Artikel
Baukultur im Aufwind
Zeitgenössisches Architekturgeschehen in Genf
Die Entwicklung Genfs zu einem Drehkreuz von Finanzwelt und Verwaltung überschreitet die Grenzen der Stadt. Die mit dieser Dynamik verbundenen baulichen Aktivitäten verändern das Stadtbild und bewirken eine architektonische Weltoffenheit.
2. September 2005 - Margarita Sanoudo
Die Stärken Genfs liegen in seiner kulturellen Tradition und Internationalität. Baukünstlerisch hingegen gab sich die Weltstadt am Lac Léman lange verhalten. Doch seit den neunziger Jahren kann man neue architektonische und städtebauliche Impulse bemerken. Vor allem die Industrie und der Dienstleistungssektor entfalten bauliche Initiativen, bei denen Aspekte der Architektur und der Wirtschaftlichkeit im Vordergrund stehen. Dies zeigt sich besonders schön an den Beispielen einer Quartiererweiterung, der Neugestaltung eines brachliegenden Industrieareals, der Transformation des Standortgebiets der Uhrenfabriken und mehrerer kleinerer Entwicklungszonen. Diese Projekte unterliegen zwar keiner klaren stadträumlichen Vision. Gleichwohl vermögen sie im grenzüberschreitenden urbanen Konglomerat Strategien für eine umfassende Zukunftsplanung zu verdeutlichen.
Urbanes Schulareal
Die Gemeinde Le Grand-Saconnex plant zurzeit neuen Wohnraum für rund 2500 Menschen auf einem zehn Hektaren grossen Entwicklungsareal. Während es sich bei den Wohnbauprojekten um banale Investorenarchitektur handelt, entschied sich die Gemeinde im Hinblick auf ein neues Schul- und Freizeitzentrum im Rahmen eines Wettbewerbs für das schlichte Projekt des in Genf tätigen Tessiner Architekten Lorenzo Lotti. Einen Massstab für den neuen Schulhausbau in Le Grand-Saconnex bildet das 1993 realisierte, mit grünlichem Schiefer verkleidete Schulhaus von Dévanthery & Lamunière. Ausgehend von dessen qualitativem Ansatz, konzipierte Lotti sein Zentrum. Dieses fügt sich ein zwischen den verschachtelten Dorfkern und die baumbestandene Bastion der Union Interparlementaire (UIP), für die Brauen & Waelchli unlängst einen naturbezogenen Anbau realisierten. In diesem städtebaulichen Geflecht soll nun Lottis nüchterne gläserne Tetralogie entstehen. Bereits rahmen drei körperhafte Kuben, gleichsam eine Mischung aus Tempel und Glaspalast, eine kulissenartige Plaza.
Die mit raumhohen, modularen Glaspaneelen gestaltete Fassade des Zentrums zieht sich ringförmig um Kindergarten, Schulbau und Sporthalle. Bald sind es klare, bald farbige Glasflächen, die sich nur scheinbar zufällig abwechseln. Zur Strasse hin dominiert Rot, zu den bepflanzten Aussenräumen hin schattiges Grün. Die grosszügig bemessene, offene Struktur der Bauten erzeugt eine lichte Räumlichkeit. Nach den Anforderungen des modernen Schulbaus entworfen, bietet dieses Bauwerk alternierend Gemeinschaftssäle und geschlossene Schulräume in linearen Sequenzen. Indem Lotti undogmatisch vorging und auf Transparenz zielte, gelang es ihm, visuelle Durchlässigkeit mit einer angenehmen urbanen Gesamtwirkung zu verbinden.
Verwandelte Industrieareale
Neue Entwicklungen bestimmen auch die Gebiete entlang der Geleisefelder. Sie wurden sowohl dank dem kosmetisch umgestalteten Bahnhofsplatz möglich als auch dank dem jüngst prämierten «optimistischen» Projekt der fünf von Jean Nouvel zusammen mit dem in Genf tätigen Architekten Eric Maria konzipierten Stationen der S-Bahn CEVA. Diese als unterirdische Lichtskulpturen entworfenen Haltestellen sollen die Realisierung einer grösseren, die Région franco- valdo-genevoise verbindenden Linie anregen.
Nicht weit vom Bahnhof, am Ufer von Perle- du-Lac, soll das Quartier Sécheron zu einem Zentrum «für herausragende Leistungen in der Forschung» umgewandelt werden, welches das neue Selbstverständnis der Metropole repräsentieren soll. Dabei lässt die als Alinghi-Sponsor bekannte Firma Serono - gleichsam in Anlehnung an den Basler Novartis-Campus - das ehemals von der Elektro- und Maschinenindustrie genutzte Areal vom Architekturbüro Jahn & Murphy aus Chicago zum Hauptsitz des weltweit tätigen Unternehmens für Biotechnologie und Pharmazeutik umgestalten. Dieser Campus, der den Übergang zwischen dem See, der internationalen Zone mit Uno-Gebäude und WTO-Hauptsitz, dem Botanischen Garten und der nordwestlich angrenzenden Gemeinde Le Grand-Saconnex bilden wird, könnte nach seiner Fertigstellung im Jahr 2006 die lange durch das ehemalige Industriegebiet blockierte Verbindung zum Bahnhof herstellen.
Im nahe der französischen Grenze im Südwesten von Genf gelegenen Quartier Plan-les-Ouates will die alteingesessene Genfer Uhrenindustrie die Vermarktung ihrer Luxusprodukte räumlich konzentrieren. Inmitten einer nur von Autobahnen erschlossenen Halbsteppe breitet sich eine multistrukturelle Industrie-Insel aus. Prestigebauwerke prägen eine organisatorisch und baulich in Raumsequenzen gegliederte Topographie. Die zur Verfügung stehenden Flächen werden einerseits von Firmen der neuen Technologien und von der chemisch-pharmazeutischen Industrie, anderseits von der Uhrenindustrie besetzt. Während sich der Bau von Rolex in nachtschwarzer, massiver Glaskonstruktion attraktiv präsentiert, werden die Firmensitze Piaget und Patek Philippe von kommerzieller Architektur geprägt. Als architektonisch bedeutendster Bau darf die Erweiterung des Sitzes der Uhrenmanufaktur Vacheron Constantin bezeichnet werden. Der von dem Lausanner Architekten Bernard Tschumi neu gestaltete Firmenhauptsitz beherrscht als Blickfang das gesamte Industrieareal. Die sanft geschwungene, an einen drapierten Schleier erinnernde Metallhülle steigt als fliessende Geste scheinbar schwerelos vom Erdboden zum Himmel empor. Virtuos auf sich bezogen, bildet sie einen Kontrast zur umgebenden Landschaft zwischen dem Salève und den Jurahöhen.
Ganzheitliche Sichtweise
Im Zuge eines stetigen Urbanisationsprozesses entstehen an zentralen und peripheren Lagen weitere Banken- und Firmenareale. Zu nennen wären etwa der 1996 errichtete, monolithisch- burgartige Zwillingsturm der ING-Bank im Quartier Eaux-Vives von Mario Botta oder der kurz vor der Fertigstellung stehende Firmensitz der Bank Pictet in Acacias. Dessen filigrane Glasfassade, die vom Genfer Andrea Bassi gestaltet wurde, wirkt zeitlos elegant. Gegenwärtig realisieren ausserdem Jean Nouvel und Eric Maria im einstigen Nobelvorort Bellevue einen Neubau für den internationalen Sitz des Luxusgüterkonzerns Richemont, zu dem Marken wie Baume & Mercier, Cartier, IWC, Montblanc und Vacheron Constantin gehören. Im Bau befindlich ist an idyllischer Seeuferlage mit altem Zedernbestand ein transparentes, pavillonartiges Glasgebäude, das sich auf alte Holzchalets bezieht und von der Vegetation durchdrungen wird. Zusammen mit den mit Pflanzenmotiven bedruckten Glasfassaden soll es die Landschaft verzaubern.
Ob diese überwiegend privat initiierten Projekte trotz ihrer Ausdruckskraft eine baukulturelle Wende einleiten werden, bleibt abzuwarten. Denn ihr Zusammenhang mit dem Stadtganzen ist nicht klar. Interessante Realisierungen können nämlich sowohl das Stadtgefüge auseinander dividieren als auch zu einem Erstarken der Baukultur und zur Stadtentwicklung beitragen. Für die Stadtentwicklung ist nicht die Addition der Planungen entscheidend, sondern die Gestaltung des Gesamtbildes und dessen programmatische Entfaltung. Daher sollte die Stadtplanung künftig bestrebt sein, Interventionen durch zweckmässige Ordnung und formschöne Bauten in die Stadtlandschaft einzubinden und diese damit aufzuwerten. Gleichzeitig sollte sie öffentliche Bauprojekte von hohem Niveau zugunsten eines urbanen, kulturellen und gesellschaftlichen Lebens fördern. Die Realisierungen verheissungsvoller Wettbewerbe wie desjenigen für die Umgestaltung der Place des Nations, der 1995 von Massimiliano Fuksas gewonnen wurde und zu der Grössen wie Peter Eisenman und Rem Koolhaas Bauten beitragen sollten, oder für den Erweiterungsbau des Musée d'art et d'histoire, den Nouvel 1999 für sich entscheiden konnte, blieben bis heute - als unerfüllte Hoffnungen - offen. Wie weit seither die baukünstlerischen und baupolitischen Erneuerung fortgeschritten ist, dürfte sich demnächst bei den Resultaten des Wettbewerbs für den Fernsehturm der TSR in Plainpalais zeigen.
Urbanes Schulareal
Die Gemeinde Le Grand-Saconnex plant zurzeit neuen Wohnraum für rund 2500 Menschen auf einem zehn Hektaren grossen Entwicklungsareal. Während es sich bei den Wohnbauprojekten um banale Investorenarchitektur handelt, entschied sich die Gemeinde im Hinblick auf ein neues Schul- und Freizeitzentrum im Rahmen eines Wettbewerbs für das schlichte Projekt des in Genf tätigen Tessiner Architekten Lorenzo Lotti. Einen Massstab für den neuen Schulhausbau in Le Grand-Saconnex bildet das 1993 realisierte, mit grünlichem Schiefer verkleidete Schulhaus von Dévanthery & Lamunière. Ausgehend von dessen qualitativem Ansatz, konzipierte Lotti sein Zentrum. Dieses fügt sich ein zwischen den verschachtelten Dorfkern und die baumbestandene Bastion der Union Interparlementaire (UIP), für die Brauen & Waelchli unlängst einen naturbezogenen Anbau realisierten. In diesem städtebaulichen Geflecht soll nun Lottis nüchterne gläserne Tetralogie entstehen. Bereits rahmen drei körperhafte Kuben, gleichsam eine Mischung aus Tempel und Glaspalast, eine kulissenartige Plaza.
Die mit raumhohen, modularen Glaspaneelen gestaltete Fassade des Zentrums zieht sich ringförmig um Kindergarten, Schulbau und Sporthalle. Bald sind es klare, bald farbige Glasflächen, die sich nur scheinbar zufällig abwechseln. Zur Strasse hin dominiert Rot, zu den bepflanzten Aussenräumen hin schattiges Grün. Die grosszügig bemessene, offene Struktur der Bauten erzeugt eine lichte Räumlichkeit. Nach den Anforderungen des modernen Schulbaus entworfen, bietet dieses Bauwerk alternierend Gemeinschaftssäle und geschlossene Schulräume in linearen Sequenzen. Indem Lotti undogmatisch vorging und auf Transparenz zielte, gelang es ihm, visuelle Durchlässigkeit mit einer angenehmen urbanen Gesamtwirkung zu verbinden.
Verwandelte Industrieareale
Neue Entwicklungen bestimmen auch die Gebiete entlang der Geleisefelder. Sie wurden sowohl dank dem kosmetisch umgestalteten Bahnhofsplatz möglich als auch dank dem jüngst prämierten «optimistischen» Projekt der fünf von Jean Nouvel zusammen mit dem in Genf tätigen Architekten Eric Maria konzipierten Stationen der S-Bahn CEVA. Diese als unterirdische Lichtskulpturen entworfenen Haltestellen sollen die Realisierung einer grösseren, die Région franco- valdo-genevoise verbindenden Linie anregen.
Nicht weit vom Bahnhof, am Ufer von Perle- du-Lac, soll das Quartier Sécheron zu einem Zentrum «für herausragende Leistungen in der Forschung» umgewandelt werden, welches das neue Selbstverständnis der Metropole repräsentieren soll. Dabei lässt die als Alinghi-Sponsor bekannte Firma Serono - gleichsam in Anlehnung an den Basler Novartis-Campus - das ehemals von der Elektro- und Maschinenindustrie genutzte Areal vom Architekturbüro Jahn & Murphy aus Chicago zum Hauptsitz des weltweit tätigen Unternehmens für Biotechnologie und Pharmazeutik umgestalten. Dieser Campus, der den Übergang zwischen dem See, der internationalen Zone mit Uno-Gebäude und WTO-Hauptsitz, dem Botanischen Garten und der nordwestlich angrenzenden Gemeinde Le Grand-Saconnex bilden wird, könnte nach seiner Fertigstellung im Jahr 2006 die lange durch das ehemalige Industriegebiet blockierte Verbindung zum Bahnhof herstellen.
Im nahe der französischen Grenze im Südwesten von Genf gelegenen Quartier Plan-les-Ouates will die alteingesessene Genfer Uhrenindustrie die Vermarktung ihrer Luxusprodukte räumlich konzentrieren. Inmitten einer nur von Autobahnen erschlossenen Halbsteppe breitet sich eine multistrukturelle Industrie-Insel aus. Prestigebauwerke prägen eine organisatorisch und baulich in Raumsequenzen gegliederte Topographie. Die zur Verfügung stehenden Flächen werden einerseits von Firmen der neuen Technologien und von der chemisch-pharmazeutischen Industrie, anderseits von der Uhrenindustrie besetzt. Während sich der Bau von Rolex in nachtschwarzer, massiver Glaskonstruktion attraktiv präsentiert, werden die Firmensitze Piaget und Patek Philippe von kommerzieller Architektur geprägt. Als architektonisch bedeutendster Bau darf die Erweiterung des Sitzes der Uhrenmanufaktur Vacheron Constantin bezeichnet werden. Der von dem Lausanner Architekten Bernard Tschumi neu gestaltete Firmenhauptsitz beherrscht als Blickfang das gesamte Industrieareal. Die sanft geschwungene, an einen drapierten Schleier erinnernde Metallhülle steigt als fliessende Geste scheinbar schwerelos vom Erdboden zum Himmel empor. Virtuos auf sich bezogen, bildet sie einen Kontrast zur umgebenden Landschaft zwischen dem Salève und den Jurahöhen.
Ganzheitliche Sichtweise
Im Zuge eines stetigen Urbanisationsprozesses entstehen an zentralen und peripheren Lagen weitere Banken- und Firmenareale. Zu nennen wären etwa der 1996 errichtete, monolithisch- burgartige Zwillingsturm der ING-Bank im Quartier Eaux-Vives von Mario Botta oder der kurz vor der Fertigstellung stehende Firmensitz der Bank Pictet in Acacias. Dessen filigrane Glasfassade, die vom Genfer Andrea Bassi gestaltet wurde, wirkt zeitlos elegant. Gegenwärtig realisieren ausserdem Jean Nouvel und Eric Maria im einstigen Nobelvorort Bellevue einen Neubau für den internationalen Sitz des Luxusgüterkonzerns Richemont, zu dem Marken wie Baume & Mercier, Cartier, IWC, Montblanc und Vacheron Constantin gehören. Im Bau befindlich ist an idyllischer Seeuferlage mit altem Zedernbestand ein transparentes, pavillonartiges Glasgebäude, das sich auf alte Holzchalets bezieht und von der Vegetation durchdrungen wird. Zusammen mit den mit Pflanzenmotiven bedruckten Glasfassaden soll es die Landschaft verzaubern.
Ob diese überwiegend privat initiierten Projekte trotz ihrer Ausdruckskraft eine baukulturelle Wende einleiten werden, bleibt abzuwarten. Denn ihr Zusammenhang mit dem Stadtganzen ist nicht klar. Interessante Realisierungen können nämlich sowohl das Stadtgefüge auseinander dividieren als auch zu einem Erstarken der Baukultur und zur Stadtentwicklung beitragen. Für die Stadtentwicklung ist nicht die Addition der Planungen entscheidend, sondern die Gestaltung des Gesamtbildes und dessen programmatische Entfaltung. Daher sollte die Stadtplanung künftig bestrebt sein, Interventionen durch zweckmässige Ordnung und formschöne Bauten in die Stadtlandschaft einzubinden und diese damit aufzuwerten. Gleichzeitig sollte sie öffentliche Bauprojekte von hohem Niveau zugunsten eines urbanen, kulturellen und gesellschaftlichen Lebens fördern. Die Realisierungen verheissungsvoller Wettbewerbe wie desjenigen für die Umgestaltung der Place des Nations, der 1995 von Massimiliano Fuksas gewonnen wurde und zu der Grössen wie Peter Eisenman und Rem Koolhaas Bauten beitragen sollten, oder für den Erweiterungsbau des Musée d'art et d'histoire, den Nouvel 1999 für sich entscheiden konnte, blieben bis heute - als unerfüllte Hoffnungen - offen. Wie weit seither die baukünstlerischen und baupolitischen Erneuerung fortgeschritten ist, dürfte sich demnächst bei den Resultaten des Wettbewerbs für den Fernsehturm der TSR in Plainpalais zeigen.
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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