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Terra incognita
Über den Dächern von Wien herrscht Goldgräberstimmung und Chaos. Denn die Dachlandschaft ist ein beliebtes Bauland - manche dürfen hier alles machen, was anderen wieder verwehrt wird. Das Ergebnis: eine Stadt voller schrecklicher historistischer Dachgauben.
10. September 2003 - Jan Tabor
Dachlandschaft ist ein schönes Wort. Die Dachlandschaft ist eine Kulturlandschaft, die auch von der natürlichen Topographie geprägt wird. Da Dächer und all das, was sie tragen, Werke der Architektur sind, ist die Dachlandschaft als Summe aller Dächer, Gebäudeteile und Türme Architektur. Daher bedarf sie der Pflege und der Baukultur. Von dem einen bekommt sie zu viel, von dem anderen fast gar nichts. Die Wiener Mischung aus Überversorgung und Unterversorgung ist verheerend.
Vor allem diese schrecklichen altneuen Dachgauben! Sie gehören sofort verboten. Wer es nicht glaubt, der soll sich die Marchettigasse im sechsten Bezirk anschauen. Eine Zeile von gut erhaltenen Biedermeierhäusern wurde hier denkmalpflegerisch mustergültig behandelt, die Dachgeschoße wurden ausgebaut und, damit die Einwohner zu ein wenig Tageslicht kommen, mit Dachgauben versehen. Die Zerstörung ist schlimmer, als es eine Demolierung gewesen wäre. Ähnliches spielt sich auf vielen Dächern ab.
An der gegenwärtigen architektonischen Kalamität in der Wiener Dachlandschaft sind Canaletto und dessen Blick auf die Stadt gänzlich unschuldig. Sein Blick auf Wien vom Belvedere aus gehört zu einer Serie von 13 Ansichten Wiens und kaiserlicher Schlösser, die der Künstler im 18. Jahrhundert im Auftrag Maria Theresias schuf. Würde man die Gemälde Canalettos genau studieren, das mit der Freyung oder das berühmte Panoramabild von Wien, dann würde man feststellen, wie klein und selten Dachgauben einst waren. Meist bloß kleine Öffnungen für minimalen Luftzug und Lichteinfall, keines von diesen unförmigen und unwohnlichen Dachungetümen, die sich auf den Dächern fast überall dort verbreiten, wo Dachböden in Wohn- oder Büroräume umgebaut und Häuser aufgestockt werden. Das ist in Wien mittlerweile fast überall, aber vor allem dort, wo die Dächer das letzte verfügbare Bauland sind, im ersten Bezirk und den dicht bebauten Bezirken innerhalb des Gürtels. Nach den alten Gebäuden sind nun die aus dem 20. Jahrhundert an der Reihe, die Häuser am Stephansplatz, die Hotels Ambassador und Hilton. Zuletzt sorgten die Ausbaupläne rund um das Hotel Sacher für Aufregung in der Stadt: Das Traditionshaus wird mit zwei Dachetagen um etwa 2550 Quadratmeter vergrößert. Etwa dreißig Suiten, ein Fitnessraum und Büroflächen sollen in dem neuen Dachausbau untergebracht werden.
Und mit all den neuen Ausbauten wird Canaletto wieder gefragt. Damals, als der Canaletto-Blick erfunden wurde, stellte der von Maria Theresia aus Dresden nach Wien geholte sächsische Hofmaler Bernardo Bellotto, genannt Canaletto, in einem der nordöstlichen Gemächer des Oberen Belvederes seine kleine tragbare Camera obscura, eine Art Protofotokamera, auf. In schnellen und sicheren Bleistiftstrichen nahm er auf mehreren Blättern die wichtigsten Konturen des wunderschönen Stadtpanoramas von Wien auf. Die im Oberen Belvedere gezeichneten Entwurfskizzen klebte Canaletto dann später in seinem Atelier zu einer Vorlage zusammen, nach der er dann das 136 Zentimeter hohe und 214 Zentimeter lange Gemälde malte, das „Wien, vom Belvedere aus gesehen“ heißt und heute im Kunsthistorischen Museum der Stadt hängt.
Die Camera obscura ermöglichte jene minutiöse Übertragung der städtischen Wirklichkeiten, für die Canaletto noch heute bewundert wird. Allerdings war er kein Protofotograf, er war Künstler, und so weisen seine fotorealistisch wirkenden Gemälde zahlreiche kleine, aber erhebliche Abweichungen von der Wirklichkeit auf. Um Wien schöner zu machen, verringerte er etwa die Distanz zwischen den beiden Kuppelkirchen beträchtlich. So entstand der Canaletto-Blick, das obskure Instrument der modernen Stadtpanoramapflege in Wien.
Eingesetzt wurde dieses ungenaue Instrument - natürlich fehlt alles, was Wien seit damals zugefügt wurde, auch solche Kleinigkeiten wie die Ringstraße - zum ersten Mal im Kampf um die Aufstockung des Theaters Ronacher in der Seilerstätte. Das war Ende der Achtzigerjahre. Coop Himmelb(l)au gewannen den Wettbewerb für den Umbau des legendären Revuetheaters mit einem Entwurf, der vorsah, das neubarock-schwülstige Gründerzeitgebäude mit einem multifunktionellen mehrgeschoßigen Kulturzentrum für Jugendliche aufzustocken. Die Idee und ihre Umsetzung in dekonstruktivistische Architektur war genial, das Projekt zählt zu den besten von Coop Himmelb(l)au überhaupt.
Helmut Swiczinski erzählte damals, wie der für die Stadtbildpflege zuständige Magistratsbeamte die Auswirkung der Ronacher-Aufstockung auf das Panorama untersucht hatte: mit einer Reproduktion des Canaletto-Gemäldes in der Hand. So entstand der berüchtigte Canaletto-Blick. Wäre dieses Projekt verwirklicht worden, dann hätte man heute hier eine architektonische Sensation, vergleichbar mit dem Kunstmuseum von Gehry in Bilbao. Und Wien hätte eine gewaltige Anregung und einen ästhetischen Maßstab, wie mutig man mit der Bebauung der Dachlandschaft umgehen soll. Tatsächlich realisiert wurde dann 1983 der Dachbodenausbau für die Rechtsanwaltskanzlei in der Falkengasse - obwohl das Coop-Himmelb(l)auwerk wohl das einzige Stück Architektur in Wien nach 1945 ist, das als weltbedeutend gelten kann, ist es von der Straße aus kaum sichtbar.
Dass das revolutionäre Umbauprojekt fürs Ronacher nicht verwirklicht werden durfte und stattdessen eine so genannte sanfte, in Wirklichkeit mozartkugelsüße Renovierung vorgezogen wurde, ist ausschließlich der ästhetischen und kulturellen Feigheit der damaligen Stadtverwaltung zu verdanken. Wien wurde damals, in den Achtzigerjahren, als der Neohistorismus namens Postmoderne verpflichtend war, die Strategie der tourismusgerechten Rehistorisierung Wiens verordnet, die bis heute mit dem Unesco-Prädikat Weltkulturerbe sogar in verschärfter Form praktiziert wird: die Zersiedelung der Wiener Dachlandschaft.
Die Dachlandschaft und ihre neue Architektur samt den Regeln, unter denen sie entsteht, ist eine Terra incognita. Gleich neben der Albertina und der Staatsoper werden gegenwärtig zwei überaus prägnante Gebäude aufgestockt. Während das eine Gebäude, der Hanuschhof, mit einem riesigen Transparent versehen ist, auf dem stolz und selbstbewusst gezeigt wird, wie und von wem das Dach umgestaltet beziehungsweise verunstaltet wird und wie viel das Ganze kostet, handelte es sich bei der geplanten Aufstockung des Hotel Sacher lange Zeit eher um eine Geheimaktion. Obwohl das Sacher hinter der Oper liegt und viel weniger exponiert ist als der Hanuschhof, der auch von der Ringstraße zu sehen ist und die städtebauliche Kante zur Neuen Burg und dem Burggarten bildet, findet das Bauvorhaben mit den scheußlichen pseudohistorischen Eckaufbauten keinen stadtbildschützerischen Widerhall. Den verhältnismäßig moderaten Entwurf von Architekt Sepp Frank (dessen Name besonders lang geheim gehalten wurde) trifft jetzt die volle Wut der Öffentlichkeit, des Denkmalschutzes und der Stadtplanung. Der ursprüngliche Plan musste bereits reduziert werden - unverständlicherweise.
Die Wiener Dachlandschaft ist ein Bauland, das einige Besonderheiten aufweist. Die auffälligste ist die, dass manche machen dürfen, was anderen verwehrt wird. Warum das so ist, ist nicht zu ergründen. Die Dachlandschaft ist auch ein Zauberland. Sie ist, trotz einiger öffentlicher Aussichtspunkte wie dem Stephansturm, dem Oberen Belvedere oder dem Kahlenberg, schwer erreichbar, das heißt schwer zu sehen. Verglichen mit den Dächern von Paris, Rom oder Prag ist die Wiener Dachlandschaft keine dramatische, keine einzigartige. Sie ist sanft hügelig, mehr Prärie als Gebirge. Obwohl auch hier alles extrem reglementiert ist, herrschen in der Dachlandschaft andere Gesetze als in der Stadt unterhalb der Hauptgesimse. Hier herrschen Verhältnisse, die vergleichbar sind mit dem Wilden Westen zur Zeit des Goldrausches. Jeder ausbaubare Dachboden, jedes aufstockbare Haus eine Goldgrube.
Von Ausnahmen abgesehen, sind die meisten hier tätigen Architekten Nobodies, die lauter Nichtarchitektur produzieren. Sie reden sich gerne auf die Behörde aus, die ihnen die Nichtarchitektur im Namen des historischen Stadtbildes verordne. Unter den Namenlosen gibt es etliche Desperados, denen für Dächer, vor allem was die Interpretation der Bauordnung und Ausnützung der Möglichkeiten zur Bauordnung-Übertretung betrifft, atemberaubende Lösungen einfallen. Die haben zwar mit guter Architektur nichts zu tun, sind aber auf jeden Fall ehrlicher als die abscheulichen Gauben und anderen historistischen Kopien.
Wer immer mit dem Bauen in der Wiener Dachlandschaft befasst ist, das Denkmalamt, die Stadtverwaltung und die Architekten selbst, ist überfordert. Das meist machtlose Denkmalamt versucht zwar, die Desperados in Schach zu halten, aber jeder weiß, dass es nur mit Platzpatronen schießen kann. Wenn sie aber wirklich Macht haben, fällt den Denkmalschützern nichts anderes als Gauben ein. Meist einzeln, neuerdings aber in einer Form, in der das ganze Dach zu einer einzigen Gaube wird. Der Stadtplanung fehlt mittlerweile jede Übersicht, wie viele und welche Häuser aufgestockt und welche Dächer ausgebaut wurden.
Von Ausnahmen abgesehen fehlen vor allem Beispiele dafür, wie man mit den Dächern architektonisch richtig umgehen kann. Während das so genannte Bauen in alter Umgebung mit unzähligen hervorragenden Beispielen von namhaften Architekten aufwarten kann, wurde die Dachlandschaft den Nichtkennern überlassen. Beziehungsweise werden die Kenner derart unter Druck gesetzt, dass sie resignieren. Es finden keine architektonischen Wettbewerbe statt, die helfen könnten, die Fragen der Dachlandschaft-Architektur zu klären und neue Kriterien für den Umgang für die gewünschten Qualitäten aufzustellen. Es fehlen Diskussionen, die weiter gehen müssen, als nur dem medialen Ruf nach Verschärfung der bestehenden Bestimmungen und zusätzlichen Verboten zu entsprechen.
In Wirklichkeit muss nur eines geregelt werden: Die Geheimniskrämerei muss beendet und der Zugang von guten Architekten ermöglicht werden. Konkret heißt das: Auf exponierten Stellen und bei wichtigen Gebäuden sollen nur jene Aufstockungen bewilligt werden, die aus einem Wettbewerb hervorgegangen sind. Die bestehenden Bestimmungen müssten liberalisiert werden, damit auch wirklich fantasiereiche und mutige Lösungen möglich sind.
Verglichen mit anderen Großstädten, vor allem mit Paris, war eine intensive Nutzung des Dachgeschoßes in der traditionellen Nutzungsschichtung der Wiener Häuser nicht vorgesehen. Erst in der späten Gründerzeit und im Jugendstil wurden dort verstärkt Künstlerateliers errichtet, aber auch sie waren verhältnismäßig selten. Das Dachgeschoß galt traditionell als das schlechteste unter den guten Wohnungsgeschoßen (die Kellergeschoße ausgenommen). Selbst die Einführung der Aufzüge änderte daran nichts. Der Ausblick, die Dachterrasse und andere Annehmlichkeiten der Dachgeschoßwohnungen zählten bis in die Sechzigerjahre nur wenig.
1960 setzte dann die Abwanderung der Stadtbevölkerung aus der Innenstadt ein. Um dem entgegenzuwirken, startete die Gemeinde Wien 1976 die „Wiener Dachbodenaktion“, die rasch sehr erfolgreich wurde. Neben den finanziellen Anreizen durch die Förderung der Dachausbauten wirkte sich die Trendumkehr aus - die Großstadt wurde wieder entdeckt. Die bis dahin ruhige, beschauliche Wiener Dachlandschaft ist seither in Bewegung. Die Aufstockungen, zu denen faktisch auch die Dachbodenausbauten gezählt werden müssen, wurden von den Stadtplanern als „innere Stadterweiterung“ bezeichnet. In ihrer 2002 erstellten Studie „Die Zukunft des gründerzeitlichen Wien“ bezeichnen die Stadtforscher Gottfried Pirhofer und Rudolf Kohoutek diesen Begriff als paradox und irreführend. „Die urbane Ästhetik von Wien ist in der Dachzone von großer Zurückhaltung bis Langeweile geprägt, die möglicherweise vor allem der Bauordnung nach den großen Bränden geschuldet ist, die jegliche Nutzung der Dachzonen (mit Mansarden etc.) untersagte“, schreiben sie. Und die beliebten Dachgauben nennen sie „antiurbane und Wien-fremde Elemente“.
Vor allem diese schrecklichen altneuen Dachgauben! Sie gehören sofort verboten. Wer es nicht glaubt, der soll sich die Marchettigasse im sechsten Bezirk anschauen. Eine Zeile von gut erhaltenen Biedermeierhäusern wurde hier denkmalpflegerisch mustergültig behandelt, die Dachgeschoße wurden ausgebaut und, damit die Einwohner zu ein wenig Tageslicht kommen, mit Dachgauben versehen. Die Zerstörung ist schlimmer, als es eine Demolierung gewesen wäre. Ähnliches spielt sich auf vielen Dächern ab.
An der gegenwärtigen architektonischen Kalamität in der Wiener Dachlandschaft sind Canaletto und dessen Blick auf die Stadt gänzlich unschuldig. Sein Blick auf Wien vom Belvedere aus gehört zu einer Serie von 13 Ansichten Wiens und kaiserlicher Schlösser, die der Künstler im 18. Jahrhundert im Auftrag Maria Theresias schuf. Würde man die Gemälde Canalettos genau studieren, das mit der Freyung oder das berühmte Panoramabild von Wien, dann würde man feststellen, wie klein und selten Dachgauben einst waren. Meist bloß kleine Öffnungen für minimalen Luftzug und Lichteinfall, keines von diesen unförmigen und unwohnlichen Dachungetümen, die sich auf den Dächern fast überall dort verbreiten, wo Dachböden in Wohn- oder Büroräume umgebaut und Häuser aufgestockt werden. Das ist in Wien mittlerweile fast überall, aber vor allem dort, wo die Dächer das letzte verfügbare Bauland sind, im ersten Bezirk und den dicht bebauten Bezirken innerhalb des Gürtels. Nach den alten Gebäuden sind nun die aus dem 20. Jahrhundert an der Reihe, die Häuser am Stephansplatz, die Hotels Ambassador und Hilton. Zuletzt sorgten die Ausbaupläne rund um das Hotel Sacher für Aufregung in der Stadt: Das Traditionshaus wird mit zwei Dachetagen um etwa 2550 Quadratmeter vergrößert. Etwa dreißig Suiten, ein Fitnessraum und Büroflächen sollen in dem neuen Dachausbau untergebracht werden.
Und mit all den neuen Ausbauten wird Canaletto wieder gefragt. Damals, als der Canaletto-Blick erfunden wurde, stellte der von Maria Theresia aus Dresden nach Wien geholte sächsische Hofmaler Bernardo Bellotto, genannt Canaletto, in einem der nordöstlichen Gemächer des Oberen Belvederes seine kleine tragbare Camera obscura, eine Art Protofotokamera, auf. In schnellen und sicheren Bleistiftstrichen nahm er auf mehreren Blättern die wichtigsten Konturen des wunderschönen Stadtpanoramas von Wien auf. Die im Oberen Belvedere gezeichneten Entwurfskizzen klebte Canaletto dann später in seinem Atelier zu einer Vorlage zusammen, nach der er dann das 136 Zentimeter hohe und 214 Zentimeter lange Gemälde malte, das „Wien, vom Belvedere aus gesehen“ heißt und heute im Kunsthistorischen Museum der Stadt hängt.
Die Camera obscura ermöglichte jene minutiöse Übertragung der städtischen Wirklichkeiten, für die Canaletto noch heute bewundert wird. Allerdings war er kein Protofotograf, er war Künstler, und so weisen seine fotorealistisch wirkenden Gemälde zahlreiche kleine, aber erhebliche Abweichungen von der Wirklichkeit auf. Um Wien schöner zu machen, verringerte er etwa die Distanz zwischen den beiden Kuppelkirchen beträchtlich. So entstand der Canaletto-Blick, das obskure Instrument der modernen Stadtpanoramapflege in Wien.
Eingesetzt wurde dieses ungenaue Instrument - natürlich fehlt alles, was Wien seit damals zugefügt wurde, auch solche Kleinigkeiten wie die Ringstraße - zum ersten Mal im Kampf um die Aufstockung des Theaters Ronacher in der Seilerstätte. Das war Ende der Achtzigerjahre. Coop Himmelb(l)au gewannen den Wettbewerb für den Umbau des legendären Revuetheaters mit einem Entwurf, der vorsah, das neubarock-schwülstige Gründerzeitgebäude mit einem multifunktionellen mehrgeschoßigen Kulturzentrum für Jugendliche aufzustocken. Die Idee und ihre Umsetzung in dekonstruktivistische Architektur war genial, das Projekt zählt zu den besten von Coop Himmelb(l)au überhaupt.
Helmut Swiczinski erzählte damals, wie der für die Stadtbildpflege zuständige Magistratsbeamte die Auswirkung der Ronacher-Aufstockung auf das Panorama untersucht hatte: mit einer Reproduktion des Canaletto-Gemäldes in der Hand. So entstand der berüchtigte Canaletto-Blick. Wäre dieses Projekt verwirklicht worden, dann hätte man heute hier eine architektonische Sensation, vergleichbar mit dem Kunstmuseum von Gehry in Bilbao. Und Wien hätte eine gewaltige Anregung und einen ästhetischen Maßstab, wie mutig man mit der Bebauung der Dachlandschaft umgehen soll. Tatsächlich realisiert wurde dann 1983 der Dachbodenausbau für die Rechtsanwaltskanzlei in der Falkengasse - obwohl das Coop-Himmelb(l)auwerk wohl das einzige Stück Architektur in Wien nach 1945 ist, das als weltbedeutend gelten kann, ist es von der Straße aus kaum sichtbar.
Dass das revolutionäre Umbauprojekt fürs Ronacher nicht verwirklicht werden durfte und stattdessen eine so genannte sanfte, in Wirklichkeit mozartkugelsüße Renovierung vorgezogen wurde, ist ausschließlich der ästhetischen und kulturellen Feigheit der damaligen Stadtverwaltung zu verdanken. Wien wurde damals, in den Achtzigerjahren, als der Neohistorismus namens Postmoderne verpflichtend war, die Strategie der tourismusgerechten Rehistorisierung Wiens verordnet, die bis heute mit dem Unesco-Prädikat Weltkulturerbe sogar in verschärfter Form praktiziert wird: die Zersiedelung der Wiener Dachlandschaft.
Die Dachlandschaft und ihre neue Architektur samt den Regeln, unter denen sie entsteht, ist eine Terra incognita. Gleich neben der Albertina und der Staatsoper werden gegenwärtig zwei überaus prägnante Gebäude aufgestockt. Während das eine Gebäude, der Hanuschhof, mit einem riesigen Transparent versehen ist, auf dem stolz und selbstbewusst gezeigt wird, wie und von wem das Dach umgestaltet beziehungsweise verunstaltet wird und wie viel das Ganze kostet, handelte es sich bei der geplanten Aufstockung des Hotel Sacher lange Zeit eher um eine Geheimaktion. Obwohl das Sacher hinter der Oper liegt und viel weniger exponiert ist als der Hanuschhof, der auch von der Ringstraße zu sehen ist und die städtebauliche Kante zur Neuen Burg und dem Burggarten bildet, findet das Bauvorhaben mit den scheußlichen pseudohistorischen Eckaufbauten keinen stadtbildschützerischen Widerhall. Den verhältnismäßig moderaten Entwurf von Architekt Sepp Frank (dessen Name besonders lang geheim gehalten wurde) trifft jetzt die volle Wut der Öffentlichkeit, des Denkmalschutzes und der Stadtplanung. Der ursprüngliche Plan musste bereits reduziert werden - unverständlicherweise.
Die Wiener Dachlandschaft ist ein Bauland, das einige Besonderheiten aufweist. Die auffälligste ist die, dass manche machen dürfen, was anderen verwehrt wird. Warum das so ist, ist nicht zu ergründen. Die Dachlandschaft ist auch ein Zauberland. Sie ist, trotz einiger öffentlicher Aussichtspunkte wie dem Stephansturm, dem Oberen Belvedere oder dem Kahlenberg, schwer erreichbar, das heißt schwer zu sehen. Verglichen mit den Dächern von Paris, Rom oder Prag ist die Wiener Dachlandschaft keine dramatische, keine einzigartige. Sie ist sanft hügelig, mehr Prärie als Gebirge. Obwohl auch hier alles extrem reglementiert ist, herrschen in der Dachlandschaft andere Gesetze als in der Stadt unterhalb der Hauptgesimse. Hier herrschen Verhältnisse, die vergleichbar sind mit dem Wilden Westen zur Zeit des Goldrausches. Jeder ausbaubare Dachboden, jedes aufstockbare Haus eine Goldgrube.
Von Ausnahmen abgesehen, sind die meisten hier tätigen Architekten Nobodies, die lauter Nichtarchitektur produzieren. Sie reden sich gerne auf die Behörde aus, die ihnen die Nichtarchitektur im Namen des historischen Stadtbildes verordne. Unter den Namenlosen gibt es etliche Desperados, denen für Dächer, vor allem was die Interpretation der Bauordnung und Ausnützung der Möglichkeiten zur Bauordnung-Übertretung betrifft, atemberaubende Lösungen einfallen. Die haben zwar mit guter Architektur nichts zu tun, sind aber auf jeden Fall ehrlicher als die abscheulichen Gauben und anderen historistischen Kopien.
Wer immer mit dem Bauen in der Wiener Dachlandschaft befasst ist, das Denkmalamt, die Stadtverwaltung und die Architekten selbst, ist überfordert. Das meist machtlose Denkmalamt versucht zwar, die Desperados in Schach zu halten, aber jeder weiß, dass es nur mit Platzpatronen schießen kann. Wenn sie aber wirklich Macht haben, fällt den Denkmalschützern nichts anderes als Gauben ein. Meist einzeln, neuerdings aber in einer Form, in der das ganze Dach zu einer einzigen Gaube wird. Der Stadtplanung fehlt mittlerweile jede Übersicht, wie viele und welche Häuser aufgestockt und welche Dächer ausgebaut wurden.
Von Ausnahmen abgesehen fehlen vor allem Beispiele dafür, wie man mit den Dächern architektonisch richtig umgehen kann. Während das so genannte Bauen in alter Umgebung mit unzähligen hervorragenden Beispielen von namhaften Architekten aufwarten kann, wurde die Dachlandschaft den Nichtkennern überlassen. Beziehungsweise werden die Kenner derart unter Druck gesetzt, dass sie resignieren. Es finden keine architektonischen Wettbewerbe statt, die helfen könnten, die Fragen der Dachlandschaft-Architektur zu klären und neue Kriterien für den Umgang für die gewünschten Qualitäten aufzustellen. Es fehlen Diskussionen, die weiter gehen müssen, als nur dem medialen Ruf nach Verschärfung der bestehenden Bestimmungen und zusätzlichen Verboten zu entsprechen.
In Wirklichkeit muss nur eines geregelt werden: Die Geheimniskrämerei muss beendet und der Zugang von guten Architekten ermöglicht werden. Konkret heißt das: Auf exponierten Stellen und bei wichtigen Gebäuden sollen nur jene Aufstockungen bewilligt werden, die aus einem Wettbewerb hervorgegangen sind. Die bestehenden Bestimmungen müssten liberalisiert werden, damit auch wirklich fantasiereiche und mutige Lösungen möglich sind.
Verglichen mit anderen Großstädten, vor allem mit Paris, war eine intensive Nutzung des Dachgeschoßes in der traditionellen Nutzungsschichtung der Wiener Häuser nicht vorgesehen. Erst in der späten Gründerzeit und im Jugendstil wurden dort verstärkt Künstlerateliers errichtet, aber auch sie waren verhältnismäßig selten. Das Dachgeschoß galt traditionell als das schlechteste unter den guten Wohnungsgeschoßen (die Kellergeschoße ausgenommen). Selbst die Einführung der Aufzüge änderte daran nichts. Der Ausblick, die Dachterrasse und andere Annehmlichkeiten der Dachgeschoßwohnungen zählten bis in die Sechzigerjahre nur wenig.
1960 setzte dann die Abwanderung der Stadtbevölkerung aus der Innenstadt ein. Um dem entgegenzuwirken, startete die Gemeinde Wien 1976 die „Wiener Dachbodenaktion“, die rasch sehr erfolgreich wurde. Neben den finanziellen Anreizen durch die Förderung der Dachausbauten wirkte sich die Trendumkehr aus - die Großstadt wurde wieder entdeckt. Die bis dahin ruhige, beschauliche Wiener Dachlandschaft ist seither in Bewegung. Die Aufstockungen, zu denen faktisch auch die Dachbodenausbauten gezählt werden müssen, wurden von den Stadtplanern als „innere Stadterweiterung“ bezeichnet. In ihrer 2002 erstellten Studie „Die Zukunft des gründerzeitlichen Wien“ bezeichnen die Stadtforscher Gottfried Pirhofer und Rudolf Kohoutek diesen Begriff als paradox und irreführend. „Die urbane Ästhetik von Wien ist in der Dachzone von großer Zurückhaltung bis Langeweile geprägt, die möglicherweise vor allem der Bauordnung nach den großen Bränden geschuldet ist, die jegliche Nutzung der Dachzonen (mit Mansarden etc.) untersagte“, schreiben sie. Und die beliebten Dachgauben nennen sie „antiurbane und Wien-fremde Elemente“.
Für den Beitrag verantwortlich: Falter
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