen Verfalls war lange Zeit eine ungebremste Planungseuphorie, die den nach 1989 entstandenen Wachstumsmarkt einzig nach den Verheissungen satter Renditen bemass. Deswegen dachten die westlichen Investoren der ersten Stunde weniger an behutsames Renovieren, sondern mehr an Einkaufszentren und Multiplexkinos, die sie bevorzugt auf der grünen Wiese in unmittelbarer Nähe der Autobahnen hochzogen. Der zweite Teil der Präsentation zeigt diese ostdeutsche «Ersatzstadt» zwischen utopischer Kühnheit und banaler Scheusslichkeit als Mix aus Shopping-Malls, Metastasen an den Stadträndern und einer adrett postmodernen Wohnhauskultur mit ihrem Zierrat aus Giebeln, Säulchen und Erkern.

Die Ausstellung widmet sich schliesslich auch der «ungebauten» utopischen Stadt - oder anders gesagt: den Visionen der Investoren, Planer und Architekten. Es überrascht, dass die Kuratoren dazu nicht auf die mittlerweile üblichen Computersimulationen, sondern auf traditionelle Architekturzeichnungen zurückgriffen. Erwartungsgemäss handelt es sich fast ausschliesslich um Grossprojekte, die im Berliner Baufieber der frühen neunziger Jahre entstanden, als sich das Zentrum der neu-alten deutschen Hauptstadt zur sogenannt grössten Baustelle Europas wandelte. Wie sehr Investoren bisweilen in gigantomanischen Träumen schwelgen, demonstriert ein Projekt für eine «High-rise-City» - in Form einer Mischung aus Manhattan und Singapur - für die Metropole an der Spree.


[ Bis 10. Mai in der Kunsthalle Düsseldorf. Begleitpublikation: 3 Städte: Verlassene Stadt - Ersatzstadt - Ungebaute Stadt. Architektur-Stadtführer Ostdeutschland, Band I-III. Hrsg. Sybil Kohl, Philipp Oswalt, Albrecht Schäfer. Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2003. € 14.-. ]

4. April 2003 Neue Zürcher Zeitung

Monumentaler Kubus

Das Architektenteam Sanaa in Essen

Für die Essener Zeche Zollverein, die im Dezember 2001 zum Weltkulturerbe erklärt wurde, legte das Rotterdamer Office of Metropolitan Architecture (OMA) vor einem Jahr einen Masterplan mit «Attraktoren» vor. Für den ersten dieser Attraktoren, die Designschule Zollverein, wurde ein internationaler Wettbewerb ausgeschrieben, den kürzlich das japanische Team Sanaa von Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa gewonnen hat. Der Entwurf der Tokioter Architekten sieht für den Eingangsbereich der Zeche Zollverein einen überdimensionierten Kubus vor, dessen Formensprache den Dialog mit der rationalistischen Industriearchitektur von Fritz Schupp und Martin Kremmer aufnimmt. Die Monumentalität des 38 Meter hohen Baukörpers soll durch ein Feld unterschiedlich angeordneter Perforationen relativiert werden. Zudem möchte Sanaa die mit Spritzbeton bearbeitete Fassade als textile Struktur lesbar machen und so den Spannungsbereich zwischen undurchsichtig und transparent sowie zwischen schwer und leicht ausloten.

Dass dieser japanische Rationalismus mittlerweile zum Markenzeichen von Sanaa wurde, veranschaulicht zurzeit eine Ausstellung in der Kompressorenhalle der Zeche Zollverein. Es ist die erste Einzelausstellung der beiden Architekten in Europa. Für die Präsentation haben sich Sejima und Nishizawa auf Modelle und Zeichnungen aktueller Projekte in Japan, Europa und Amerika beschränkt. Dabei zählen die Essener Designschule und ein Kulturzentrum im holländischen Almere zweifellos zu den markantesten Entwürfen. Erstmals kann man auch das neue Projekt für die Erweiterung des Instituto Valenciano de Arte Moderno (IVAM) bewundern. Die Japaner beabsichtigen, den bestehenden modernen Baukörper mit einer dünnen, selbsttragenden Aussenhaut zu umspannen und das Museum um Skulpturen- und Dachgärten zu erweitern.


[Bis zum 13. April in der Zeche Zollverein in Essen.]

7. März 2003 Neue Zürcher Zeitung

Ein Museum der Wohntypen

Der Silodam-Wohncontainer von MVRDV in Amsterdam

Die ersten spektakulären Bauten des Rotterdamer Architekturbüros MVRDV liessen vermuten, dass es vor allem durch innovative Architektur und durch aussergewöhnliche Konstruktionen aufzufallen sucht. Nun hat es mit dem Silodam-Container in Amsterdam erneut einen wegweisenden Bau realisiert: ein spannendes Wohngebäude.

Vor wenigen Jahren gehörte das junge Architektentrio MVRDV (Maas, van Rijs, de Vries) noch zu den Nobodys der Szene. Dies änderte sich sehr schnell, als die drei den lukrativen Auftrag erhielten, für 40 Millionen Gulden ein neues Gebäude für die Sendeanstalt VPRO in Hilversum zu errichten. Plötzlich galten sie als Senkrechtstarter in der grossen Schar talentierter holländischer Architekten. Schon kurze Zeit später debütierten sie auf dem internationalen Parkett mit ihrem kurios- phantastischen Sandwich-Pavillon für die Expo in Hannover. Auf einmal waren die drei Rotterdamer mit dem modischen Kürzel in aller Munde. Viele Kritiker waren überzeugt, dass sie nun siegesgewiss von Grossprojekt zu Grossprojekt schreiten würden. Doch zum Glück kam alles anders. Denn MVRDV wollte vor allem durch innovative Architektur, durch aussergewöhnliche Konstruktionen auffallen. So folgte auf ihre Expo- Attraktion ein wirklicher Überraschungscoup: „das denkbar schmalste Haus“ - so MVRDV - auf der Amsterdamer Scheepstimmermanstraat, dem Mekka experimentellen Bauens im neu erschlossenen Hafengebiet (NZZ 7."9."01). Dieses Miniatur-Wohnhaus gleicht einem gebauten Manifest, da es durch intelligente Geschossaufteilung eine verblüffende räumliche Vielfalt ermöglicht. Auch bei den nächsten Projekten in der niederländischen Hauptstadt blieb MVRDV der selbst gesteckten Maxime treu. Besonders gilt dies für den Silodam-Container, ein kürzlich fertig gestelltes Wohngebäude in der Nähe des Alten Holzhafens.


Hipper Ozeandampfer

Das Bauwerk erhebt sich am Kopfende eines ehemaligen Piers, der mittlerweile zur Topadresse in den neuen Siedlungen der „Waterstad“ geworden ist. Er verlängert die axialsymmetrische Ausrichtung der zwei vorgelagerten Speicherbauten: eines monumentalen Getreidesilos mit der Aura einer säkularen Backsteinkathedrale und eines angrenzenden Speichers, der dem „béton brut“ der fünfziger Jahre verpflichtet ist. Die Eigenwilligkeit dieser beiden Industriefossilien ist nicht zu übersehen, aber die knallbunte Schachtel aus dem Experimentierlabor des Rotterdamer Avantgardebüros sticht schon von weitem ins Auge. Die gestapelten Container auf Stelzen wirken jedenfalls wie eine Farbattacke auf die Nüchternheit der umgebenden Hafengebäude.

Eine niederländische Tageszeitung titelte denn auch: „Ein hipper Ozeandampfer, klar zum Auslaufen“. Die Metapher klingt zwar reichlich phantastisch, ist aber durchaus zutreffend. Anders als die beiden Speichergebäude ist das „Containerschiff“ nämlich nicht auf dem sicheren Grund des Piers gebaut, sondern ragt mit massiven Stützen aus dem Hafenbecken empor. Der Eindruck eines Ozeandampfers drängt sich auch auf, weil die ersten beiden Gebäudeteile nur durch frei über das Hafenbecken schwebende Stege erreichbar sind. Dagegen erfolgt der Zugang zu den letzten beiden Blockabschnitten über eine breite Freitreppe. Dieses bühnenhafte Entrée hat mehrere Funktionen: Es öffnet den zunächst geschlossen wirkenden Block und durchschneidet die gesamte Gebäudetiefe. Hier sind die Lasten förmlich zu spüren, die die massiven Stützen abfangen, doch zugleich erstaunt die unerwartete Offenheit der Passage, die sich zu einer grossflächigen Terrasse mit Blick über die Flusslandschaft ausweitet. Ausserdem regelt das Entrée den Zugang zu den jeweiligen Erschliessungsbereichen der Blockabschnitte, aber auch zu einem Café, das sich unterhalb der Aussichtsplattform befindet und wie eine ausgezogene Schublade über den Ij hinausragt. Aus diesem Guckkasten können die Gäste den Hausbewohnern zuschauen, wie sie mit ihren kleinen Booten auf dem Fluss herumschippern. Dieses Flair der „Waterstad“ sei ihr besonders wichtig, betont Nathalie de Vries von MVRDV, und deswegen habe man im Team lange überlegt, wie man dem Wohnen am Wasser am besten Rechnung tragen könne.
Nähe zum ursprünglichen Amsterdamer Lebenselement - dies könnte das Motto des Rotterdamer Trios sein. Aber die Architekten von MVRDV folgen nicht einfach der gängigen Mode; sie verstehen sich vielmehr als Trendsetter. Deswegen bekräftigt Nathalie de Vries das eigentliche Markenzeichen des jungen Architektenteams: höchste Differenziertheit in der Raumgestaltung. Der Silodam-Container birgt daher im Innern so manche Überraschung, die von aussen kaum zu erahnen ist. Etwas unspektakulärer spricht Nathalie de Vries lieber von einem „Museum der Typen“. Gemeint ist ein Wohngebäude, das mit den traditionellen Formen der Wohnarchitektur radikal bricht. Im Grunde realisiert der Silodam- Container ein früheres Manifest von MVRDV: „Die Forderung nach grösserer Vielfalt und ungewöhnlicheren Wohnungsformen nimmt überhand. Das ideale Haus hat ausgedient; es gibt tausend ideale Häuser.“ In einem schönen Traum könnte man sich vorstellen, diese tausend idealen Häuser im „Museum der Typen“ zu durchstreifen. Da es sich leider um ein Museum mit privaten Wohnungen handelt, wird es bei dem Traum bleiben.


Miniatur-Nachbarschaften

Doch das originelle Konstruktionsprinzip ist für jeden auch an der Fassade ablesbar, betrachtet man das Farbenkleid des Wohncontainers. „Mehrere Häuser in einem Haus“ versprechen die Architekten, man kann auch nüchterner sagen: „Mehrere Blocksegmente ergeben ein Wohngebäude.“ Die einzelnen „Häuser“ sind dann jene konstruktiven Elemente, die auf Grund gleicher Geschosshöhe und Farbe, die an Korridoren und Galerien ablesbar ist, gewissermassen eine wiedererkennbare Identität herstellen. Hier sollen sich nach dem Willen der Architekten „Miniatur- Nachbarschaften“ bilden. Womit wir bei der Philosophie von MVRDV wären: Nur eine hochgradige Differenzierung der Wohnbereiche entspricht dem zunehmenden Hang zu individuellen Lebensformen.
Die an der Fassade erkennbaren zwanzig verschiedenen Farben entsprechen ebenso vielen Wohnungstypen. Das Silodam-Museum beherbergt Wohnungen von höchst unterschiedlicher Grösse: In dieser „Unité d'habitation“ gibt es Wohnungen mit bis zu drei Geschossen; andere sind über umlaufende, mehrgeschossige Galerietrakte erreichbar; wieder andere besitzen einen eigenen Zugang zu einer Dachterrasse; ebenso kommen Wohnflächen vor, die rings um einen Patio gebaut sind; oder auch Apartments, die sich durch die gesamte Tiefe des Gebäudes ziehen. Wie nicht anders bei MVRDV zu erwarten, ist manches nichts weiter als Spielerei. Man trifft aber auch auf unerwartete Einfälle, die den Kontext phantasievoll einbeziehen. Etwa die im Sockelgeschoss einzig durch Holzstege miteinander verbundenen Wohnungen, die den Bewohnern täglich vor Augen führen, wie nah die Architekten am Wasser gebaut haben. - MVRDV ist eine kleine Revolution im Wohnungsbau gelungen. Im Amsterdamer Hafen gibt es nun tausend ideale Häuser in einem Haus.

1. November 2002 Neue Zürcher Zeitung

Von Amsterdam lernen

Innovative Wohnbauten von Frits van Dongen

Der 1946 geborene Amsterdamer Architekt Frits van Dongen wurde mit seinem spektakulären, «Wal» genannten Wohnblock am Ij international bekannt. Mehr als das Erscheinungsbild interessiert ihn aber die differenzierte Gestaltung seiner Bauten. Das beweisen der Batavia- und Botania-Komplex im ehemaligen Hafen von Amsterdam.

«Wal» nennen die Amsterdamer liebevoll das markante, silbrig schimmernde Wohngebäude am Ij, das den Architekten Frits van Dongen bis auf die Titelseiten der internationalen Lifestyle- Magazine gebracht hat. Natürlich kommt dieser plötzliche Ruhm nicht von ungefähr. Denn offenbar hat van Dongen zielsicher den Zeitgeist getroffen, der nach spektakulären Bauten giert. Er ist sich durchaus bewusst, warum sich die Medien so sehr interessieren: «Die Leute empfinden das Gebäude als sexy.» Er bedauert jedoch, dass sich dieses Interesse nicht um den Facettenreichtum seiner übrigen Architektur kümmert.


Rückkehr zur Grossform

Die strahlende Riesenskulptur aus 27 000 Zinkplatten wurde in Amsterdam schnell zum Wahrzeichen der erneuerten Hafenzone und zieht mittlerweile Scharen von Architekturinteressierten an. Nach den Vorstellungen von Adriaan Geuze, der hier den Masterplan für die Quartiere Borneo und Sporenburg erstellt hat, bleibt der gestrandete Moby Dick nicht das einzige Wahrzeichen im neuen Siedlungsgebiet. Gegen Ende der Bauarbeiten sollen insgesamt drei Superblöcke das ruhige Meer der Wohnhäuser überragen. Im Gespräch erzählt van Dongen, wie schwer es war, im traditionsbewussten Amsterdam mit den vielen Grachten, der kleinteiligen Struktur und der niedrigen Bauhöhe das neue urbanistische Denken durchzusetzen: «Erst in den letzten zehn Jahren begann in Amsterdam ein Umdenken. Man setzte nun mehr auf die Autonomie von Wohnblöcken im städtischen Umfeld. Es war Hans Kollhoff, der Anfang der neunziger Jahre mit dem phantastischen Piräus-Block auf dem KNSM-Pier die Kehrtwende einleitete. Seit den katastrophalen Erfahrungen mit dem Bijlmermeer-Ghetto in den sechziger Jahren war es der erste grosse Block, den man wieder in einer Neubausiedlung genehmigte. So ergab es sich, dass ich als einer der ersten holländischen Architekten Gelegenheit hatte, wieder grosse Wohnblocks zu bauen.»

Den Anfang machte «De Landtong» in Rotterdams Kop van Zuid, einem Siedlungsgebiet an der Nieuwe Maas, das im Zweiten Weltkrieg vollständig zerstörte wurde und nun als Experimentierfeld für avantgardistische internationale Architektur gilt. 1998 errichtete van Dongen auf der von Wasser umspülten Landzunge 623 Wohnungen in drei Baublöcken, die von vier Geschossen im Süden bis auf zwölf Geschosse im Norden ansteigen. Van Dongen wollte mit «De Landtong» den geschlossenen Baublock weiterentwickeln - als heterogenes Ensemble, das allenfalls durch das matte Rot des Ziegels zusammengehalten wird. Im Gespräch macht er deutlich, dass für ihn diese Entwicklung keinesfalls zufällig ist: «Die Besonderheit der architektonischen Entwicklung geht auf das Wohnungsgesetz von 1901 zurück, das den Bürgern ein menschenwürdiges Wohnen mit ausreichend Licht und Luft garantierte. Seit dieser Zeit lenkte und finanzierte die Regierung den Wohnungsbau, sie trug viel dazu bei, stadtplanerische Initiativen zu wecken.»

Gerne erzählt van Dongen, wie ihn seine Lehrer Herman Hertzberger und Aldo van Eyck davon überzeugten, gegen die doktrinären CIAM- Typologien eine mehr an den menschlichen Bedürfnissen orientierte Architektur zu setzen. Diese «humanistische Ethik» überzeugte ihn so sehr, dass er seine Basketball-Karriere abbrach und Mitte der siebziger Jahre einen gänzlich neuen Weg einschlug: «Seit dieser Zeit bestand mein Leben nur noch aus Architektur.» Dass die Einflüsse van Dongens nicht nur bei den holländischen Strukturalisten, sondern auch bei Carel Weeber, mit dem er 1988 de Architekten Cie. gründete, und Rem Koolhaas zu suchen sind, gibt er offen zu. Wie diese gegensätzlichen Stile sich vertragen können, zeigen zwei öffentliche Bauwerke, die Mojo-Konzerthalle und das Pathé- Kino im Südosten Amsterdams, die sich allerdings etwas allzu sehr den heutigen Trends und den Klischees der Investoren anpassen.


Hoch verdichteter Wohnungsbau

Die Stärken van Dongens liegen in den differenziert gestalteten Wohnblöcken. Das beweisen der Batavia- und Botania-Komplex inmitten der Hafenerweiterung Amsterdams. Im Gegensatz zum «Wal» fehlt dem Batavia-Gebäude jenes «glittering image», das es auf die Titelseiten der Illustrierten bringen könnte. Die langgestreckten Ziegelfassaden des U-förmigen Blocks vermitteln zunächst einen abweisenden, ja sogar festungsartigen Eindruck. Erst auf den zweiten Blick enthüllt das Gebäude seine Reize. Dazu zählen die variationsreiche Fassadengestaltung mit teilweise geschosshoher Verglasung und Fensterbändern, ebenso der keilförmige Abschluss des massiven Blockrands, der den monumentalen Eindruck des Komplexes abmildert. Gleiches gilt für die «Botania», die wie ein markanter roter Kubus in die Nieuwe Herengracht hineinragt. Dieser moderne Block differenziert die traditionelle städtische Gebäudetypologie: Die weissen Holzrahmen werden als Strukturierungsprinzip übernommen, doch der Baukörper wirkt rationalistischer. Im Innern gestaltete van Dongen höchst abwechslungsreiche Wohnungsgrundrisse; und die Dachlandschaft bietet eine schöne Aussicht über die «Waterstad». - Der «Wal», «Batavia» und «Botania» stehen für einen hoch verdichteten Wohnungsbau, wie er auch die traditionellen Stadtviertel Amsterdams prägt. Van Dongen genügt ein Blick aus seinem Büro: «Betrachtet man das Jordaan-Viertel, so findet man den typischen Amsterdamer Städtebau - hohe Wohndichte, ökonomischen Landverbrauch und städtisches Lebensgefühl.»

Ihm geht es um vorbildliche Stadtplanung, um die kreative Weiterentwicklung der holländischen Stadt. Deswegen reizte es ihn, zusammen mit Adriaan Geuze und Ton Schaap, dem Verantwortlichen des Stadtplanungsamtes für die Umwandlung der östlichen Hafengebiete, die städtebaulichen Koordinaten des Joordan auf die neuen Viertel Borneo und Sporenburg zu übertragen: «Der Bebauungsplan für die Besiedlung der Halbinseln ist typisch holländisch. Wir haben wie gewohnt eine hohe Bebauungsdichte mit geringer Geschosshöhe kombiniert.» Man versuchte, das Amsterdamer Ideal der kompakten Stadt mit den Vorzügen intimer Wohnatmosphäre zu verbinden. - Wenn Frits van Dongen an das «neue Amsterdam» denkt, dann nicht nur an die Besiedlung des südlichen Ij-Ufers. Als Gegenpol zu den neuen Wohnvierteln am ehemaligen Hafen wird im Amsterdamer Süden in den nächsten 20 Jahren das Geschäftszentrum Zuidas entstehen. Van Dongen erwähnt noch ein weiteres Projekt, das in den nächsten Jahrzehnten das städtische Bild Amsterdams nachdrücklich verändern wird: Ijburg, ein Archipel aus sechs künstlich aufgeschütteten Inseln inmitten der Zuidersee. Dieses grosse Landgewinnungsprojekt soll für 60 000 Menschen Wohnraum bereitstellen. Van Dongen, der zusammen mit Felix Claus und Ton Schaap den Masterplan für die ersten Abschnitte - Haveneiland und Rieteilanden - erstellt hat, sieht zwar die Gefahr einer zunehmenden Verstädterung, aber er wäre kein Holländer, wenn ihn dies nicht auch zuversichtlich machen würde.

Da der letzte Raumplanungsbericht der niederländischen Regierung von einem zusätzlichen Bedarf von zwei Millionen Wohnungen auf einer Fläche von 39 000 Hektaren Land in den nächsten dreissig Jahren ausgeht, wurde das Ijburg- Projekt, angesichts der aus allen Nähten platzenden Randstad, zu einer zwangsläufigen Konsequenz. Für die Planer war es selbstverständlich, auch hier das Jordaan-Viertel zum Gradmesser der zukünftigen Bebauung zu machen. So erreichen allein Haveneiland und Rieteilanden eine Wohnungsdichte, die nahe an jene des Jordaan- Viertels herankommt. Van Dongen, Claus und Schaap verteidigen zwar die Idee der Blockstruktur, doch die vorgegebenen Gebäudetypologien sollen in späteren Planungsphasen noch genügend Spielraum für die individuelle Gestaltung von Grachten, Strassen, Höfen, Patios und Gärten lassen. - Begeistert fügt Frits van Dongen hinzu: «Amsterdam steht inmitten eines grossen architektonischen und urbanistischen Umbruchs. Die neuen Gebiete am Wasser bewahren unsere Lebens- und Wohnqualität, zugleich werden die architektonischen Highlights viele Architekturfans anziehen. Die Stadt wird jedem etwas zu bieten haben. Dieses Image sollte sie besser herausstellen. Das wäre grossartig.»

18. September 2002 Neue Zürcher Zeitung

Neue Promenaden

Strategien zur Verschönerung unserer Städte

Wie sieht die Zukunft unserer Städte aus? Wie lassen sich die öffentlichen Räume besser gestalten? Und vor allem: Wie kann man die urbane Lebenskultur steigern? Diese Fragen sind am Erbe der europäischen Stadt orientiert und lassen zwangsläufig an Städte mit Strassencafés und belebten Plätzen denken. Selten hat man so viel nachgedacht über Veränderungsstrategien, und selten wurden so viele Aktionen beschworen wie heute. Besonderen Nachholbedarf scheint man in Deutschland zu spüren, wo man sich seit dem letzten Jahr auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene auf die verstärkte Förderung der Baukultur besinnt. Einig ist man sich über die Verbesserung städtischer Lebensqualität, nur an überzeugenden Rezepten mangelt es noch.

Eine der Strategien, die man kürzlich auf einem urbanistischen Symposion in Düsseldorf diskutierte, nennt sich «Embellissement». Mit diesem Konzept soll eine städtische Erneuerung entsprechend der klassischen Vorstellung von Ordnung und Schönheit herbeigeführt werden. Natürlich fragt man sich, wie diese Strategie in unseren modernen Städten durchzuführen sei, ob sie sich etwa damit begnüge, die Innenstädte mit historisierenden Fassaden zu schmücken, während daneben die banalen Hüllen der Shopping-Malls, Entertainment-Center und Multiplexe hochgezogen werden. Die Gefahr besteht also, dass die Sanierung das städtische Chaos erst recht heraufbeschwört. Dagegen bieten sich zwar umfassende urbanistische Eingriffe an. Da diese heutzutage jedoch meist nur in Gestalt von «public private partnerships» durchsetzbar sind, stellt sich die fast unlösbare Aufgabe, einen Interessenausgleich zwischen Politikern, Architekten, Stadtplanern, Developern und Bürgern herzustellen. Also beschränkt man sich lieber auf leicht überschaubare innerstädtische Massnahmen oder auf die Umgestaltung gut gelegener Industriegebiete.
Peripheres Niemandsland

Zu diesen Massnahmen gehört etwa Bordeaux' Jahrhundertprojekt unter der Leitung des Landschaftsarchitekten Michel Carajoude. In den nächsten Jahren möchte er das Ufer der Garonne in eine kilometerlange Promenade umgestalten, gesäumt von abwechslungsreichen Parkanlagen. Dadurch lässt sich das beeindruckende Panorama von Bordeaux zwar verschönern, doch folgt man dabei letztlich nur der traditionellen Vorstellung eines touristisch attraktiveren Zentrums. Aber wie sehen die Peripherien von Bordeaux aus? Asphaltierte Industriebrachen, gesichtslose Fertigbaukisten, auf exotisch getrimmte Fast-Food-Lokale und überdimensionierte Werbeflächen, wohin das Auge blickt. Dieses Niemandsland ist weltweit zur traurigen Realität geworden. An den Brachflächen der städtischen Randbezirke scheitern die gut gemeinten Vorsätze eines «Embellissement». Selbst erhaltenswerte Grünflächen werden zunehmend bedroht. Der Rotterdamer Landschaftsarchitekt Adriaan Geuze kritisiert, dass die Suburbanisierungslawine in dicht besiedelten Ländern wie den Niederlanden das letzte Restgrün zu zerstören droht, während gleichzeitig jeder Ort in der sich zwischen Amsterdam, Rotterdam und Utrecht kreisförmig ausbreitenden «randstad» einen eigenen Autobahnanschluss fordert. «Jeder Bürgermeister verbindet sein Heil damit, direkt an der Ausfahrt ein Business-Center und einen McDonald's und alle zehn Jahre eine Wohnsiedlung mitten ins Grüne zu bauen.»

Was nützen punktuelle innerstädtische Verschönerungen, wenn die suburbanen Viertel verrohen? In der Regel fehlt ein notwendiges Gefühl für den Wert von Zwischenräumen, wie sie die zersiedelten Aussenquartiere darstellen. Ihnen wird keinerlei Nutzen zuerkannt, da sie aus dem dualistischen Schema von Stadt und Land herausfallen. Der in Mailand lebende Landschaftsarchitekt Andreas Kipar verweist gerne darauf, dass dieses schematische Denken selbst das Problem ist. Ihn bringen italienische Bürgermeister zur Verzweiflung, die jede freie Wiese als potenzielles Baugrundstück betrachten. Aber erst wenn die «interaktiven Landschaften» von Suburbia in ihrem Eigenwert geachtet werden, besteht die Chance, eine Vielfalt von Identitäts- und Qualitätsräumen zu schaffen. Dies bedeutet, Interpretationen offen zu lassen und nicht sogleich jede Brache in einen Themenpark umzuwandeln.
Revitalisierungen

In unserer postindustriellen Gesellschaft sind die Industriebrachen eine der urbanistischen Herausforderungen der Zukunft. Nach der Wende war es besonders in Ostdeutschland gang und gäbe, die Industriefossilien wenn irgend möglich in schicke Gewerbeparks zu transformieren. Von einer lebendigen Mischung der Nutzungen und Funktionen konnte kaum die Rede sein. Vorbildliche Beispiele im Umgang mit ausgedienten Industriearealen sind hingegen etwa Zürich West, wo Wohnen, Kultur, Sport und Vergnügen dicht gemischt sind, oder die Essener Zeche Zollverein, ein als Weltkulturerbe anerkanntes Industriegelände, für das Rem Koolhaas einen Masterplan mit Wohnungen, Ausstellungsgebäuden, Instituten, Gewerbebauten, Freizeitzentren, Geschäften und Parks entwickelte. Da der grobmaschige Masterplan nur einen zeitlichen und programmatischen Rahmen für die weitere Entwicklung des industriellen Komplexes vorgibt, bleibt genügend Raum für kleine, innovative und temporäre Projekte, die durch eine lebendige Stadtkultur den Gegensatz zwischen Industriegebiet und städtischer Kulturlandschaft aufbrechen könnten.

Auch die Revitalisierung der zu Brachflächen degenerierten Hafengebiete zielt auf städtische Anbindung. Durch die Aufwertung der einstigen Hafenanlagen zu neuen städtischen Zentren macht man eine Entwicklung rückgängig, die die Stadt in den letzten 150 Jahren vom Wasser entfernte und eine autonome Region mit Schwerindustrie und Speichergebäuden entstehen liess. Gerne wird heute die Hafenstadt um 1700 gewürdigt, als «balcons urbains» öffentliche Zonen bildeten, die städtisches Leben und Gewerbehafen verbanden. In Barcelona hat man sich in den achtziger Jahren auf dieses Erbe besonnen, als Ignasi de Solà-Morales nach dem Vorbild des alten Passeig de Colom die Hafenpromenade Moll de la Fusta anlegte. Sie erweist sich als ein vorbildlich funktionierendes urbanistisches Element, da sie auf verschiedenen Ebenen die Altstadt, den Verkehrsfluss der Ronda Litoral und das Meer zusammenrückt.

6. September 2002 Neue Zürcher Zeitung

Vergangenheitskult und Zukunftsentwürfe

Widersprüchliche urbanistische Visionen für Havanna

Seitdem Fidel Castro 1965 die architektonische Moderne auf Kuba für tot erklärte, tut man in Havanna so, als habe es niemals eine Epoche des internationalen Stils auf Kuba gegeben. Man setzt lieber auf die bei Touristen beliebte Kolonialarchitektur. Aber seit einiger Zeit gibt es auch leise Ansätze eines Neuanfangs.

Noch heute wird der Schriftsteller Alejo Carpentier in seiner kubanischen Heimat geradezu kultisch verehrt. Besonders beliebt sind jene kurzen Prosastücke, die das romantische Bild eines lebendigen, farbenfrohen Havanna wachhalten, den unvergänglichen Charme der Kolonialarchitektur preisen und dabei die verblassenden Slogans einer alt gewordenen Revolution mühelos überdauern. Als 1959 die bärtigen Comandantes die Macht auf dem Inselstaat übernahmen und die moderne kubanische Architektur die letzte Phase ihres ungewöhnlichen Aufschwungs erlebte, schrieb Carpentier den Aufsatz «Stadt der Paläste», eine Verklärung von Havannas vergangener Grösse. Auch die 1964 veröffentlichte «Stadt der Säulen» verlor kein Wort über die Modernen, obwohl im gleichen Jahr Fidel Castro das Totenglöcklein für das letzte ambitiöse Architekturprojekt läutete - Ricardo Porros Nationale Kunstschule, ein Ensemble aus Kuppel- und Tonnengewölben, das kurz vor seiner Vollendung aufgegeben werden musste (NZZ 9. 2. 02). Carpentier hatte schon früh geahnt, dass die museale Konservierung Havannas den touristischen Erwartungen am besten entspricht. Vergessen die Zeit, als Richard Neutra und Roberto Burle Marx die 1958 prämierte Villa für Alfred de Schulthess bauten, vergessen Philip Johnsons Entwurf für das Hotel Monaco und Mies van der Rohes Projekt für die Verwaltung von Bacardi, vergessen der prägende Einfluss von Le Corbusier und Frank Lloyd Wright auf die lokalen Architekten, vergessen die kubanische Sektion der Congrès internationaux d'architecture moderne (CIAM), vergessen auch die Neuordnungspläne für Habana del Este von Josep Lluís Sert und der Masterplan für die Altstadt von Ricardo Porro.


Fehlende Weitsicht

Während mittlerweile die Nationale Kunstschule in Cubanacán von der Natur zurückerobert wird, rüstet sich die Aktiengesellschaft Habaguanex unter der Leitung des Stadthistorikers Eusebio Spengler Leal, um das nostalgische Bild von La Habana Vieja wieder aufzufrischen. Leal hatte 1993 von Castro freie Hand bekommen, um durch einen Masterplan (Plan Maestro para la Revitalización Integral de La Habana Vieja) die besonders bedrohte Altstadt vor dem Verfall zu retten. Der Plan sieht neben der Umsiedlung von 20 000 Menschen in vorübergehende Wohneinheiten (comunidades transitorias) die Entkernung von Palästen und Wohnhäusern vor, die nach der Renovierung zumeist in Hotels, Bars und Boutiquen umgewandelt werden. Der Überschuss aus diesen Projekten fliesst schliesslich zurück in die finanzkräftige Habaguanex, die das Kapital in weitere Restaurierungen, Joint Ventures und in Dienstleistungsangebote - wie etwa Taxiunternehmen - investiert.

Natürlich erntet Leals Vorhaben viel Lob, da der schleichende Verfall der Altstadt als unabwendbar galt. Dabei wird allerdings übersehen, dass die vom Stadthistoriker initiierten Renovierungen die Kluft zwischen dem alten, unter Schuttmassen erstickenden Tagelöhnerviertel Jesús María, das inoffiziell zur «No-Go-Zone» erklärt wurde, und dem touristisch aufgewerteten Dreieck zwischen Plaza de la Catedral, Plaza de Armas und Plaza Vieja nur noch vergrösserten. Da die Kolonialarchitektur zweifellos die grösste Attraktion auf die Touristen ausübt, sollte kein avantgardistisches Bauexperiment das romantisierte Bild von La Habana Vieja eintrüben. Deswegen versteht Leal die Altstadtrestaurierung als einen «viaje en la memoria». So wurde etwa die Plaza Vieja, die noch vor einigen Jahren von einer Tiefgarage verunziert wurde, auf ausdrückliches Verlangen Leals in die Zeit der vierziger Jahre zurückversetzt. Nun präsentiert der Platz mit seinen schattenspendenden Arkaden und frisch renovierten Renaissance-Häusern im Zentrum ein schlichtes Denkmal, umgeben von einer polygonalen Gitterkonstruktion, die ebenso stupide wirkt wie die weiträumige Umfassung durch Kanonenkugeln. Kein Wunder, dass das von Carpentier so sehr gelobte «Schauspiel» auf den Strassen Havannas hier wie abgestorben wirkt.


Neuinterpretation der Altstadt

Als der exilkubanische Schriftsteller Iván de la Nuez vor kurzem in seine Heimatstadt zurückkehrte, fühlte er sich in das kolonialistische Havanna zurückversetzt: «Das Aussehen von Havanna ist das einer Stadt aus früheren Zeiten, beherrscht von der düsteren Architektur der Macht.» Auch ausländische Architekten, die Leals Restaurierungen jahrelang beobachtet haben, sind eher skeptisch. Natürlich ist es übertrieben, wenn sich Carl Pruscha an «Disneyland» erinnert fühlt, aber auch sein Wiener Kollege Wolf Prix erkennt den «kapitalistischen Virus», der in Havanna um sich greift: «Es entstehen Touristenfallen, während zur gleichen Zeit die Bewohner ausquartiert werden.» Prix beklagt das Fehlen einer Vision für ein neues Havanna. Dabei glaubt er keineswegs an die Investitionen mächtiger Developer, die die Stadt binnen kurzer Zeit ruinieren würden. Vielmehr favorisiert er eine «sanfte» Veränderung, ein Low-Budget-Unternehmen und die Kreativität der Bevölkerung.

In diese Richtung geht ein Vorschlag des New Yorker Architekten Lebbeus Woods: Sein Projekt für den Malecón sieht eine sechs Kilometer lange Befestigungsmauer aus Beton vor, die den Schutz vor den gefährlichen Stürmen verbessern, aber auch das städtische Leben ans Meer heranführen soll. Woods unterstreicht den Vorteil dieses Projekts für eine Stadt wie Havanna: «Die ganze Bevölkerung könnte den Wall bauen und danach auch für seine Instandhaltung sorgen.» Woods hat diesen Entwurf vor sieben Jahren im Rahmen des «Havanna Project» erarbeitet. Auch Wolf Prix, Carl Pruscha, Peter Noever, Eric Owen Moss, Thom Mayne und Carme Pinós waren damals an dem Projekt beteiligt, das für verschiedene Bezirke von La Habana Vieja neue, völlig ungewöhnliche Vorschläge diskutierte. Doch sie wurden ebenso wenig ernst genommen wie die Modelle, die Woods und Moss im Januar 2000 in der Altstadt präsentierten.

Die einzige Nische, die man derzeit der Gegenwartsarchitektur zugesteht, ist ihr eingeschränktes Dasein in Ideenwettbewerben. Immerhin wecken die hier entstandenen Entwürfe eine Ahnung davon, dass «die kubanischen Architekten» - wie Wolf Prix meint - «einmal die besten der Welt» waren. Davon zeugt ein kürzlich in Havanna veranstalteter Wettbewerb, der sich mit punktuellen Eingriffen in drei städtischen Zonen beschäftigte. Ausdrücklich wurde verlangt, die historische Stadt mit den Mitteln zeitgenössischer Baukunst neu zu interpretieren. Dem vom andalusischen Ministerium für Bauen und Wohnen sowie vom Amt des Stadthistorikers ausgelobten Wettbewerb sassen unter anderem Antonio Cruz (Sevilla) und Eusebio Leal vor. Die prämierten Entwürfe überzeugen insgesamt durch eine flexible Raumorganisation - durch umlaufende Galerietrakte, auskragende Wohneinheiten, diagonal verlaufende, geschossverbindende Brandtreppen und eine maschenförmige Vernetzung von Wohnflächen und Patios. Von Anbiederung an das historische Stadtbild keine Spur.

Ein in Santiago de Compostela veranstalteter Wettbewerb setzte dagegen Akzente für die zukünftige Entwicklung verschiedener lateinamerikanischer Städte. Bei den für Santiago de Cuba vorgestellten Entwürfen wird deutlich, dass die von Woods und Prix favorisierten Low-Budget- Modelle durchaus in der Lage sind, der strapazierten Hafenregion der südkubanischen Stadt durch ein ökologisches Konzept neue, überzeugende Nutzungen zu geben. Jurymitglied Roberto Segre meint denn auch, «viele junge Architekten fühlen sich von dem historischen Erbe befreit und verfolgen ein architektonisches und urbanistisches Konzept, das dem Lateinamerika des 21. Jahrhunderts entspricht». Iván de la Nuez spricht sogar von einer «neuen kubanischen Architektur». Allerdings fügt er hinzu, dass den Erben eines Ricardo Porro, Mario Romañach, Max Borges Recio und Nicolás Quintana nichts anderes übrig bleibt, als den Traum eines fiktiven Havanna im Exil fortzuspinnen.


[ Architekturbiennale in Havanna
zz. Vor einem Jahr wurde in Havanna die Initiative zur Durchführung einer Architekturbiennale ergriffen, die dank der Einwilligung des Kulturministeriums im März zur ersten Veranstaltung dieser Art auf Kuba führte. Zu sehen waren neben der Präsentation von Architekturfilmen und Architekturbüchern auch Ausstellungen zum Urbanismus im historischen Havanna sowie zur kubanischen Baukunst im 20. Jahrhundert. Die nächste Architekturbiennale soll im Jahr 2004 stattfinden. ]

18. Juni 2002 Neue Zürcher Zeitung

Der neue Paseo del Prado

Ein Projekt von Alvaro Siza

Madrid rüstet architektonisch und städtebaulich auf: Rafael Moneo baut eine Erweiterung des Prado, Jean Nouvel widmet sich dem Anbau des Centro de Arte Reina Sofia, und Juan Navarro Baldeweg errichtet das neue Teatro del Canal. Nun hat ein weiterer Stararchitekt einen illustren Wettbewerb gewonnen. Der Portugiese Alvaro Siza wird in den nächsten Jahren den Paseo del Prado im Herzen der Hauptstadt völlig neu gestalten. Die bis anhin lärmende und fussgängerfeindliche Verkehrsachse, die den Atocha-Bahnhof mit der Plaza Cibeles verbindet und am Botanischen Garten, am Prado und am Thyssen- Museum vorbeiführt, soll beruhigt werden. Siza, der sich gegenüber Carlos Ferrater, Rubio Carvajal & Alvarez Sala sowie der Gruppe Debates Urbanos durchsetzte, konnte die Jury mit einem beeindruckenden und dennoch sparsamen Entwurf überzeugen. Er will den Verkehrsfluss des Paseo del Prado neu verteilen, die Anbindung an die angrenzenden Viertel und den Botanischen Garten verstärken und gleichzeitig die Strasse erweitern, die im Mittelbereich einen breiten öffentlichen Raum, einen grünen Parkstreifen für Spaziergänger, erhalten soll. Durch landschaftsarchitektonische Mittel möchte Siza einen parkähnlichen Boulevard gestalten und damit «die städtische Qualität verbessern».

25. März 2002 Neue Zürcher Zeitung

Zukunft für Industriebauten

Projekte von Koolhaas für das Ruhrgebiet

Kaum war die Guggenheim Dependance von Rem Koolhaas in Las Vegas eröffnet worden, da wurde bekannt, dass er in Dallas ein Theater und in Los Angeles das County Museum of Art bauen wird. Und nun ist der unentwegt zwischen den Kontinenten pendelnde Architekt auch im «Ruhrpott» gelandet, um dort zwei anspruchsvolle Projekte zu verwirklichen. Koolhaas präsentierte kürzlich einen Plan für die Neuordnung der Essener Zeche Zollverein und einen «Dekonstruktionsplan» für die Henrichshütte in Hattingen. Die legendäre Zeche, einst im «Bauhaus-Stil» errichtet und als Folge des Strukturwandels 1993 geschlossen, gilt mittlerweile als Aushängeschild der IBA Emscher Park und seit kurzem sogar als Unesco-Weltkulturerbe. Koolhaas schlug vor, einen «Economy Ring» um das Industriedenkmal zu legen: Von zwei auf einer Symmetrieachse verteilten Design-Gewerbeparks erhofft er sich spannungsvolle Beziehungen zu einem Kongressgebäude, einem Bildungszentrum und dem Ruhrmuseum. Schliesslich sollen eine «Design School Zollverein» und ein periodisch auszurichtendes «Weltforum des Design» («Metaform») den Masterplan komplettieren. Damit nicht genug: Der «Dekonstruktionsplan» des Rotterdamer Architekten sieht zudem für die stillgelegte Henrichshütte Hattingen die Rückverwandlung des Stahlwerks vor. Koolhaas nennt dies ein «Rückbaukunstwerk».

6. März 2002 Neue Zürcher Zeitung

Atmende Architektur

Ein Sammelband über Bruno Taut

Im Jahre 1924 erschien in Magdeburg eine Ansichtskarte mit belebtem Marktplatz, zackig ornamentierten Warenhäusern und farbig angemaltem Rathaus. Der «Gruss vom bunten Magdeburg» zeigt eine Stadt im Fluss der Veränderung. Die wohlwollende Karikatur zielte auf den künstlerischen Reformeifer, den der neue Stadtbaurat Bruno Taut bei seiner Aktion «Farbiges Magdeburg» entwickelte. Der ungebremste Aufbruchswille, den Taut seit dem Amtsantritt zusammen mit seinem Mitarbeiter Carl Krayl entfesselte, machte die Farbexperimente der zuvor eher grauen Stadt über die Landesgrenzen hinaus bekannt: Das Renaissance-Rathaus erhielt einen roten Farbanstrich, die Arbeitersiedlung «Reform» wurde ausgebaut und in ein buntes Kleid gehüllt, Hausfassaden wurden in Kunstwerke verwandelt, Krayls Pavillon der «Mitteldeutschen Ausstellung» zeigte sich auf der Höhe des expressionistischen Zeitgeistes, und sogar die Strassenbahn erschien, wie Ilja Ehrenburg fasziniert notierte, «prächtig gemustert wie ein Drache».

Im vorliegenden Taut-Sammelband beschreibt Regina Prinz die von Taut verordnete Verjüngungskur als «bewusstseinsweckende» Erziehungsmassnahme. Die Kampagne war allerdings nur ein kurzes Intermezzo, denn nach knapp drei Jahren fühlte sich der avantgardistische Stadtbaurat zu wichtigeren Aufgaben berufen. In der Reichshauptstadt widmete er sich den drängenden Wohnungsproblemen, und binnen kurzer Zeit avancierte er, wie Winfried Nerdinger schreibt, zum «bedeutendsten deutschen Wohnungsbauer im 20. Jahrhundert». Allein in Berlin errichtete Taut mehr als 10 000 Wohnungen. Dabei folgte er weniger dem rationalistischen Credo eines Mart Stam oder Ernst May als vielmehr dem Leitbild einer organischen Architektur: Die asymmetrischen Reihen des Siedlungsbaus sollten die fliessenden Bewegungen eines «atmenden Wesens» zum Ausdruck bringen.

Trotz seinem unbestrittenen Einfluss auf die Architektur der zwanziger Jahre geriet Bruno Taut in Vergessenheit. Erst 1960 machte ihn Ulrich Conrads, wenngleich als Vertreter der «phantastischen Architektur», im Westen wieder bekannt, während ihn Kurt Junghanns in der DDR als Vorläufer des sozialistischen Massenwohnungsbaus vereinnahmte. In Ostdeutschland wurde das Erbe Tauts erst nach der «Wende» von 1989 wieder lebendig: Magdeburg besann sich seines einstigen revolutionären Stadtbaurats und rekonstruierte den Farbanstrich seiner zu «grauen Steinkästen» (Taut) verkommenen Häuser. In dem Sammelband, der durch hervorragende Fotos besticht, sind sie in ihrem neu-alten Kleid zu bewundern.


[Bruno Taut. 1880-1938. Architekt zwischen Tradition und Avantgarde. Hrsg. Winfried Nerdinger. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 2001. 440 S., Fr 220.-.]

1. Februar 2002 Neue Zürcher Zeitung

Neuer Regierungssitz

Rafael Moneo baut in Santander

Im Frühjahr nächsten Jahres wird Rafael Moneo in Santander den neuen Sitz der kantabrischen Regionalverwaltung bauen. Der Spanier setzte sich in der Schlussrunde gegen vier prominente Konkurrenten durch - den Amerikaner Peter Eisenman, den Engländer David Chipperfield und die beiden Landsleute Carlos Ferrater und Jerónimo Junquera. Am Ende hatte er sogar ein leichtes Spiel, weil Eisenman seine dekonstruktivistische Splitterarchitektur über das vorgeschriebene Baugelände hinausragen liess. Für Moneo, der zurzeit mit der Erweiterung des Prado beauftragt ist, sprach sich zudem die Mehrheit von 6000 Teilnehmern einer Internetbefragung aus. Dass bei derartigen Abstimmungen die spanischen Stars sozusagen ein Heimspiel haben, wird sicherlich niemanden überraschen. Ob deswegen der raffinierte gläserne Kubus von Chipperfield chancenlos auf dem letzten Platz landete?

Dennoch gibt es an der Wahl Moneos, die der Regierungspräsident Martínez Sieso dieser Tage verkündet hat, nichts zu rütteln. Der Neubau, der das Grundstück des alten Regierungssitzes und einen angrenzenden Parkplatz besetzen soll, wird die urbane Lebensqualität verbessern. Moneo lindert den monumentalen Eindruck des aus einerdoppelschaligen Glasfassade bestehenden Prismas, indem er das Gebäude zur Hafenfront hin auskragen lässt und unter dem so entstandenen Portikus einen öffentlichen Platz schafft.

Nachdem Francisco Javier Sáenz de Oiza vor zwölf Jahren ein postmodernes Auditorium an Santanders pittoresker Bucht gebaut und so den Volkszorn geweckt hatte, scheinen sich nun die Wogen im Hafen von Puertochico geglättet zu haben. Moderne Architektur, zumindest in der moderaten Form Moneos, ist offenbar in Santander mehrheitsfähig geworden. Im mondänen Seebad San Sebastián hatte Moneo vor zwei Jahren sein «Kurhaus»-Auditorium überzeugend vor die Belle-Epoque-Gebäude der Uferpromenade gesetzt. Nun scheint es, als habe ihn das Glück auch in Santander nicht verlassen.

Publikationen

2019

Wie wir wohnen werden
Die Entwicklung der Wohnung und die Architektur von morgen

Die Städte wachsen, Mieten und Preise für Stadtwohnungen explodieren, der Platz in den Metropolen wird knapp. Auf dem Land werden Abwanderung und Leerstand beklagt. Wie kann es da erschwinglichen und menschenwürdigen Wohnraum für alle geben? Neue Wohnkonzepte sind gefragt – Stadtplaner und Architekten
Autor: Klaus Englert
Verlag: Reclam

2018

Barcelona Architekturführer

Barcelona ist ein Sehnsuchtsort für Touristen, ein Eldorado für Architekturbegeisterte. Aber Barcelona ist weit mehr. Mitten in einer Zeitenwende, in der sich die Stadt neue Ziele gesetzt hat, versucht dieser Architekturführer herauszufinden, was ihre nicht nachlassende Attraktivität ausmacht, was der
Autor: Klaus Englert
Verlag: DOM publishers