Artikel
Das verdrängte Gedächtnis der Postmoderne
Die architekturgeschichtliche Bedeutung von Robert Venturis „Entdeckung“ Roms
13. Dezember 2003 - Martino Stierli
Das Werk des 1925 geborenen amerikanischen Architekten Robert Venturi gilt - seinen eigenen Reserven zum Trotz - als wesentlicher Beitrag zur Genese der Postmoderne. Wenn die Forschung Venturis Kritik an einem als totalitär empfundenen Modernismus bisher vornehmlich vor dem amerikanischen Hintergrund interpretiert hat, so wurde übersehen, dass die Beschäftigung mit der europäischen Architektur deutliche Spuren in seiner intellektuellen Biografie hinterlassen hat. So wirft Venturis mutmassliche Konfrontation mit dem zeitgenössischen Bauen in Rom die Frage auf, wo die Geburtsstunde postmoderner Architektur angesetzt werden darf.
Der Name des amerikanischen Architekten und Theoretikers Robert Venturi wird in den Überblicksdarstellungen zur jüngeren Architekturgeschichte oft und gern mit dem Label der Postmoderne in Verbindung gebracht. Als Belege für die Richtigkeit dieser These werden mit Vorliebe Venturis frühe Bauten in Philadelphia angeführt, allen voran das Mother's House genannte Vanna Venturi House (1959-64) und das Guild House (1960-66). Fast noch grösseres Gewicht kommt dabei den beiden frühen Schriften aus der Feder Venturis und seiner Partner zu: „Complexity and Contradiction in Architecture“ von 1966 sowie „Learning from Las Vegas“, das sechs Jahre später eine Theorie des Städtebaus nachlieferte. Da hilft es wenig, dass Venturi sich in jüngster Zeit vehement von der Postmoderne distanziert und seine angebliche Vaterschaft dieser architektonischen Bewegung bestreitet. Man muss ihm die Reaktion nachsehen, ist postmoderne Architektur doch aus der Mode gekommen und das Kürzel „PoMo“ nachgerade zum Synonym schlechten Geschmacks geworden.
Anfänge der Postmoderne
Dabei hatte in den siebziger Jahren alles nach einem Aufbruch ausgesehen, als Autoren wie Charles Jencks unter dem Eindruck einer Reihe von (vornehmlich amerikanischen) Neubauten euphorisch den Beginn einer neuen Epoche in der Architektur verkündeten, die Schluss machen sollte mit der Tabula-rasa-Haltung der Avantgarde und stattdessen für eine Re-Inthronisierung von Tradition und historischem Bewusstsein plädierte. Jencks' Theorie der Postmoderne ging von einer hybriden, das heisst doppelt codierten Architektur aus: Sie verfügte über ein elitäres und ein populäres Register, appellierte also gleichzeitig an das Architekturverständnis der avantgardistischen Elite und der breiten Masse. Diese Theorie liess sich mühelos an einem Bau wie dem Guild House demonstrieren, an dem sich Allusionen sowohl an konventionelle Formeln des sozialen Wohnungsbaus als auch an die Palazzo-Architektur eines Palladio manifestieren.
Zwar stand auch Jencks der Position Venturis und seiner Partnerin Denise Scott Brown ambivalent gegenüber, liessen ihre Bauten seiner Meinung nach doch jenen „radikalen Inklusivismus“ vermissen, den er für die (wahre) postmoderne Architektur als grundlegend erachtete. Dennoch sah er im North Penn Visiting Nurses Association Headquarters (1961) das „erste Anti-Monument des Postmodernismus“. Während sich in der Folge die Geschichte der architektonischen Postmoderne mehr oder weniger entlang der von Jencks gesetzten Leitplanken fortschrieb, rückte „Complexity and Contradiction in Architecture“ zusehends in die Rolle eines Manifests der Postmoderne. Insbesondere die darin geäusserte Kritik am Dogmatismus des späten Modernismus der Nachkriegszeit und Venturis Transformation des Mies'schen Leitspruchs „Less is more“ in das kämpferische „Less is a bore“ - die er im Übrigen späterhin reumütig zurücknahm - schienen diese Interpretation zu rechtfertigen.
Venturi in Rom
Bei einem Blick auf die Rezeption ist augenfällig, dass Venturis Revision des Modernismus praktisch ausschliesslich vor dem amerikanischen Hintergrund interpretiert wurde. So galt (und gilt) sein Beitrag als Opposition zum strukturellen Expressionismus der amerikanischen Nachkriegsmoderne. Dabei ging jedoch vergessen, dass sich Venturis Position keineswegs auf die (aneignende oder ablehnende) Auseinandersetzung mit der amerikanischen architektonischen Kultur der Nachkriegszeit reduzieren lässt. Bereits Charles Jencks erblickte in Venturis „Historismus“ eine Parallele zur italienischen Architektur der fünfziger und sechziger Jahre, unterliess es jedoch, zwischen diesen beiden ein kausales Verhältnis herzustellen. Mit Blick auf Venturis Biografie lässt sich die These indessen radikalisieren, indem in der Tat ein direkter Zusammenhang zwischen der italienischen Architektur der fünfziger Jahre und Venturi belegt werden kann.
Anlass dazu gibt der Umstand, dass der Absolvent der Princeton University 1954 einen zweijährigen Aufenthalt an der American Academy in Rome (AAR) antrat. Schon darin äussert sich eine zum Modernismus kritische Gesinnung, hatte doch Le Corbusier 1922 in „Vers une architecture“ verlauten lassen: „Roms Lehre ist für die Weisen (. . .). Nach Rom Architekturstudenten zu schicken, heisst sie für ihr ganzes Leben zu ruinieren.“ Davon liess sich Venturi indessen nicht abschrecken - ganz im Gegenteil. Bereits im Rahmen einer Europareise im Jahr 1948 hatte sich ihm die Entdeckung Roms als unvergessliches Erlebnis so sehr eingeprägt, dass er bis heute den Tag seiner Ankunft mit einem jährlich wiederkehrenden Erinnerungsbesuch feiert!
Uneingestandene Erbschaften
Aus seiner Begeisterung für Rom hat Venturi nie ein Hehl gemacht. Bereits seine 1950 in Princeton abgelieferte Master's Thesis bezieht sich in diversen Beispielen auf die historische Architektur Roms, wobei der junge Architekt eine Affinität zum Barock mit seinen geschlossenen Platzkonzeptionen bewies. „Complexity and Contradiction in Architecture“ sodann lässt sich, obwohl in einem Abstand von zehn Jahren nach der Rückkehr aus Rom verfasst, als Verarbeitung der dort gewonnenen Eindrücke verstehen. Durch die Erläuterung historischer Beispiele zielt das Buch darauf ab, überzeitlich gültige kompositorische Regeln zu formulieren, die für das Bauen in der Gegenwart - Venturis eigene Architektur - relevant sind. Der Rekurs auf die Architekturgeschichte dient so als Strategie der Legitimation der eigenen ästhetischen Präferenzen.
Wie aber verhält es sich mit der behaupteten Beschäftigung Venturis mit der zeitgenössischen italienischen Architektur? Obwohl die Erinnerung den Architekten in diesem Punkt im Stich lässt, ist davon auszugehen, dass er sich sehr wohl für das Schaffen seiner italienischen Kollegen interessierte. Sowohl die Jahresberichte der AAR als auch die Korrespondenz Venturis mit seinen Eltern lassen diesen Schluss zweifelsfrei zu. Einen ersten Anknüpfungspunkt boten die Städtebauseminare des Istituto Nazionale di Urbanistica, zu denen auch die Stipendiaten der AAR eingeladen wurden. Im Rahmen dieser Veranstaltungen hatte Venturi die Möglichkeit, Einblick in die aktuellen Probleme der italienischen Architektur jener Jahre zu gewinnen und, seinen rudimentären Italienischkenntnissen zum Trotz, Bekanntschaft mit ihren wichtigsten Vertretern zu schliessen.
Von besonderer Bedeutung war indessen die Begegnung Venturis mit Ernesto Rogers. Der Mailänder Architekt betreute im akademischen Jahr 1954/55 die Stipendiaten der AAR bei der Ausarbeitung eines Projekts für neue Ateliers, die im Park des Sitzes der Institution situiert werden sollten. Venturis Aufzeichnungen belegen, dass sich als Folge dieser Begegnung ein freundschaftliches Verhältnis entspann. Sein Projekt wurde 1955 der Öffentlichkeit präsentiert. Rogers auf der anderen Seite machte seinen Einfluss auf die jungen amerikanischen Kollegen auch insofern geltend, als er ihnen im Rahmen von Exkursionen die neuere italienische Architektur näherbrachte.
Die Begegnung mit Ernesto Rogers wäre vielleicht nicht weiter bemerkenswert, müsste man den Mailänder Architekten nicht als eine der zentralen Figuren in der italienischen Architekturdiskussion der fünfziger Jahre bezeichnen. Als Herausgeber der einflussreichen Zeitschrift „Casabella Continuità“ wurde ihm ab 1953 beträchtliches Gehör zuteil. Noch in den dreissiger Jahren hatte „Casabella“ als Sprachrohr des Razionalismo gedient, und auch die frühen Bauten von Rogers (beziehungsweise BBPR) lassen sich in diesen Kontext einordnen. Obwohl das Epitheton „Continuità“ - es wird dem Zeitschriftentitel mit der Neulancierung beigefügt - dem Modernismus seine Reverenz zu erweisen scheint, lässt sich in Rogers' Leitartikeln die Genese einer zunehmend eigenständigen Position beobachten, die auf Distanz geht zum rationalistischen Erbe. Wichtig werden in der Argumentation nun Stichworte wie Tradition und historisches Bewusstsein. Der radikale Bruch der Moderne mit der Vergangenheit ist für Rogers problematisch geworden.
Zentral in der Beweisführung des Mailänders ist die Kritik am modernen Formalismus, dem er einen erweiterten Funktionalismusbegriff entgegensetzt. Demgemäss hat der funktional gestaltete Bau nicht nur, nach „moderner“ Manier, seine Konstruktion und sein (Raum-)Programm zum Ausdruck zu bringen, sondern - und das ist neu - zugleich seinen Ort im städtischen und historischen Kontext zu reflektieren. Gebautes Manifest dieser Kritik an den Dogmen des Modernismus ist die Torre Velasca von BBPR in Mailand (1958), die aufgrund ihrer formalen Reflexion des Kontexts Anlass zur Polemik aus dem Ausland bot. Als Wortführer unter den Kritikern figurierte Reyner Banham, der den Italienern lauthals den „Rückzug von der modernen Architektur“ vorwarf. Nach Rogers' Auffassung freilich hatten er und seine Kollegen nicht mit der Moderne gebrochen, sondern mit dem Funktionalismus erst richtig Ernst gemacht. Die historisch und kontextuell sensible Architektur sollte sich formal an einer „funktionalen“ Analyse der Gegebenheiten des gebauten Umfelds orientieren. Im Falle der Torre Velasca bestand der Bezugsrahmen etwa in den gotischen Formen der Mailänder Altstadt und im regionalen Bautypus des Geschlechterturms. Damit wurde der Universalitätsanspruch des International Style in Frage gestellt. Die Debatte um kontextualistisches Bauen der folgenden Jahrzehnte scheint somit bei Rogers vorweggenommen.
Damit ist der Verweis auf das architektonische Denken Venturis gemacht. Wie bei den Italienern ist für Venturi der Bezug auf Ort, Tradition und Architekturgeschichte von eminenter Bedeutung. In Kenntnis von Venturis Bekanntschaft mit Rogers liegt zumindest der Verdacht auf der Hand, dass diese grosse ideelle Nähe mehr als nur auf Zufall beruht. Obwohl Venturis Interesse am kontextuell sensiblen Bauen bereits für die Studienzeit verbürgt ist, darf man spekulieren, dass er im italienischen Umfeld eine Bestätigung seiner eigenen Überzeugungen fand, mehr noch: dass er sich die Überlegungen der Italiener zu eigen machte, um zu Hause für eine Relativierung eines Modernismus zu werben, dessen formale Verpflichtung auf die Industrieästhetik er als totalitär empfand. Jencks' These einer ideellen Verwandtschaft der italienischen Forschungen der fünfziger Jahre mit der Venturi-Schule erhält durch Venturis Biografie entscheidenden Auftrieb.
Pragmatismus und Utopie
Nicht nur Venturis „Kontextualismus“ ist indessen in der italienischen Architektur der fünfziger Jahre vorweggenommen. Gleiches lässt sich auch von seinem Interesse am „American vernacular“ behaupten. Dieses zeigt sich in „Learning from Las Vegas“, wo das „Commercial vernacular“ der amerikanischen Geschäftsstadt zum Ausgangspunkt der Theorie der „dekorierten Schuppen“ wird, aber auch in diversen Wohnhäusern der Venturis, die sich an traditionellen amerikanischen Bautypen orientieren und diese - mit den von der Pop-Art erprobten Mechanismen - gleichsam verfremden. So berufen sich die Trubek and Wislocki Houses explizit auf die anonyme Holzarchitektur von Nantucket Island.
Der Bezug auf volkstümliche Architekturformen erfreute sich unter dem Etikett des Neorealismo auch in der italienischen Nachkriegszeit grosser Beliebtheit. Seine Hauptvertreter - zu erwähnen sind etwa Mario Ridolfi und Ludovico Quaroni - verfolgten den Ansatz, um den vom Lande ankommenden Flüchtigen in den rapide expandierenden Vorstädten die pittoreske Illusion eines intakten Dorflebens zu gewähren. Bekanntes Beispiel ist das Römer Tiburtino-Quartier (1949-54). Monotonie und Wiederholung, als negative Charakteristika des Modernismus gebrandmarkt, werden hier zugunsten eines Eindrucks von Spontaneität und informeller Organisation vermieden. Gemeinsam ist Venturi und dem Neorealismo eine grundsätzliche Orientierung des Entwurfs an der real gebauten Umwelt - der ländlichen italienischen Architektur auf der einen Seite, dem „American vernacular“ auf der anderen. Während aber im Fall des Neorealismo von einer regressiven Utopie die Rede sein muss, versagt sich Venturi jeder Teleologie. Ausgangspunkt des Entwurfs ist keine wie auch immer geartete Idealvorstellung (etwa des intakten Dorflebens), sondern die spezifische, radikal sachbezogene Analyse der realen Gegebenheiten. Es stehen sich ein utopischer und ein pragmatischer Realismus gegenüber.
Eingestandene Erbschaften
Im Unterschied zu diesen Spekulationen zum ideellen Zusammenhang zwischen Venturis architektonischem Denken und den Themen der italienischen Architektur der fünfziger Jahre ist die Bedeutung des Werks Luigi Morettis für Venturi unbestritten. Das gilt insbesondere für die in „Complexity and Contradiction in Architecture“ explizit erwähnte Casa del Girasole (1947-50) in Rom, der die etwas frühere Casa Astrea (1947-49) jedoch kaum nachsteht. In der Tat lassen sich wichtige Merkmale der beiden frühen Hauptwerke Venturis, des Vanna Venturi House und des Guild House, als direkte Auseinandersetzung mit der Casa del Girasole lesen. Themen wie die Axialsymmetrie (in Auf- und Grundriss), die Zweiteilung der Fassade - Dualität als architektonisches Thema wird in Venturis Publikation explizit behandelt -, die historischen Allusionen sowie die Behandlung der Fassade in Form eines zweidimensionalen Screens (im Sinne eines Bildes über Architektur) sind Merkmale der Werke beider Architekten, die späterhin zu Merkmalen postmoderner Architektur schlechthin erklärt wurden. Venturis für die Postmoderne konstitutiven Frühwerke wären, so ist zu schliessen, ohne Morettis Exempel undenkbar. Mehr noch: Venturi als einen der einflussreichsten Vertreter der Architektur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hätte es ohne die Kenntnis der italienischen Architektur der fünfziger Jahre und ohne Luigi Moretti in dieser Form wohl nicht gegeben.
Genealogie der Postmoderne
Das führt abschliessend zurück zur Frage nach der Genealogie der Postmoderne. Wenn deren Apologeten insbesondere Venturis Frühwerk zum Kanon postmoderner Architektur zählen, muss aufgrund der aufgezeigten ideellen und formalen Korrespondenzen ein erheblicher Teil der italienischen Architektur der fünfziger Jahre in die Vorgeschichte der Postmoderne integriert werden. Will man aber die künstlerische Postmoderne - etwa mit Frederic Jameson - als Symptom eines grundlegenden gesellschaftlichen, kulturellen und ökonomischen Paradigmenwechsels verstehen, so ist diese Ausweitung problematisch, erfüllt doch die zur Diskussion stehende Dekade zentrale Voraussetzungen dafür nicht.
Mithin darf die Debatte um die architektonische Postmoderne nicht als abgeschlossen betrachtet werden, da sich die Theorie unter diesem Aspekt als defizitär erweist. Bei einem zukünftigen Definitionsversuch wäre in einem nächsten Schritt der Paradigmenwechsel einer Auffassung von Architektur als Raumkunst hin zu einer solchen als symbolisches Kommunikationssystem zu untersuchen, wie ihn die Venturis in „Learning from Las Vegas“ vollziehen. So könnte es gelingen, die Theorie der postmodernen Architektur in ein übergreifendes kulturtheoretisches Modell einzubinden.
Der Name des amerikanischen Architekten und Theoretikers Robert Venturi wird in den Überblicksdarstellungen zur jüngeren Architekturgeschichte oft und gern mit dem Label der Postmoderne in Verbindung gebracht. Als Belege für die Richtigkeit dieser These werden mit Vorliebe Venturis frühe Bauten in Philadelphia angeführt, allen voran das Mother's House genannte Vanna Venturi House (1959-64) und das Guild House (1960-66). Fast noch grösseres Gewicht kommt dabei den beiden frühen Schriften aus der Feder Venturis und seiner Partner zu: „Complexity and Contradiction in Architecture“ von 1966 sowie „Learning from Las Vegas“, das sechs Jahre später eine Theorie des Städtebaus nachlieferte. Da hilft es wenig, dass Venturi sich in jüngster Zeit vehement von der Postmoderne distanziert und seine angebliche Vaterschaft dieser architektonischen Bewegung bestreitet. Man muss ihm die Reaktion nachsehen, ist postmoderne Architektur doch aus der Mode gekommen und das Kürzel „PoMo“ nachgerade zum Synonym schlechten Geschmacks geworden.
Anfänge der Postmoderne
Dabei hatte in den siebziger Jahren alles nach einem Aufbruch ausgesehen, als Autoren wie Charles Jencks unter dem Eindruck einer Reihe von (vornehmlich amerikanischen) Neubauten euphorisch den Beginn einer neuen Epoche in der Architektur verkündeten, die Schluss machen sollte mit der Tabula-rasa-Haltung der Avantgarde und stattdessen für eine Re-Inthronisierung von Tradition und historischem Bewusstsein plädierte. Jencks' Theorie der Postmoderne ging von einer hybriden, das heisst doppelt codierten Architektur aus: Sie verfügte über ein elitäres und ein populäres Register, appellierte also gleichzeitig an das Architekturverständnis der avantgardistischen Elite und der breiten Masse. Diese Theorie liess sich mühelos an einem Bau wie dem Guild House demonstrieren, an dem sich Allusionen sowohl an konventionelle Formeln des sozialen Wohnungsbaus als auch an die Palazzo-Architektur eines Palladio manifestieren.
Zwar stand auch Jencks der Position Venturis und seiner Partnerin Denise Scott Brown ambivalent gegenüber, liessen ihre Bauten seiner Meinung nach doch jenen „radikalen Inklusivismus“ vermissen, den er für die (wahre) postmoderne Architektur als grundlegend erachtete. Dennoch sah er im North Penn Visiting Nurses Association Headquarters (1961) das „erste Anti-Monument des Postmodernismus“. Während sich in der Folge die Geschichte der architektonischen Postmoderne mehr oder weniger entlang der von Jencks gesetzten Leitplanken fortschrieb, rückte „Complexity and Contradiction in Architecture“ zusehends in die Rolle eines Manifests der Postmoderne. Insbesondere die darin geäusserte Kritik am Dogmatismus des späten Modernismus der Nachkriegszeit und Venturis Transformation des Mies'schen Leitspruchs „Less is more“ in das kämpferische „Less is a bore“ - die er im Übrigen späterhin reumütig zurücknahm - schienen diese Interpretation zu rechtfertigen.
Venturi in Rom
Bei einem Blick auf die Rezeption ist augenfällig, dass Venturis Revision des Modernismus praktisch ausschliesslich vor dem amerikanischen Hintergrund interpretiert wurde. So galt (und gilt) sein Beitrag als Opposition zum strukturellen Expressionismus der amerikanischen Nachkriegsmoderne. Dabei ging jedoch vergessen, dass sich Venturis Position keineswegs auf die (aneignende oder ablehnende) Auseinandersetzung mit der amerikanischen architektonischen Kultur der Nachkriegszeit reduzieren lässt. Bereits Charles Jencks erblickte in Venturis „Historismus“ eine Parallele zur italienischen Architektur der fünfziger und sechziger Jahre, unterliess es jedoch, zwischen diesen beiden ein kausales Verhältnis herzustellen. Mit Blick auf Venturis Biografie lässt sich die These indessen radikalisieren, indem in der Tat ein direkter Zusammenhang zwischen der italienischen Architektur der fünfziger Jahre und Venturi belegt werden kann.
Anlass dazu gibt der Umstand, dass der Absolvent der Princeton University 1954 einen zweijährigen Aufenthalt an der American Academy in Rome (AAR) antrat. Schon darin äussert sich eine zum Modernismus kritische Gesinnung, hatte doch Le Corbusier 1922 in „Vers une architecture“ verlauten lassen: „Roms Lehre ist für die Weisen (. . .). Nach Rom Architekturstudenten zu schicken, heisst sie für ihr ganzes Leben zu ruinieren.“ Davon liess sich Venturi indessen nicht abschrecken - ganz im Gegenteil. Bereits im Rahmen einer Europareise im Jahr 1948 hatte sich ihm die Entdeckung Roms als unvergessliches Erlebnis so sehr eingeprägt, dass er bis heute den Tag seiner Ankunft mit einem jährlich wiederkehrenden Erinnerungsbesuch feiert!
Uneingestandene Erbschaften
Aus seiner Begeisterung für Rom hat Venturi nie ein Hehl gemacht. Bereits seine 1950 in Princeton abgelieferte Master's Thesis bezieht sich in diversen Beispielen auf die historische Architektur Roms, wobei der junge Architekt eine Affinität zum Barock mit seinen geschlossenen Platzkonzeptionen bewies. „Complexity and Contradiction in Architecture“ sodann lässt sich, obwohl in einem Abstand von zehn Jahren nach der Rückkehr aus Rom verfasst, als Verarbeitung der dort gewonnenen Eindrücke verstehen. Durch die Erläuterung historischer Beispiele zielt das Buch darauf ab, überzeitlich gültige kompositorische Regeln zu formulieren, die für das Bauen in der Gegenwart - Venturis eigene Architektur - relevant sind. Der Rekurs auf die Architekturgeschichte dient so als Strategie der Legitimation der eigenen ästhetischen Präferenzen.
Wie aber verhält es sich mit der behaupteten Beschäftigung Venturis mit der zeitgenössischen italienischen Architektur? Obwohl die Erinnerung den Architekten in diesem Punkt im Stich lässt, ist davon auszugehen, dass er sich sehr wohl für das Schaffen seiner italienischen Kollegen interessierte. Sowohl die Jahresberichte der AAR als auch die Korrespondenz Venturis mit seinen Eltern lassen diesen Schluss zweifelsfrei zu. Einen ersten Anknüpfungspunkt boten die Städtebauseminare des Istituto Nazionale di Urbanistica, zu denen auch die Stipendiaten der AAR eingeladen wurden. Im Rahmen dieser Veranstaltungen hatte Venturi die Möglichkeit, Einblick in die aktuellen Probleme der italienischen Architektur jener Jahre zu gewinnen und, seinen rudimentären Italienischkenntnissen zum Trotz, Bekanntschaft mit ihren wichtigsten Vertretern zu schliessen.
Von besonderer Bedeutung war indessen die Begegnung Venturis mit Ernesto Rogers. Der Mailänder Architekt betreute im akademischen Jahr 1954/55 die Stipendiaten der AAR bei der Ausarbeitung eines Projekts für neue Ateliers, die im Park des Sitzes der Institution situiert werden sollten. Venturis Aufzeichnungen belegen, dass sich als Folge dieser Begegnung ein freundschaftliches Verhältnis entspann. Sein Projekt wurde 1955 der Öffentlichkeit präsentiert. Rogers auf der anderen Seite machte seinen Einfluss auf die jungen amerikanischen Kollegen auch insofern geltend, als er ihnen im Rahmen von Exkursionen die neuere italienische Architektur näherbrachte.
Die Begegnung mit Ernesto Rogers wäre vielleicht nicht weiter bemerkenswert, müsste man den Mailänder Architekten nicht als eine der zentralen Figuren in der italienischen Architekturdiskussion der fünfziger Jahre bezeichnen. Als Herausgeber der einflussreichen Zeitschrift „Casabella Continuità“ wurde ihm ab 1953 beträchtliches Gehör zuteil. Noch in den dreissiger Jahren hatte „Casabella“ als Sprachrohr des Razionalismo gedient, und auch die frühen Bauten von Rogers (beziehungsweise BBPR) lassen sich in diesen Kontext einordnen. Obwohl das Epitheton „Continuità“ - es wird dem Zeitschriftentitel mit der Neulancierung beigefügt - dem Modernismus seine Reverenz zu erweisen scheint, lässt sich in Rogers' Leitartikeln die Genese einer zunehmend eigenständigen Position beobachten, die auf Distanz geht zum rationalistischen Erbe. Wichtig werden in der Argumentation nun Stichworte wie Tradition und historisches Bewusstsein. Der radikale Bruch der Moderne mit der Vergangenheit ist für Rogers problematisch geworden.
Zentral in der Beweisführung des Mailänders ist die Kritik am modernen Formalismus, dem er einen erweiterten Funktionalismusbegriff entgegensetzt. Demgemäss hat der funktional gestaltete Bau nicht nur, nach „moderner“ Manier, seine Konstruktion und sein (Raum-)Programm zum Ausdruck zu bringen, sondern - und das ist neu - zugleich seinen Ort im städtischen und historischen Kontext zu reflektieren. Gebautes Manifest dieser Kritik an den Dogmen des Modernismus ist die Torre Velasca von BBPR in Mailand (1958), die aufgrund ihrer formalen Reflexion des Kontexts Anlass zur Polemik aus dem Ausland bot. Als Wortführer unter den Kritikern figurierte Reyner Banham, der den Italienern lauthals den „Rückzug von der modernen Architektur“ vorwarf. Nach Rogers' Auffassung freilich hatten er und seine Kollegen nicht mit der Moderne gebrochen, sondern mit dem Funktionalismus erst richtig Ernst gemacht. Die historisch und kontextuell sensible Architektur sollte sich formal an einer „funktionalen“ Analyse der Gegebenheiten des gebauten Umfelds orientieren. Im Falle der Torre Velasca bestand der Bezugsrahmen etwa in den gotischen Formen der Mailänder Altstadt und im regionalen Bautypus des Geschlechterturms. Damit wurde der Universalitätsanspruch des International Style in Frage gestellt. Die Debatte um kontextualistisches Bauen der folgenden Jahrzehnte scheint somit bei Rogers vorweggenommen.
Damit ist der Verweis auf das architektonische Denken Venturis gemacht. Wie bei den Italienern ist für Venturi der Bezug auf Ort, Tradition und Architekturgeschichte von eminenter Bedeutung. In Kenntnis von Venturis Bekanntschaft mit Rogers liegt zumindest der Verdacht auf der Hand, dass diese grosse ideelle Nähe mehr als nur auf Zufall beruht. Obwohl Venturis Interesse am kontextuell sensiblen Bauen bereits für die Studienzeit verbürgt ist, darf man spekulieren, dass er im italienischen Umfeld eine Bestätigung seiner eigenen Überzeugungen fand, mehr noch: dass er sich die Überlegungen der Italiener zu eigen machte, um zu Hause für eine Relativierung eines Modernismus zu werben, dessen formale Verpflichtung auf die Industrieästhetik er als totalitär empfand. Jencks' These einer ideellen Verwandtschaft der italienischen Forschungen der fünfziger Jahre mit der Venturi-Schule erhält durch Venturis Biografie entscheidenden Auftrieb.
Pragmatismus und Utopie
Nicht nur Venturis „Kontextualismus“ ist indessen in der italienischen Architektur der fünfziger Jahre vorweggenommen. Gleiches lässt sich auch von seinem Interesse am „American vernacular“ behaupten. Dieses zeigt sich in „Learning from Las Vegas“, wo das „Commercial vernacular“ der amerikanischen Geschäftsstadt zum Ausgangspunkt der Theorie der „dekorierten Schuppen“ wird, aber auch in diversen Wohnhäusern der Venturis, die sich an traditionellen amerikanischen Bautypen orientieren und diese - mit den von der Pop-Art erprobten Mechanismen - gleichsam verfremden. So berufen sich die Trubek and Wislocki Houses explizit auf die anonyme Holzarchitektur von Nantucket Island.
Der Bezug auf volkstümliche Architekturformen erfreute sich unter dem Etikett des Neorealismo auch in der italienischen Nachkriegszeit grosser Beliebtheit. Seine Hauptvertreter - zu erwähnen sind etwa Mario Ridolfi und Ludovico Quaroni - verfolgten den Ansatz, um den vom Lande ankommenden Flüchtigen in den rapide expandierenden Vorstädten die pittoreske Illusion eines intakten Dorflebens zu gewähren. Bekanntes Beispiel ist das Römer Tiburtino-Quartier (1949-54). Monotonie und Wiederholung, als negative Charakteristika des Modernismus gebrandmarkt, werden hier zugunsten eines Eindrucks von Spontaneität und informeller Organisation vermieden. Gemeinsam ist Venturi und dem Neorealismo eine grundsätzliche Orientierung des Entwurfs an der real gebauten Umwelt - der ländlichen italienischen Architektur auf der einen Seite, dem „American vernacular“ auf der anderen. Während aber im Fall des Neorealismo von einer regressiven Utopie die Rede sein muss, versagt sich Venturi jeder Teleologie. Ausgangspunkt des Entwurfs ist keine wie auch immer geartete Idealvorstellung (etwa des intakten Dorflebens), sondern die spezifische, radikal sachbezogene Analyse der realen Gegebenheiten. Es stehen sich ein utopischer und ein pragmatischer Realismus gegenüber.
Eingestandene Erbschaften
Im Unterschied zu diesen Spekulationen zum ideellen Zusammenhang zwischen Venturis architektonischem Denken und den Themen der italienischen Architektur der fünfziger Jahre ist die Bedeutung des Werks Luigi Morettis für Venturi unbestritten. Das gilt insbesondere für die in „Complexity and Contradiction in Architecture“ explizit erwähnte Casa del Girasole (1947-50) in Rom, der die etwas frühere Casa Astrea (1947-49) jedoch kaum nachsteht. In der Tat lassen sich wichtige Merkmale der beiden frühen Hauptwerke Venturis, des Vanna Venturi House und des Guild House, als direkte Auseinandersetzung mit der Casa del Girasole lesen. Themen wie die Axialsymmetrie (in Auf- und Grundriss), die Zweiteilung der Fassade - Dualität als architektonisches Thema wird in Venturis Publikation explizit behandelt -, die historischen Allusionen sowie die Behandlung der Fassade in Form eines zweidimensionalen Screens (im Sinne eines Bildes über Architektur) sind Merkmale der Werke beider Architekten, die späterhin zu Merkmalen postmoderner Architektur schlechthin erklärt wurden. Venturis für die Postmoderne konstitutiven Frühwerke wären, so ist zu schliessen, ohne Morettis Exempel undenkbar. Mehr noch: Venturi als einen der einflussreichsten Vertreter der Architektur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hätte es ohne die Kenntnis der italienischen Architektur der fünfziger Jahre und ohne Luigi Moretti in dieser Form wohl nicht gegeben.
Genealogie der Postmoderne
Das führt abschliessend zurück zur Frage nach der Genealogie der Postmoderne. Wenn deren Apologeten insbesondere Venturis Frühwerk zum Kanon postmoderner Architektur zählen, muss aufgrund der aufgezeigten ideellen und formalen Korrespondenzen ein erheblicher Teil der italienischen Architektur der fünfziger Jahre in die Vorgeschichte der Postmoderne integriert werden. Will man aber die künstlerische Postmoderne - etwa mit Frederic Jameson - als Symptom eines grundlegenden gesellschaftlichen, kulturellen und ökonomischen Paradigmenwechsels verstehen, so ist diese Ausweitung problematisch, erfüllt doch die zur Diskussion stehende Dekade zentrale Voraussetzungen dafür nicht.
Mithin darf die Debatte um die architektonische Postmoderne nicht als abgeschlossen betrachtet werden, da sich die Theorie unter diesem Aspekt als defizitär erweist. Bei einem zukünftigen Definitionsversuch wäre in einem nächsten Schritt der Paradigmenwechsel einer Auffassung von Architektur als Raumkunst hin zu einer solchen als symbolisches Kommunikationssystem zu untersuchen, wie ihn die Venturis in „Learning from Las Vegas“ vollziehen. So könnte es gelingen, die Theorie der postmodernen Architektur in ein übergreifendes kulturtheoretisches Modell einzubinden.
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroom