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Futuristische Himmelsleitern
Neue Zürcher Zeitung

New York feiert Santiago Calatrava mit einer Retrospektive

Baum, Vogel, Auge, Frucht - der in Zürich tätige spanische Architekt Santiago Calatrava findet Form und Struktur für seine Gebäude in der Natur. Die Anatomie ist die wichtigste Quelle seiner vibrierenden Architektur, Skelett und Flügel sind die Hauptwörter seines stilistischen Vokabulars. Und so sehen auch seine Bauten aus, als seien sie permanent in Bewegung. Calatravas Entwürfe stellen eine Verbindung her zwischen Himmel und Erde, manche schweben am Horizont wie geblähte Segel.

16. November 2005 - Andrea Köhler
Die elegante kleine Retrospektive im Metropolitan Museum in New York zeigt neben den architektonischen Miniaturmodellen auch Calatravas Skizzenbücher und Skulpturen; es ist seit 27 Jahren die erste Schau, die das Museum einem lebenden Architekten gewidmet hat. Calatravas Marmor- und Bronzeskulpturen sind so etwas wie künstlerische Vorentwürfe für seine Bauten. Man kann anhand dieser - an Brancusi erinnernden - Objekte den Übersetzungsvorgang studieren, in dem Natur in die Abstraktionen der Kunst und die künstlerische Essenz wiederum in eine die Natur imitierende Architektur umgewandelt wird. Besonders die schnellen Bewohner der Äste sind dem Künstler eine Quelle der Inspiration. Sein Flughafenbahnhof in Lyon (1994) war im ersten Vorentwurf ein Vogel aus Gold und Granit: die Skulptur «Bird 1» von 1986; die Konzerthalle in Teneriffa (2003) hat ihren Vorläufer in der Skulptur eines «entspringenden Blattes» von 1987.

Einem gestrandeten Riesenvogel gleichend, der auf Knopfdruck die Schwingen ausfährt, evoziert das Milwaukee Art Museum (2001) ein Echo aus vorsintflutlichen Zeiten und ist zugleich von radikaler Modernität. Der im Bau befindliche Umsteigebahnhof des World Trade Center zitiert die Anatomie eines Sauriergerippes und hebt gleichzeitig ab in eine urbane Vision, delikat und kraftvoll, sublim und extravagant zugleich. Die Alamilo-Brücke in Sevilla (1992) hat nicht nur die Seitenansicht einer gigantischen Harfe, sondern ist selbst so etwas wie eine ins Visuelle übersetzte Sphärenmusik. Besonders anhand der jeder Schwerkraft trotzenden Hochhausarchitektur aber geht einem auf, dass der Architekt eigentlich an einer Art futuristischer Himmelsleitern baut.

Wirken viele Wolkenkratzer wie in den Himmel gestemmt, so sind Calatravas Türme von berückender Transparenz. Einer Spirale gleich dreht sich der kürzlich vollendete Turning Torso in die Wolken von Malmö (NZZ 7. 10. 05), wie eine Treppe ins Blaue erklimmt der für New Yorks Lower East Side geplante 80 South Street Tower luftige Dimensionen. In Chicago plant der Architekt einen Apartment-Turm in Form eines Korkenziehers, der sich 115 Stockwerke in den Himmel schraubt. Sollte der Skyscraper am Lake Michigan realisiert werden, wird er das höchste Wohngebäude Amerikas und ein weiteres ambitioniertes Exempel des (besonders von Calatrava und Richard Meier beflügelten) Trends zum Schlafen in schwindelnden Höhen sein.

Die bemerkenswerte USA-Karriere des in Zürich ansässigen Architekten begann 1994 mit dem Auftrag zur Museumserweiterung in Milwaukee und führte über Chicago nach Downtown Manhattan, wo derzeit der Fernbahnhof des WTC entsteht. Die in puristischem Weiss gehaltenen Baldachine am Eingang des Bahnhofs sind bereits fertig gestellt; sie werden das Sonnenlicht bis zu zwanzig Meter tief in die Erde vorlassen und sind auch sonst der bisher einzige Lichtblick in dem Planungsdesaster, das Ground Zero zu einem offen gehaltenen Bauloch verdammt. Das filigrane Gewölbe auf dünnen Betonsprossen, das im Jahr 2008 fertig gestellt werden soll, scheint über dem Boden zu tanzen; bei schönem Wetter werden die Fenster sich öffnen, als ginge der Himmel auf.

[ Bis 5. März 2006 im Metropolitan Museum. Kein Katalog. ]

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